11

Messer

 

 

Kurz vor Geschäftsschluss betrat Anne das Gebäude der Vermögensberatung Genta. Vielleicht konnte Mark tatsächlich einige Verbindungen für sie herstellen. Und nebenbei war es ein guter Vorwand, um ihn wiederzusehen. Schon am Morgen hatte sie sein Sekretariat angerufen und herausbekommen, wann sein letzter Termin sein würde. Genau zu diesem Zeitpunkt betrat sie nun sein Büro und bat darum, ihn zu sprechen. Widerstrebend erhob sich die Sekretärin und verschwand hinter einer Tür. Sekunden später wurde sie wieder geöffnet und Mark kam zum Vorschein. »Hallo, Anne. Die Überraschung ist dir gelungen!« Er drückte ihr die Hand.

»Hallo, Mark. Schön dich zu sehen. Entschuldige, dass ich hier so reinschneie, aber ich habe ein Problem und brauche deinen fachmännischen Rat.«

»Ich tue mein Bestes. Komm rein.«

Während Anne ihm ihre Situation schilderte, hörte Mark aufmerksam zu.

»So sieht’s aus«, meinte sie abschließend. »Die Frage ist, ob es in deinem Kundenkreis jemanden gibt, der sich für ein solches Projekt interessieren könnte.«

»Das wäre möglich«, überlegte Mark. »Aber bevor ich jemanden anspreche, bräuchte ich die ganzen Eckdaten schriftlich. Hast du Unterlagen dabei?«

»Ja, natürlich.« Sie holte eine Mappe aus ihrem Aktenkoffer und reichte sie Mark. »Das beinhaltet alles, was man wissen muss. Zudem sind im Anhang verschiedene Angebote und Investitionsmodelle.«

Mark blätterte die Unterlagen durch. »Projektdaten sind hier, aber so was wie ein Angebot finde ich nicht.«

»Das gibt’s doch nicht«, entgegnete sie gespielt ungläubig und zog die Mappe zu sich herüber. »Stimmt. Das Wichtigste fehlt. Das kann doch nicht wahr sein. Ich muss das zu Hause vergessen haben. Gestern Abend hab’ ich noch daran gearbeitet.« Sie warf Mark einen entschuldigenden Blick zu. »Normalerweise bin ich etwas professioneller.«

»Glaub ich dir aufs Wort. Aber mit Deinen hohen Ansprüchen machst Du dir auch ziemlich viel Stress.« Nachdenklich blickte er sie an.

»Wie auch immer.« Sie wollte von dem Thema ablenken. Unangenehme Gespräche waren hier und jetzt nicht angebracht. »Wegen der Unterlagen. Wenn du einverstanden bist, hole ich sie schnell und bringe sie dir gleich nach Hause.«

»Das brauchst du nicht. Ich bin hier jetzt auch fertig und kann auf meinem Nachhauseweg kurz mit zu Dir fahren. Das ist kein großer Umweg.«

Das läuft ja besser als erwartet, dachte Anne und willigte ein.

 

Wenig später parkten sie ihre Wagen vor Annes Haus und stiegen aus.

»Ich bin sehr gespannt, ob meine liebe Nachbarin auch heute zur Begrüßung in der Tür steht.« Sie sah, wie sich die Gardine in Danielas Küchenfenster leicht bewegte.

»Wieso? Tut sie das immer?«

»Ja, meistens. Wahrscheinlich lauert sie gerade hinter irgendeinem Fenster und sieht uns kommen.«

»Sollen wir mal winken?« Und schon hob Mark den Arm. Anne zog ihn schnell herunter und hielt seine Hand fest.

»Nein, lass das lieber. Sie muss nicht wissen, dass ich das weiß. Sie soll ruhig sehen, dass ich mit einem gutaussehenden Mann nach Hause komme.«

Lächelnd nahm Mark das Kompliment entgegen und sagte: »Klingt so, als wolltest du sie neidisch machen.«

»Nicht neidisch. Ich will nur, dass sie mich ein wenig in Ruhe lässt.«

»Verstehe. Dann helfen wir doch noch ein wenig nach.« Damit legte Mark seinen Arm um ihre Schultern und zog sie näher zu sich heran. Anne lachte.

»Scheint zu wirken«, meinte sie während sie ihre Wohnungstür aufschloss und die Nachbartür fest verschlossen blieb. »Ich nehme dich jetzt jeden Abend mit nach Hause.« Verschmitzt lächelte sie ihn an.

»Ich denke drüber nach«, entgegnete er und zwinkerte ihr zu.

