53

Messer

 

 

Barbara Hansen stoppte den Wagen in der Eichenwaldstraße und wandte sich Anne zu. »Sie bleiben im Wagen, und ich spreche mit dem Beamten da vorn im Golf. Der observiert schon die ganze Zeit Ihre Wohnung.« Barbara deutete mit der Hand auf einen grünen Wagen, der in etwa fünfzig Metern Entfernung parkte. »Ich will nur sichergehen, dass die Luft rein ist.«

Sie stieg aus, und Anne verfolgte sie mit den Augen. Sie sah, wie Barbara sich zu der Person im Wagen hinunterbeugte und kurz danach wieder zu ihr zurückkam.

»Alles klar!« rief Barbara ihr zu, als sie die Beifahrertür für Anne öffnete. »Wir können reingehen.«

Anne stieg aus und folgte der Psychologin ins Haus.

 

Inzwischen hatte Martin im Präsidium das Gefühl, nicht mehr klar denken zu können. Sein Kopf schmerzte, und er dachte flüchtig an eine Aspirin, wollte sich aber nicht die Zeit nehmen, eine zu suchen. Er kam sich gehetzt vor, suchte verzweifelt nach einer Lösung. Nervös fuhr er sich durch die Haare und seufzte laut auf. »Vorschläge!«, rief er seinen Leuten zu. »Wir brauchen Vorschläge. Uns läuft die Zeit davon.«

»Ich habe es gewusst. Das Ganze war viel zu gefährlich!« Carsten stand auf und lief unruhig auf und ab. »Früher war ich oft beim Fischen mit meinem Vater, und wenn ich eines dabei gelernt habe«, er blieb stehen und blickte Martin an, »für den Köder geht’s immer schlecht aus.«

Unter anderen Umständen hätten die anderen darüber wohl gelacht, doch jetzt herrschte betroffenes Schweigen.

»Ich geh’ sie suchen!« Carsten griff nach seiner Jacke.

»Wo willst du denn anfangen?« Martin stand ebenfalls auf und legte dem Freund die Hand auf die Schulter.

»Ich habe keine Ahnung, aber ich kann nicht einfach herumsitzen und Däumchen drehen.« Damit verließ er den Raum und ließ die Tür laut ins Schloss fallen.

Martin stöhnte.

»Wenn wir davon ausgehen, dass die Degener und vielleicht auch die Hansen tatsächlich in den Händen einer Irren sind, muss unsere erste Überlegung sein, wohin sie die beiden bringen könnte«, ergriff Dieter das Wort.

»Es ist sicher ein Ort, der uns in gewisser Weise provoziert«, entgegnete Martin, während er sich auf seinen Stuhl fallen ließ.

»Ja, das denke ich auch«, sagte Dieter. »Für die Täterin ist das sicher so was wie ein Spiel, und ich könnte mir vorstellen, dass die Sache mit Anne für sie einen besonderen Reiz hat, weil sie weiß, dass sie bei der Polizei gewesen ist.«

»Die Hansen sagte doch mal, Rituale seien wichtig für einen Serienmörder«, formulierte Martin laut seine Gedanken. »Bis jetzt wurden alle, bis auf die Klein, zu Hause umgebracht.«

»Das ist diesmal ja wohl ausgeschlossen! Aber vielleicht kommt sie zurück zu einem Tatort oder sucht einen Ort, der einen Zusammenhang zwischen ihr und Anne herstellt.«

»Keine schlechte Idee.« Martin rieb sich die Schläfen. »Also, lasst uns alle Möglichkeiten auflisten und dann überprüfen.«

Sie gingen alle bisherigen Tatorte durch, inklusive der Unterführung, in der Anne überfallen worden war, dachten an Eva Kleins Wohnung, zogen die Judoschule in Betracht.

»Ich werd’ noch verrückt! Es muss doch eine Spur geben.« Martin stand auf.

»Du meinst, du willst, dass es eine Spur gibt«, verbesserte Dieter ihn.

»Es gibt sie auch. Wir müssen sie nur finden. Und zwar schnell.«

»Wenn es nicht schon zu spät ist«, murmelte Michael vor sich hin.

Daran wollte Martin im Augenblick gar nicht denken. »Wir verteilen uns auf alle Örtlichkeiten. Ich übernehme die Judoschule.« Dann wies er seinen Leuten die anderen Orte zu. »Jeder meldet sich, so schnell es geht. Ab die Post!«

Und damit war er auch schon zur Tür hinaus.

