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Auch Annes Kollegen hatten die Zeitungen gelesen, und in den Pausen war der Mord an Marita Janz das Gesprächsthema Nummer eins. Anne bekam davon nur am Rande etwas mit. Ihr Chef war geschäftlich im Ausland, und so musste sie noch einige seiner Termine übernehmen. Erst am Wochenende fand sie ein wenig Ruhe und überlegte, wie sie in der Angelegenheit Mark weiter vorgehen sollte. Vielleicht wäre als nächstes ein zufälliges Treffen angebracht? Allerdings fehlte ihr eine zündende Idee, wo und wie sie Mark begegnen könnte. Erst am Montag hatte sie einen Geistesblitz.
Gleich morgens hatte sie das allwöchentliche Meeting mit ihrem Chef. Sie musste ihm berichten, dass ihnen die Bank einen Teil des Kredits für den Neubau eines Einkaufszentrums verweigert hatte. Zudem forderte ihr Vorstand nun, dass mindestens siebzig Prozent der Verkaufsfläche im Vorfeld an namhafte Firmen vermietet werden sollten. Bendix reagierte aufgebracht und versuchte, Anne die Schuld an dieser negativen Entwicklung zu geben.
Aber Anne ließ sich nicht von seinen Drohposen und Wutausbrüchen einschüchtern. Sie hatte schnell gelernt, wie sie ihren Chef nehmen musste, das beruhigte ihn meistens. Er fuhr sich durch sein krauses, graues Haar und ließ sich in seinen schwarzen Ledersessel fallen. »Haben Sie dem Vorstand gesagt, dass wir wahrscheinlich fünfzig Prozent der Fläche an den Baumarkt Reta vermieten können?«
»Sicher. Und ich denke, dass ich im Laufe dieser Woche den Mietvertrag unter Dach und Fach kriege. Dann fehlt uns nur noch ein Investor, um den Bankkredit aufzustocken.«
Am Ende übertrug Bendix ihr auch die Aufgabe, diesen Investor zu finden. Er war der Meinung, dass man bei solchen Verhandlungen mit weiblichen Reizen weiterkam als mit der Präsentation von Zahlen und Fakten. Als sie darauf nicht einging, meinte er versöhnlich: »Ach, seien Sie einfach so gut wie immer. Aber es muss unbedingt etwas passieren. Ich habe die Anwartschaft auf das Grundstück nur noch vier Monate. Dann muss Baubeginn sein, oder ein anderer ist am Zug. Also, lassen Sie mir das Projekt nicht scheitern.«
»Kein Problem!« Die Ironie in Annes Stimme überhörte er geflissentlich.
»Na, dann ist ja gut. Nächster Punkt.«
Als Anne danach wieder an ihrem Schreibtisch saß, hatte sie die Namen zweier Unternehmen vor sich liegen, die sie wegen der Investition in das Einkaufszentrum ansprechen wollte. Sie fühlte sich plötzlich furchtbar müde. Sie hatte so viel Arbeit am Hals, dass sie nicht wusste, wo sie beginnen sollte.
Während sie blicklos aus dem Fenster starrte, kam ihr für einen Moment die Wette in den Sinn. Sie würde keine Zeit haben, sich auch noch darauf zu konzentrieren. Vielleicht sollte sie eine Fristverlängerung bei Kelly beantragen? Oder sollte sie die Wette besser gleich verloren geben?
Das Klingeln des Telefons holte sie in die Arbeitswelt zurück. Allerdings blieben alle ihre Bemühungen, einen Investor zu finden, vergeblich. Enttäuscht machte sie sich am Abend auf den Heimweg. Allein kam sie hier nicht mehr weiter. Sie würde Hilfe brauchen. Aber an wen konnte sie sich wenden?
Als sie ihre Wohnungstür aufschloss, wurde die Nachbartür aufgerissen, und ein freundliches »Hallo!« drang an ihr Ohr.
»Hallo, Daniela!«, gab sie müde zurück und wandte sich ihrer Nachbarin zu.
