21

Messer

 

 

Anne war geübt darin, ihre Erlebnisse in Schubladen im Gehirn zu verschließen, um sich auf andere Dinge konzentrieren zu können. So auch die Begegnung mit Mark am Samstag. Doch es war, als rüttelte ständig jemand an dieser Schublade, um sie wieder zu öffnen.

Als sie am Montagabend nach Hause kam, hörte sie ihr Telefon bereits vor der Tür läuten. Schnell öffnete sie, warf den Schlüssel auf die Kommode im Flur und stieß die Tür mit einem Fußtritt laut krachend zu. »Degener!«, meldete sie sich.

»Hallo, Anne. Hier ist Mark.«

Mit dir habe ich überhaupt nicht gerechnet, dachte sie und streifte die Schuhe von den Füßen.

»Ich wollte nur hören, wie’s dir geht.«

»Mir geht’s gut. Ich hatte einen angenehmen Arbeitstag. Die Kollegen waren nett, das Mittagessen gut. Jetzt habe ich Feierabend. Was will ich mehr.«

»Schön zu hören. Aber ich meinte eigentlich, wie es dir innendrin geht. Ich drücke mich total bescheuert aus, was? Liegt sicher daran, dass ich noch nie in dieser Situation war.«

»Ist schon gut. Ich weiß, was du meinst. Aber um mich brauchst du dir keine Sorgen machen. Ich komme damit zurecht.«

»Wirklich?«

»Ja!«, antwortete sie mit Nachdruck und ließ sich in den Sessel neben dem Telefon fallen. »Aber mir scheint, das gilt nicht für dich?«

»Ich habe ein schlechtes Gewissen.«

»Ist das nicht normal?«

»Ich glaube nicht. Ich habe das schlechte Gewissen eher dir gegenüber.«

»Mir gegenüber?«

»Ja, weil ich am Samstag so schnell weg bin.«

»Glaub mir, das war kein Problem für mich. Es war eine schöne, einmalige Sache, und das ist in Ordnung so.«

»Gut. Dann bin ich beruhigt.«

»Also dann, tschüss, Mark!« Nachdem sie aufgelegt hatte, blieb Anne noch einen Moment im Sessel sitzen und gestattete sich einen Blick in die Schublade in ihrem Gehirn. Sie erinnerte sich an jedes Detail. Sehnsucht überkam sie. Wie herrlich musste es doch sein, abends nach Hause zu kommen und von seinem Mann empfangen zu werden, sich auszutauschen, gemeinsam zu essen, sich zu lieben 

Hör auf!, rief sie sich zur Ordnung. Sie sprang aus dem Sessel und schob die Schublade energisch zu. Alles bestens!

 

Bis Dienstagabend dachte sie nicht mehr an Mark. Doch dann stand er abends um acht unangemeldet vor ihrer Tür. »Kann ich reinkommen?«, fragte er, als Anne ihn nur schweigend anstarrte.

Sie ließ ihn herein und ging voraus ins Wohnzimmer. Dort baute sie sich mit verschränkten Armen vor ihm auf. »Warum bist du hier?«

»Ich hab’ dich vermisst.« Der zärtliche Blick aus seinen grünen Augen, kombiniert mit einem verführerischen Lächeln, ließen Annes Knie weich werden. Sie wandte sich ab und setzte sich auf das Sofa. Er folgte ihr und nahm neben ihr Platz.

»Wir hatten eine Abmachung!«, versuchte sie ihn zu erinnern.

»Wir hatten nur vereinbart, dass wir das, was passiert ist, geheim halten, aber nicht, dass wir uns nicht mehr sehen.«

»Sicher. Aber ich fände es besser, wenn wir uns nicht mehr sehen.«

»Ich musste die ganze Zeit an dich denken.« Er spielte mit einer ihrer Haarsträhnen.

»Und ich war froh, dass ich nicht die ganze Zeit an dich gedacht habe. Lass uns vernünftig sein und es dabei belassen«, sagte sie und schob ihn sanft ein wenig von sich weg.

»Das klingt aber nicht sehr überzeugt.«

Sie wich seinem Blick aus und wollte aufstehen. Doch er hielt sie zurück und drückte sie ins Kissen.

»Nicht weglaufen!«, hauchte er ihr ins Ohr. »Sag mir ins Gesicht, dass ich jetzt gehen soll und dass du mich nicht mehr willst.«

»Es sollte doch eine einmalige Sache sein. Wohin soll das sonst führen?« Fragend, fast hilflos, blickte sie ihn an.

»Am besten zum Höhepunkt«, entgegnete er strahlend. Wider Willen musste Anne lachen.

Dann strich sie ihm zärtlich über das Gesicht. »Es ist unfair, dass ich dir sagen soll, dass du gehen sollst.«

»Du sollst es ja auch nur sagen, wenn du es wirklich willst.«

»Das ist ja das Gemeine. Für mich ist es viel schwerer, Nein zu sagen. Ich bin allein, aber du hast eine Frau. Du müsstest gehen wollen.«

»Wir reden zu viel!« Er verschloss ihr den Mund mit seinen Lippen und streichelte sie beruhigend. Anne schloss die Augen und gab sich Marks Zärtlichkeiten hin, ließ sich von ihm ausziehen und genoss die wissenden Berührungen seiner Finger, die sie zum Höhepunkt führten, ehe er in sie eindrang.