 

Gerade als Martin auf den Parkplatz der Judoschule einbog, meldete sich sein Handy. Es war einer der Kollegen, die die Mietstationen überprüfen sollten. Sie hatten verschiedene Filialen der Firma RF-Autovermietung in Wiesbaden und Umgebung gefunden, die eine ganze Menge dunkelrote Limousinen, darunter auch einige von Opel, besaßen. Alle mit Frankfurter Kennzeichen. Der Kollege las die Liste der Mieter, die heute oder gestern einen dieser Wagen angemietet hatten, vor. Martin lauschte aufmerksam. Plötzlich stutzte er. »Moment!«, rief er dem Kollegen zu. »Den vorletzten Namen noch mal!«

Wieder hörte er den Namen der Frau, sah ihr Gesicht deutlich vor sich. Martin bedankte sich rasch, drückte das Gespräch weg und ließ das Handy auf den Beifahrersitz fallen. Er war verwirrt. Das konnte doch nicht sein! Das war unmöglich! Er verließ den Wagen und lief einige Male hin und her, um seine Gedanken zu ordnen. Das machte doch keinen Sinn.

Abrupt blieb er stehen. Warum eigentlich nicht? Natürlich kam sie infrage. Er hätte schon längst darauf kommen müssen, dass die Täterin jemand wäre, der alle Informationen über ihre Ermittlungsarbeit hatte oder sie aus erster Hand bekam. Diese Frau saß doch an der Quelle, noch dazu passte die Beschreibung von dem Mann aus dem Café genau auf sie.

Er musste handeln und zwar schnell. Zuerst rannte Martin in die Judoschule. Wenn sie die Täterin war, hatte sie vielleicht Eva Klein hier kennengelernt. Er sprach mit dem Chef, Herrn Brenner, der daraufhin den Computer in der Liste aller Mitglieder der letzten drei Jahre nach dem Namen suchen ließ. Gebannt starrte Martin auf den Bildschirm. Es dauerte dreißig Sekunden, bis das Programm verriet, dass es keinen Treffer gab. Martin überlegte.

»Setzen Sie Höling noch hinter den Namen und versuchen Sie’s noch mal. Sie hat einen Doppelnamen. Vielleicht hat sie ihn hier benutzt.«

Der Mann an der Tastatur tat, wie ihm geheißen, und weitere dreißig Sekunden später war auf dem Bildschirm zu lesen, dass auch diese Suche keinen Treffer ergeben hatte.

»Wir können es ja mal mit Höling allein versuchen«, schlug Herr Brenner vor und tippte den Namen ein. »Da ist sie!« Er deutete auf den Namen und kommentierte die gelieferten Daten. »Sie ist lange nicht mehr hier gewesen. Zuletzt vor vierzehn Monaten.«

»Danke, das reicht mir schon!« Kopfschüttelnd lief Martin zurück zum Wagen und fuhr los. Im Radio lief der Song »Even the nights are better« von Air Supply. Er versuchte über die neuen Erkenntnisse nachzudenken, doch die Worte des Liedes drängten sich immer wieder dazwischen. »I was so confused, feeling like I’d just been used.« Ja, er fühlte sich wirklich irgendwie benutzt. Er hatte doch alle Informationen an diese Frau, wenn auch indirekt, weitergeleitet. Sie hatte alle für ihre Zwecke missbraucht. Warum hatte sie das getan? Er fand keine Antwort. Die Situation schien absurd.

Wieder drängte sich die Stimme aus dem Radio in den Vordergrund: »… but now that I’ve found you«. Sollte er sie wirklich endlich gefunden haben? Er würde ihr bald von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen, um sie … Ja was? Um sie zu verhaften? Warum? Weil sie einen Wagen angemietet hatte? Weil sie mal Kurse in einer Judoschule besucht hatte? Weil sie alle Informationen zu dem Fall hatte? Waren das ausreichende Gründe? Sein Chef würde ihn wahrscheinlich auslachen.