»Na, jetzt erst Feierabend?«
Anne nickte nur. Sie wohnte Tür an Tür mit Daniela Böhmer. Ihre Wohnungen lagen im Erdgeschoss, drei weitere im ersten Stock, die alle von älteren Leuten bewohnt wurden.
»Hast du Lust auf ein Glas Wein?« Danielas braune Augen sahen sie bittend an.
»Nein danke. Das ist nett gemeint, aber ich bin todmüde und will nur noch ins Bett.« Schnell verabschiedete sich Anne und schloss die Tür hinter sich.
Endlich alleine! Während Anne in der Küche ein Glas Wasser trank, dachte sie über Daniela nach. Manchmal ging sie ihr ganz schön auf die Nerven. Meistens streckte sie ihren Kopf zur Tür heraus, wenn sie nach Hause kam. Als würde sie dauernd am Fenster sitzen und auf Annes Rückkehr warten.
Seit sich Anne und Toni vor einem guten Jahr getrennt hatten, ging das nun so. Fürsorglich hatte sich Daniela um Anne gekümmert. Oft hatten sie zusammengesessen und erzählt. Es war ein angenehmes, nachbarschaftliches Verhältnis. Anfangs war sie für ihre Gesellschaft dankbar gewesen, doch mit der Zeit fühlte sich Anne eingeengt. Und so schob sie immer öfter Zeitmangel oder Müdigkeit vor, um die Nachbarin abzuweisen.
Sie stellte ihr Glas in die Spüle und inspizierte die Räume. Nicht, weil sie erwartete, dass sich seit dem Morgen etwas verändert hatte, sondern weil sie ihre Wohnung liebte und wie immer froh war zu Hause zu sein. Die Räume erfüllten sie mit Ruhe und Zufriedenheit. Sie hatte alle Zimmer nach der Trennung von Toni renoviert und jedes unter ein bestimmtes Motto gestellt. Die Küche war mit Apfelbildern dekoriert. Sie klebten auf den weißen Fliesen über der Arbeitsplatte, am Fenster hing eine Scheibengardine mit Apfeldruck, und die Fensterbank zierten die gleichen roten Früchte. Selbst das Geschirr hatte ein Apfelmuster. Zwei riesige, rot eingerahmte Bilder von je einem glänzenden grünen Apfel taten ein Übriges, um aus der Küche eine »Apfelküche« zu machen.
Das angrenzende Esszimmer war grün gehalten. Die Wände in zartem Ton, Bilderrahmen, Gardinen und Stuhlkissen dagegen in kräftigem, dunklem Grün. Holzjalousien trennten den Raum optisch vom Wohnzimmer, das sich offen daran anschloss. Diesem Raum hatte Anne eine orientalische Note verliehen. Die vorherrschenden Farben waren orange und gold, die wenigen Möbel waren aus dunklem, massivem Holz. Das alte Sofa hatte einen Überwurf mit schimmernden Golddruck-Ornamenten. Über einem Sideboard hing ein Bild, das Kelly ihr aus dem Urlaub mitgebracht hatte. Ein Maharadscha ritt auf dem Rücken eines Elefanten majestätisch durch die Wüste. Etliche andere passende Dekorationsstücke hatte sie auf dem Flohmarkt ergattert. Das Wohnzimmer mit seiner warmen Farbgebung war eindeutig ihr Lieblingsraum.
Das Schlafzimmer lag im Osten der Wohnung, sodass sie morgens von den ersten Sonnenstrahlen geweckt werden konnte. Sie hatte sich für weiß-lackierte Holzmöbel, zartrosa Wände und Bettwäsche mit Rosenmuster entschieden. Auf dem Boden lag ein ebenfalls rosafarbener, flauschiger Veloursteppich, und auf einer Kommode stand immer eine Vase mit rosa Rosen. In diesem romantisch-eleganten Ambiente ließ es sich wunderbar einschlafen und aufwachen, fand Anne.