 

Draußen war es inzwischen dunkel geworden. Anne zündete ein paar Kerzen an und legte eine CD von Céline Dion ein, ehe sie sich wieder zu Mark aufs Sofa kuschelte. Beide fühlten die Nähe des anderen und genossen die Stimmung des Augenblicks. Der Raum unterstützte dieses Gefühl mit seiner romantischen Anmutung aus Tausendundeiner Nacht. Alles schien wie im Märchen. Ein Märchen, das Punkt 21.58 Uhr endete. Marks Handy klingelte.

»Das gibt’s doch gar nicht.« Verärgert meldete er sich. Annes erster Gedanke war: Das ist Saskia, und jetzt muss Mark sie anlügen.

»Okay, okay!«, hörte Anne ihn sagen. »Ich bin spätestens in zwanzig Minuten da.« Er stöhnte und drückte das Gespräch weg. Mitleidig blickte er Anne an. »Bernd steht vor der Tür und will meinen Laptop ausleihen. Ein Notfall sozusagen.«

»Du scheinst ein vielgefragter Mann zu sein. Aber nächstes Mal musst du das Handy am Eingang abgeben«, sagte sie lächelnd.

»Was höre ich da?« Mark machte ein erstauntes Gesicht. »Nächstes Mal? Ich darf wiederkommen?« Er wollte sie in die Arme nehmen, doch Anne entzog sich ihm.

»Ich weiß nicht, ob es gut wäre, wenn du wiederkommst. Wo soll das hinführen?« Wie auf Kommando fingen beide laut an zu lachen und sagten gleichzeitig: »Zum Höhepunkt!«

»Nein, im Ernst«, fuhr Anne fort. »Wir benehmen uns egoistisch und schäbig Saskia gegenüber.«

»Nein!« Seine Stimme klang fest. »Ich habe dir schon mal gesagt, dass wir Saskia nichts wegnehmen. Es sind verschiedene Dinge. Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun.«

»So kann man das doch nicht sehen.«

»Warum nicht? Wir sind jung, wir mögen uns, warum sollten wir nicht ein bisschen Spaß zusammen haben? Ohne Druck und Verpflichtungen. Was spricht dagegen?«

Ja, was sprach dagegen?, überlegte Anne und starrte in die Flamme einer Kerze. Warum sollte sie diesen Zustand nicht ein bisschen auskosten? Mark tat ihr gut, und niemand müsste je von ihrer Affäre erfahren. Für eine kleine Weile wäre es doch in Ordnung, oder? Sie wandte sich ihm zu. »Sicher würde einiges dagegen sprechen, aber das hätte alles etwas mit Vernunft zu tun, und vernünftig will ich eigentlich jetzt nicht sein.«

»Hört sich gut an.« Er nahm sie in die Arme und begann ihren Hals zu küssen.

»Musst du nicht los?«

»Ja«, seufzte er. »Muss ich wohl.«

»Wenn es anfängt kompliziert zu werden«, sagte sie zu ihm, als sie an der Tür standen, »oder du dauernd lügen musst oder einer von uns einfach nicht mehr will, beenden wir es.«

»In Ordnung.« Ein letzter Kuss. »Ich rufe dich an.«

 

In der Alwinenstraße wurde Mark ungeduldig erwartet.

»Wie viele Frauen musstest du noch glücklich machen?«, begrüßte ihn Bernd und ging mit Mark ins Haus.

»Sehr witzig!«

»Das sollte in der Tat witzig sein, aber wenn du nicht darüber lachen kannst, liege ich offenbar gar nicht so falsch.« Er blickte Mark forschend ins Gesicht.

»Guck nicht so. Ich hol dir jetzt den Laptop. Soll ich gleich noch ein Bier mitbringen?«

»Ne, heute nicht. Ich muss wieder los. Um vier Uhr ist meine Nacht zu Ende.«

»Warst du bei Anne?«, fragte Bernd unvermittelt, als Mark zurückkam.

»Was?«

»Du hast mich schon verstanden. Warst du oder nicht?«

Mark brauchte nicht zu antworten. Sein Blick war dem langjährigen Freund Antwort genug. »Mensch, Junge! Du –«

»Sag nichts!«, unterbrach Mark ihn. »Ich weiß das alles selbst, aber ich konnte nicht anders. Sie ist mir nicht aus dem Kopf gegangen. Ich musste hinfahren.«

»Und? Ich nehme an, ihr habt nicht nur geplaudert?«

»Nein!«

Bernd blickte ihn eine ganze Weile an, ohne etwas zu sagen.

»Hör auf, so vorwurfsvoll zu schweigen!«, rief Mark.

»Und wie soll das jetzt weitergehen? Willst du sie weiter besuchen?«

»Ja, ich denke schon.«

»Du weißt schon, was du aufs Spiel setzt?«

»Ja, ich weiß. Ich weiß auch, dass das verrückt ist. Das Ganze ist wie ein Rausch und die Heimlichtuerei erhöht den Reiz noch.«

»Weißt du was? Meinetwegen leg sie ein paarmal flach. Dann merkst du sowieso, dass es nicht anders ist als zu Hause, aber danach schaffst du den Abflug. Versprich mir das!«

Mark nickte.

»Und verlieb dich bloß nicht!«, sagte Bernd eindringlich. »Das könnte eine Eigendynamik entwickeln, die du jetzt noch nicht voraussehen kannst. Unterschätz das nicht!«

Wieder nickte Mark.

Bernd hob die Hand zum Gruß und verschwand kopfschüttelnd.

Abgehakt
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