 

Unterwegs meldeten sich seine Leute bei ihm. Niemand hatte an den überprüften Orten etwas von den vermissten Frauen gehört oder gesehen. Martin beorderte alle mit der Aussicht auf Neuigkeiten zurück ins Präsidium. Normalerweise hätte er sein Wissen sofort weitergegeben und alles Nötige veranlasst. Aber in diesem speziellen Fall mussten sie erst mit ihrem Chef sprechen. Schon unterwegs legte er sich die Worte zurecht, die er ihm gleich sagen würde.

 

»Ich weiß, wer die blonde Frau ist, die der Zeuge im Café mit Frau Degener und Frau Hansen gesehen hat«, begann Martin, als sie alle bei Milster versammelt waren. Der Chef hatte sich erstaunt gezeigt, als die gesamte Mannschaft bei ihm vor der Tür gestanden hatte. »Aber die Sache ist ziemlich unangenehm für Sie, Herr Milster.«

»Sandor, lassen Sie mich bitte selbst entscheiden, ob eine Sache unangenehm ist oder nicht. Also?«

Alle warteten gespannt, was nun kommen mochte, und bemerkten, dass die Sache weniger für Milster als vielmehr für Martin unangenehm zu sein schien. Er holte tief Luft und sagte dann: »Herr Milster, ich habe den dringenden Verdacht, dass Ihre Frau mit dem Fall zu tun hat.«

Milster schien verwirrt. »Sie sprechen jetzt aber nicht von Ihrem aktuellen Fall?«

»Doch.«

»Was reden Sie da für einen Unsinn!« Milster furchte die Stirn und sah Martin finster an. Der berichtete detailliert davon, was sich im Café Plan B ereignet hatte, von dem Zeugen und von dem Mietwagen.

»Meine Frau würde nie einen Wagen mieten. Wir haben zwei funktionstüchtige in der Garage stehen. Und selbst wenn beide nicht laufen würden, wäre ein Mietwagen völliger Schwachsinn. Sie würde sich ein Taxi bestellen.«

»Eben!«, sagte Martin nur und blickte Milster vielsagend an.

»Das muss eine ganz blöde Verwechslung sein.«

»Ist es nicht. Dass Ihre Frau unter dem Namen Katja Milster dieses Auto gemietet hat, ist hundertprozentig sicher. Daran gibt es keinen Zweifel. Die Kollegen haben das genau überprüft.«

»Vielleicht hat sich jemand einen Scherz erlaubt.«

»Dieser Jemand muss dann aber auch genauso ausgesehen haben wie Ihre Frau und zudem noch ihren Führerschein besessen haben.«

»Jetzt reicht es aber. Ich rufe sie an.« Milster griff zum Hörer, wählte seine Festnetznummer und wartete. Vergebens. »Sie wollte sich heute mit einer Freundin treffen, vielleicht ist sie noch nicht wieder zu Hause«, vermutete er und tippte die Handynummer seiner Frau ein. Aber auch hier meldete sie sich nicht. »Ich verstehe das nicht.« Er legte den Hörer zurück auf das Telefon.

»Wissen Sie, mit welcher Freundin sie sich treffen wollte?«, fragte Martin.

»Nein, keine Ahnung. Aber das Ganze ist doch eine total verrückte Idee von Ihnen. Selbst wenn meine Frau ein Auto gemietet hat, was sollte das beweisen? Und wenn Ihre angebliche Entführung einfach nur ein freundschaftliches Treffen der Frauen war?« Fragend blickte er Martin an.

»Das würde zwar erklären, warum die Hansen möglicherweise freiwillig in den Wagen eingestiegen ist, aber mit Anne Degener im Schlepptau? Das halte ich für äußerst zweifelhaft. Außerdem frage ich mich, warum sich keine der drei Frauen bis jetzt gemeldet hat.«

Milster hörte gar nicht, was Martin sagte. »Sandor, ich glaube, Sie sehen vor lauter Verzweiflung in jedem einen Mörder«, ereiferte er sich und wurde laut. »Sogar in meiner Frau. Das muss man sich mal vorstellen. Unglaublich!«

»Vielleicht hat sie ja tatsächlich nichts damit zu tun, aber was hätten Sie an meiner Stelle gedacht, wenn Sie all das erfahren hätten? Außerdem war Ihre Frau vor gut einem Jahr Mitglied in der Kampfsportschule Brenner, was meine Bedenken nicht gerade zerstreut hat. Noch dazu war sie dort unter dem Namen Höling angemeldet.«

