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Messer

 

 

Als Martin am nächsten Morgen ins Büro kam, fand er auf seinem Schreibtisch eine kurze Notiz von Paul, der ihm mitteilte, dass Ulf am gestrigen Abend nicht zur Wohnung von Marita Janz gekommen war. Vermutlich wusste er also bereits vom Tod seiner Geliebten. Die Frage war nur woher?

Neben der Notiz lag der Bericht über die Untersuchung des Messerblocks, in dem ein Messer fehlte. Die Tatwaffe war mit größter Wahrscheinlichkeit keines dieser Schneidwerkzeuge. Alle Messer steckten mit den Schneiden nach unten im Block und hatten erhebliche Furchen ins Holz geritzt. Der leere Messerschlitz wies die gleiche Furche auf, die aber nicht zur Tatwaffe passte. Außerdem war der Griff völlig anders. Das bewies allerdings nichts weiter, als dass der Mörder entweder die Tatwaffe mitgebracht hatte und der Messerblock einfach nicht vollständig war, oder das gefundene Messer, sofern es Frau Janz gehört hatte, normalerweise woanders aufbewahrt wurde. Aus all dem konnte Martin augenblicklich keine relevanten Schlüsse ziehen.

Von seinen Leuten war niemand im Haus. Alle waren unterwegs, um die besprochenen Nachforschungen anzustellen. Und so beschloss er, die Ärzte von Marita Janz aufzusuchen. Er suchte sich die Namen aus dem Kalender und die dazugehörigen Adressen aus dem Telefonbuch. Es handelte sich um einen Allgemeinmediziner und einen Zahnarzt. Den Zahnarzt ließ er vorerst außer acht und fuhr zu Dr. Stemmler in die Platterstraße. Die Praxis lag nicht weit entfernt von der Wellritzstraße, sodass er der nächstgelegene Arzt für Marita gewesen war. Dort erfuhr er, dass Marita Janz seit vier Jahren bei Dr. Stemmler in Behandlung war. Sie hatte nie an schwerwiegenden Erkrankungen gelitten. Außer Magen-Darm-Grippe und Erkältungen war nichts in der Akte vermerkt. Zuletzt sei sie vor sechs Wochen bei ihm gewesen aufgrund eines sehr starken Hustens, den er mit Antibiotika behandelt hatte. Dass sie schwanger gewesen war, wusste Dr. Stemmler nicht. Er verwies Martin an die Gynäkologin Dr. Liebherr, deren Patientin Marita ebenfalls gewesen war. Martin machte sich sofort im Anschluss auf den Weg dorthin. Er legte einen Zwischenstopp in der Wellritzstraße ein, um sich die Packung mit der Pille aus Maritas Wohnung zu holen.

Frau Dr. Liebherr war eine nette, sehr gesprächige Ärztin. Sie teilte ihm mit, dass Marita zuletzt vor drei Monaten zur Krebsvorsorge gekommen war. Die Befunde waren alle negativ gewesen. Sie hatte regelmäßig die Pille verschrieben bekommen und auch ohne Probleme vertragen. Dass ihre Patientin schwanger gewesen war, wusste die Ärztin nicht. Martin zeigte ihr die Packung mit der Pille. Aufgrund der Daten über die Periode sowie der fehlenden Pillen in der Packung konnte Dr. Liebherr schnell schließen, dass Marita bis zu ihrem Tod die Pille genommen hatte. Die Gynäkologin vermutete, dass sie selbst noch gar nichts von ihrer Schwangerschaft gewusst hatte und wohl schwanger geworden war, weil durch die eingenommenen Antibiotika die Wirkung der Pille versagt hatte.

Mit diesen Erkenntnissen fuhr Martin zurück ins Büro. Dieter war bereits zurück, aber immer noch mit der Überprüfung der Nummern im Adressbuch beschäftigt. Die Fragen zu Fotoalbum und Adressbuch bei der Mutter und Frau Festner hatten nichts Neues ergeben.