»So«, sie schwang die Tür auf, »das ist mein Reich. Komm rein.« Sie führte ihn ins Wohnzimmer. »Setz dich doch. Ich hol die Unterlagen.«

Als sie ins Zimmer zurückkam, stand Mark schmunzelnd vor dem Aquarium. »Die Fische freuen sich immer, wenn sie angelächelt werden«, sagte Anne und trat zu ihm.

»Ich lächle vielmehr über dich.«

»Über mich?«

»Ich schätze, die Fische sorgen bei dir für den nötigen Stressabbau.«

»Wie kommst du darauf, ich sei gestresst?« Ihre Augen funkelten. »Hat Kelly das gesagt?«

»Ach, ist sie auch dieser Meinung?« Fragend hob er eine Augenbraue. Anne antwortete mit einem Blick aus zusammengekniffenen Augen. Beschwichtigend strich er ihr über den Unterarm. »Kelly hat nichts davon gesagt. Aber du. Erinnerst du dich an unser Gespräch letzte Woche? Du sagtest, dass du keine Zeit für eine feste Beziehung hast und dass dein Job dich sehr in Anspruch nimmt. Zudem warst du ziemlich verspannt, wie ich selbst fühlen durfte. Alles Anzeichen für Stress. Und jetzt noch die Fische.« Wieder schmunzelte er.

»Hör auf so zu grinsen.« Leicht boxte sie ihn gegen den Arm. »Die Fische sind wirklich beruhigend. Und das mit dem Stress ist ja wohl nichts Außergewöhnliches. Wer hat heutzutage keinen Stress?«

»Stress macht man sich zum größten Teil selbst.«

»Das sagst du so leicht. Mach du mal meinen Job, dann reden wir weiter.« Sie bedachte ihn mit einem herausfordernden Blick.

»Weißt du, dass du sehr süß bist, wenn du dich aufregst?« Er grinste sie noch breiter an.

Normalerweise wurde Anne sehr ärgerlich, wenn sie das Gefühl hatte, nicht ernst genommen zu werden. Aber jetzt zwang sie sich, völlig anders zu reagieren. Zielgesteuert. Schließlich wollte sie diesen Mann verführen und nicht mit ihm diskutieren.

»Willst du mal kosten?« Den Kopf leicht geneigt, trat sie noch einen Schritt näher auf ihn zu. Fragend blickte er sie an, während sie ihre Hand auf seinen Hinterkopf legte und ihn zu sich zog. Zärtlich küsste sie ihn auf den Mund.

»Wow! Ziemlich süß!« Seine Stimme war gedämpft.

»Dann hattest du wohl recht!« Sie drückte ihm die Papiere in die Hand, drehte sich um und lief in die Küche. »Ich hol uns schnell mal was zu trinken.«

In der Küche atmete sie erst einmal tief durch. Ein schöner Kuss war das. Vielleicht sollte sie sich doch ernsthaft auf Männersuche machen. Offensichtlich entging ihr einiges. Sie hatte lange nicht darüber nachgedacht, das Thema immer weggeschoben. Auch jetzt zwang sie sich dazu, sich auf ihren nächsten Schachzug zu konzentrieren. Mit zwei Longdrinkgläsern ging sie zurück ins Wohnzimmer. Mark hatte sich aufs Sofa fallen lassen und sah ihr entgegen.

»Ich hoffe, du hast noch Zeit für einen Drink?« Sie reichte ihm das Glas.

»Sicher.« Forschend betrachtete er sie, doch sie schenkte ihm nur ein unverbindliches Lächeln und setzte sich ihm gegenüber.

»Das ist Sex on the beach, aber erwarte nicht zu viel. So gut wie bei Paolo ist es nicht. Ich habe die Mischung aus einem Cocktailbuch.«

Er zog an seinem Strohhalm. »Schmeckt nach mehr …«, und seine grünen Augen glänzten, »wie dein Kuss.«

Offensichtlich hatte sie den Fisch an der Angel. Anne unterdrückte ein Grinsen.

»Hast du die Unterlagen durchgeblättert?« Jetzt hieß es Distanz schaffen, um so das Verlangen noch zu steigern.

»Ja, flüchtig. Scheint alles da zu sein.« Er lächelte über die Art, wie sie vom Thema ablenkte.

»Prima!« Ihr Ton klang sehr geschäftlich. »Was glaubst du, wie schnell du mir Bescheid geben kannst?«

»Ich denke, schon morgen. Am besten, ich rufe dich an, sobald ich etwas weiß.«

»Das klingt gut.« Schweigend tranken sie ihren Cocktail.