»Dass sie ihren Mädchennamen benutzt, ist nicht ungewöhnlich. Das tut sie öfter, warum auch immer. Jedenfalls nicht, um etwas zu verheimlichen.« Milster schüttelte den Kopf. »Und nicht jeder, der Kampfsport betreibt, nutzt ihn, um irgendwelche Leute umzubringen.«

»Nicht jeder, aber unsere Serienmörderin.«

Paul, Michael und Dieter lauschten mit zunehmendem Erstaunen dem Schlagabtausch ihrer Vorgesetzten. Keiner von ihnen wusste, was er von der Sache halten sollte. Wenn die Frau des Kriminaldirektors wirklich die gesuchte Person war, wäre das der absolute Hammer.

»Ihre Ausführungen sind absolut haltlos. Und wenn dieser Fall abgeschlossen ist, wird dieser Vorfall hier noch Konsequenzen haben.« Milster war nun unverhüllt wütend.

»Bis dahin müssen wir aber Ihre Frau finden und damit vielleicht auch Frau Hansen und Anne Degener.«

»Ich werde keine Fahndung nach meiner Frau rausgeben. Das können Sie vergessen.«

»Hat Ihre Frau einen Kalender, in den sie ihre Termine einträgt?«

»Sicher! Und damit Sie endlich Ruhe geben, werde ich nach Hause fahren und nachsehen.«

»Wenn Sie nichts dagegen haben, begleite ich Sie.«

Milster antwortete nicht. Schweigend verließ er das Büro, während Martin seinen Leuten auftrug zu überprüfen, ob einer der Wagen des Chefs in der Nähe der Autovermietung stand. Dann folgte er Milster.

Abgehakt
00000000000_cover.html
978-3-86680-744-0_000021.html
978-3-86680-744-0_000026.html
978-3-86680-744-0_000044.html
978-3-86680-744-0_000108.html
978-3-86680-744-0_000123.html
978-3-86680-744-0_000142.html
978-3-86680-744-0_000448.html
978-3-86680-744-0_000974.html
978-3-86680-744-0_002025.html
978-3-86680-744-0_002131.html
978-3-86680-744-0_002912.html
978-3-86680-744-0_003090.html
978-3-86680-744-0_003580.html
978-3-86680-744-0_003985.html
978-3-86680-744-0_004192.html
978-3-86680-744-0_004685.html
978-3-86680-744-0_004999.html
978-3-86680-744-0_005182.html
978-3-86680-744-0_005487.html
978-3-86680-744-0_005782.html
978-3-86680-744-0_005932.html
978-3-86680-744-0_006556.html
978-3-86680-744-0_007210.html
978-3-86680-744-0_007324.html
978-3-86680-744-0_007492.html
978-3-86680-744-0_007953.html
978-3-86680-744-0_008304.html
978-3-86680-744-0_008859.html
978-3-86680-744-0_008971.html
978-3-86680-744-0_009025.html
978-3-86680-744-0_009384.html
978-3-86680-744-0_009714.html
978-3-86680-744-0_009965.html
978-3-86680-744-0_010262.html
978-3-86680-744-0_010312.html
978-3-86680-744-0_010546.html
978-3-86680-744-0_010728.html
978-3-86680-744-0_011077.html
978-3-86680-744-0_011289.html
978-3-86680-744-0_011803.html
978-3-86680-744-0_012007.html
978-3-86680-744-0_012464.html
978-3-86680-744-0_012542.html
978-3-86680-744-0_012896.html
978-3-86680-744-0_013571.html
978-3-86680-744-0_013924.html
978-3-86680-744-0_014174.html
978-3-86680-744-0_014416.html
978-3-86680-744-0_014647.html
978-3-86680-744-0_014792.html
978-3-86680-744-0_015000.html
978-3-86680-744-0_015112.html
978-3-86680-744-0_015354.html
978-3-86680-744-0_015652.html
978-3-86680-744-0_015731.html
978-3-86680-744-0_015818.html
978-3-86680-744-0_016154.html
978-3-86680-744-0_016724.html
978-3-86680-744-0_017021.html
978-3-86680-744-0_017162.html
978-3-86680-744-0_017399.html
978-3-86680-744-0_017633.html
978-3-86680-744-0_018000.html
978-3-86680-744-0_018281.html
978-3-86680-744-0_018363.html