 

Im Lauf des Tages kam das grafologische Gutachten herein. Martin nahm ohne großes Erstaunen zur Kenntnis, dass es sich bei den letzten beiden Morden eindeutig um dieselbe rechte Hand gehandelt hatte, die das Messer geführt hatte. Immerhin war das ein erster Beweis für die Serientäterschaft.

Von der Hausdurchsuchung bei Eva Klein gab es auch erste Ergebnisse. Es waren Reiseprospekte von Bayern gefunden worden, in denen verschiedene Hotels in München angekreuzt waren. Martin leitete die Informationen zur Überprüfung an die Kripo in München weiter.

Gegen Abend trudelte der Rest der Mannschaft ein, und sie setzten sich zu einer kurzen Besprechung zusammen. Martin weihte sie in die jüngsten Entwicklungen ein, die alle voller Erstaunen, aber mit größter Zufriedenheit zur Kenntnis nahmen.

»Wir dürfen jetzt nicht vor lauter Enthusiasmus, den Täter vielleicht gefunden zu haben, den Blick auf die anderen Möglichkeiten verlieren. Wir können noch lange nicht sicher sein«, dämpfte Martin den Optimismus.

»Aber, Chef«, wandte Paul ein, »was gibt es denn noch für andere Möglichkeiten? Es spricht doch alles gegen diese Frau. Wie sollte sie uns sinnvoll die Existenz ihrer Fingerabdrücke am Tatort erklären können?«

»Alles schön und gut, aber ich kann nicht glauben, dass es diesmal so leicht sein soll«, sagte Martin und schüttelte nachdenklich den Kopf.

»Warum nicht? Wir können doch auch einfach mal Glück haben.« Dieter blickte zu ihm herüber.

»Es kann doch nicht sein, dass ein Mörder bei seinem dritten Mord den schwerwiegenden Fehler begeht und überall seine Fingerabdrücke hinterlässt«, gab Martin zu bedenken, »noch dazu, wenn er bzw. sie weiß, dass sie registriert sind.«

»Vielleicht war der Mord nicht geplant, und sie hatte keine Handschuhe mit und auch keine Zeit, die Spuren zu beseitigen. Jedenfalls spricht einiges dafür, dass diese Frau die Mörderin ist. Immerhin hat sie sich aus dem Staub gemacht.«

»Ja, aber vielleicht ist sie auch einfach eine Freundin, die ihre Fingerabdrücke bei einem Besuch hinterlassen hat.«

»Auch auf dem Messer?«, fragte Paul skeptisch.

»Möglicherweise haben die beiden zusammen gekocht. Wer weiß? Warten wir einfach ab, bis wir diese Eva Klein gefunden haben. Bis dahin ermitteln wir in alle anderen Richtungen weiter. Also, was haben wir außer Eva Klein?«

Die Ergebnisse waren mager. Die Suche nach Ulf war bisher erfolglos verlaufen, ebenso wie die Recherche nach Hinweisen aus dem Adressbuch. Dieter hatte sich inzwischen auch mit den Finanzen des Opfers befasst und nichts Auffälliges festgestellt. Es gab regelmäßige Lohnzahlungen, einen höheren Sparbetrag auf einem Tagesgeldkonto, der zum größten Teil aus dem Erbe ihres Vaters stammte, und keine außergewöhnlichen Ausgaben oder zusätzlichen Einnahmen.

»Okay, für heute machen wir Schluss«, sagte Martin abschließend. »Und morgen befragen wir noch mal die Nachbarin. Und diesen Ulf will ich so bald wie möglich persönlich kennenlernen. Also, Hände in den Schoß legen und auf Eva Klein warten gibt’s nicht.« Martin griff nach seinen Schlüsseln, winkte den Kollegen und verschwand. Er schlenderte an den Parkplätzen vorüber in Richtung Altstadt. Bevor er nach Hause fahren würde, wollte er erst einmal auf andere Gedanken kommen, denn einen Serienkiller konnte er nicht so leicht aus seinem Kopf verbannen wie die »normalen« Mörder. In seiner bisherigen Laufbahn hatte er es eher selten mit einem Serienmörder zu tun gehabt. Er fühlte, wie der Druck, diesen Menschen zu fassen, von Tag zu Tag stieg und seine innere Unruhe immer größer wurde. Vielleicht würden sie Eva Klein bald haben, und vielleicht war sie tatsächlich die Täterin. Vielleicht wäre es diesmal wirklich einfacher. Aber wenn nicht?