»So«, er stellte sein Glas auf den Tisch und erhob sich. »Ich muss los. Saskia ist heute Abend zu Hause. Sie hat ihr Schwimmen auf morgen verlegt und wartet wahrscheinlich mit dem Essen auf mich. Wir sprechen uns dann morgen.«

»Ja. Ich bringe dich noch zur Tür.« Sie folgte ihm und überlegte, ob sie noch einen Schritt weitergehen sollte. Nein, nicht heute. Sie konnte sich noch nicht ganz sicher sein.

An der Tür wandte er sich Anne zu. »Also dann, bis morgen!« Er griff nach ihrer Hand und streichelte ihren Handrücken.

»Bis morgen.« Schnell küsste sie ihn auf die Wange. »Und schon jetzt vielen Dank, dass du dich um die Sache kümmern willst.«

»Gern.« Er hob noch einmal die Hand zum Gruß und war verschwunden.

Anne war sehr zufrieden. Wie doch ein kleiner Kuss die Lebensgeister wecken konnte. Es war wohl tatsächlich etwas dran an der Theorie, dass die Motivation am größten ist, wenn die Sache Spaß macht.

 

Wie versprochen rief Mark gegen Mittag des nächsten Tages bei ihr an.

»Hör zu«, begann er, »ich habe hier vielleicht einen Interessenten für euer Projekt. Ein Herr Thomas Beltz. Ich habe ihm die Sache bereits telefonisch in groben Zügen geschildert, und er war grundsätzlich nicht abgeneigt. Deine Unterlagen habe ich ihm per Boten zukommen lassen. Jetzt wäre es natürlich gut, wenn du dich mit ihm in Verbindung setzen würdest.«

»Wow! Ich hätte nicht damit gerechnet, so schnell von dir zu hören und noch dazu mit solch einem Ergebnis.«

»Ein Mann, ein Wort!«

Sie lächelte. »Hast du seine Telefonnummer?«

»Ja, klar!« Er diktierte ihr die Nummer sowie die Adresse. »Aber ich kann dir nicht versprechen, dass was daraus wird.«

»Das ist mir klar. Aber es ist ein Versuch, und ich bin dir wirklich dankbar.«

»Bedank dich, wenn er eingestiegen ist.«

»Werd ich machen! Tschüss!«

Kurz darauf führte sie ein nettes Gespräch mit Herrn Beltz. Er war gerade dabei, die Unterlagen zu studieren. Am Ende vereinbarten sie, dass er sich bei Anne melden sollte, wenn er sich entschieden hätte. Lange musste sie nicht warten. Bereits drei Stunden später rief er sie zurück. Ihm gefiele die Sache sehr gut und ob sie nicht einen Termin vereinbaren könnten, um alles genauer zu besprechen und sich kennenzulernen. Anne sprang fast aus ihrem Stuhl vor Freude. Dieser Tag schien ein Glückstag zu sein. Sie machten einen Termin für Freitag aus, weil sie ihren Chef gern dabeihaben wollte. Der würde staunen! Egal, wie das letztendlich ausgehen würde, sie fühlte sich sehr erleichtert. Durchatmen war jetzt angesagt.

Während sie sich eine Tasse Kaffee gönnte, dachte sie über Mark nach. Er war ein interessanter Mann, der ihr ausnehmend gut gefiel. Er war ruhig und höflich und zugleich humorvoll. Gestern hatte es ordentlich zwischen ihnen geknistert, was ihr sehr gefallen hatte. Aber sie durfte sich nicht in ihn verlieben. Das wäre eine Katastrophe. Deswegen musste sie dieses Spiel möglichst schnell beenden. Würde sie es schaffen, ihre Gefühle auszuklammern und das Ganze rein sachlich zu sehen? Sie blickte aus dem Fenster und folgte den dicken Kumuluswolken mit den Augen.

Hör auf zu träumen, ermahnte sie sich selbst. Ruckartig wandte sie sich ab und setzte sich kerzengerade hin. Mit dem letzten Schluck Kaffee spülte sie auch alle Bedenken hinunter. Jetzt noch aufgrund von Zweifeln aufzugeben, kam überhaupt nicht infrage. Die Sache war inzwischen viel zu reizvoll und sie hatte doch alles im Griff. Ein bis zwei Treffen noch, dann wäre die Wette bestimmt abgeschlossen. Dann konnte sie sich auf andere Männer konzentrieren. Kelly lag wohl richtig, wenn sie meinte, dass ihr eine ernsthafte Beziehung guttun würde.

Abgehakt
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