Von hier aus führte eine Tür ins Badezimmer und direkt nach Afrika. Beim Eintreten fiel der Blick zuerst auf einen Kunstdruck, der die Abendstimmung der Savanne zeigte. Kleinmöbel aus dunkler Esche und Giraffenfiguren aus Holz auf dem Boden gaben dem nicht allzu großen Raum Kolonialstil-Charakter. Auf den Terrakottafliesen lag ein Teppich mit Tigerstreifen.
Während Anne den Anrufbeantworter abhörte, fütterte sie ihre Fische. Auch das gehörte zum allabendlichen Ritual. Auf dem Band war nur eine Nachricht von Kelly, die um Rückruf bat. Anne blickte auf ihre Uhr: halb elf. Da sie wusste, dass Kelly immer lange auf war, wählte sie ihre Nummer.
»Hallo, Anne!«, meldete sich die Freundin.
»Hallo!«, entgegnete Anne erstaunt. »Woher wusstest du, dass ich es bin?«
»Wer sonst ruft so spät noch an?« Kelly lachte. »Aber schön, dass du dich endlich mal meldest.«
»Ich weiß, ich bin eine treulose Tomate. Aber ich hatte letzte Woche wirklich keine Zeit, und Sonntag warst du nicht zu erreichen«, verteidigte sich Anne.
»Wir haben eine Tagestour gemacht. Aber sag mal, was macht die Wette?«
Anne berichtete von ihrem Treffen mit Mark und schloss mit den Worten: »Jetzt spiele ich mit dem Gedanken, dich gewinnen zu lassen.« Sie gähnte in die Muschel.
»Weil du zu müde bist, oder warum?«
»Eher, weil ich keine Zeit dafür habe.«
»Du meinst, weil du dir keine Zeit dafür nimmst.«
»Ach, Kelly. Im Grunde ist diese Wette doch total albern.«
»Mensch, sei doch kein Spielverderber.«
»Außerdem hab’ ich im Büro so viel am Hals. Ich hab’ ein Problem und komm’ nicht weiter. Da kann ich mich nicht noch mit so verrückten Sachen beschäftigen.«
»Vielleicht kämst du mit deinem Problem weiter, wenn du dich mal mit was Verrücktem beschäftigen würdest. Du musst mal abschalten. Wenn du für die Wette mehr Zeit brauchst, okay. Setzen wir keine Frist, dann bist du auch nicht unter Druck. Aber einfach aufgeben … Das gibt’s nicht.«
Anne antwortete nicht. Sie war unentschlossen und schrecklich müde.
»Hörst du, was ich sage?«, rief Kelly etwas lauter ins Telefon.
»Ich bin ja nicht taub«, entgegnete Anne. »Also gut, ich verspreche dir, noch nicht aufzugeben. Jedenfalls nicht heute. Vielleicht morgen?«, neckte sie die Freundin.
»Wehe!«
»Ich schlaf noch mal drüber und zwar sofort.«
»Na gut! Wir sprechen uns diese Woche noch, ja?«
»Natürlich. Ich melde mich bei dir. Gute Nacht.«
Als Anne endlich im Bett lag, kamen ihre Gedanken nicht so schnell zur Ruhe. Sie dachte an ihren Chef, dann an Mark. Kellys Worte kamen ihr in den Sinn, etwas Verrücktes zu wagen, um dann auch das berufliche Problem in den Griff zu bekommen. Ihr Chef verkörperte das Problem, Mark das Verrückte. Also war Mark die Lösung des Problems? Unsinn. Plötzlich setzte sie sich ruckartig auf und starrte in die Dunkelheit. Doch, das war’s! Mark konnte ihr vielleicht wirklich helfen. Er war doch Vermögensberater! Da musste er doch potenzielle Investoren kennen! Sie ließ sich zurück in die Kissen fallen. Es war ein Hoffnungsschimmer, egal wie klein, der ihr noch dazu die Möglichkeit bot, Mark wiederzusehen. Anne lächelte und war kurz darauf eingeschlafen.