Es war ein herrlicher Abend. Eine warme Brise wehte ihm entgegen, und je weiter er lief, umso mehr entspannte er sich. Nach zwanzig Minuten erreichte er die schmalen, verwinkelten Gässchen der Altstadt. Er blickte an den Häuserfassaden aus dem 18. und 19. Jahrhundert entlang, die Teil des liebenswerten Charmes dieser schönen Stadt waren. Er ging in die Grabenstraße und entschied sich, im Beck’s am Bäckerbrunnen ein Bier zu trinken. Das war ein rustikales Kneipen-Lokal, das er hin und wieder aufsuchte, meistens mit Kollegen. Vor dem Haus standen zahlreiche Tische, die fast alle belegt waren. Gerade wollte er nach drinnen gehen, als er jemanden seinen Namen rufen hörte. Er blickte sich um und entdeckte seinen Kollegen Carsten Westphal, der ihn zu sich winkte.

»Hallo, Martin«, begrüßte ihn der junge Mann lächelnd. »Wir haben uns lange nicht gesehen. Willst du dich zu mir setzen?«

»Hallo, Carsten. Ja, gern.« Martin schob sich einen Stuhl zurecht und nahm Platz.

»Bist du auch zum Frusttrinken hier?«, wollte Carsten wissen.

»So was in der Art«, nickte Martin. »Und du? Siehst gar nicht so aus, als hättest du Frust. Eher so, als kämst du gerade aus dem Urlaub.« Er betrachtete Carsten, der sich bequem auf seinem Stuhl zurückgelehnt hatte. Er war ein sportlicher, schlanker Typ, der ihn aus blauen, klugen Augen ansah. Die beiden kannten sich durch die Arbeit schon etliche Jahre, und im Lauf der Zeit hatte sich eine lockere Freundschaft entwickelt.

»Ja, stimmt. Ich komme gerade aus Italien. Dass der Urlaub jetzt vorbei ist, ist eigentlich schon frustrierend genug, aber sie haben mir am ersten Arbeitstag gleich auch noch eine Drogentote serviert.«

»Tja, unsere Wege sind eben mit Leichen gepflastert. Was willst du machen?«

»Ja, von deiner Leiche habe ich auch schon gehört.«

Die Bedienung kam an den Tisch und sie bestellten jeder ein Bier.

»Willst du darüber reden?«, fragte Carsten und musterte den Freund. Zum ersten Mal fiel ihm auf, dass Martins dunkle Haare an den Schläfen die ersten Spuren von Grau zeigten. Auch die kleinen Falten um seine braunen Augen waren tiefer als sonst. Trotzdem wirkte er mit seinen sechsundvierzig Jahren eher jugendlich, was wohl ebenso an seiner guten Figur wie an der charmanten Lässigkeit lag, mit der er sich bewegte. Die ebenmäßigen, doch kantigen Gesichtszüge vermittelten den Eindruck eines Mannes, der alles unter Kontrolle hat.

»Eigentlich nicht«, hörte er Martin antworten. »Ich wollte den ganzen Mist mal für ein paar Stunden vergessen. Aber, wo ich dich hier treffe … vielleicht kennst du unsere Verdächtige ja. Kommt aus deinem Zuständigkeitsbereich.« Martin berichtete von den Morden und von Eva Klein. »Na, du hast ja wirklich eine ganz schöne Scheiße am Backen.« Ernst blickte Carsten seinen Kollegen an. »Aber der Name sagt mir im Augenblick nichts«, überlegte er. »War wohl eher ein kleiner Fisch. Aber ich sehe morgen mal nach und ruf dich dann an.«

»Gut, dann lass uns jetzt endlich zum angenehmen Teil des Abends kommen.«

»Hab’ nichts dagegen.« Er hob dem Freund sein eben gebrachtes Bier entgegen. »Prost!«

Abgehakt
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