54. Kapitel
2009, Moose Lake, in der Hütte der Parkers
Der Schmerz explodierte in seiner Seite, als hätte die Wirkung seiner körpereigenen Drogen schlagartig nachgelassen. Ondragon krümmte sich, doch sein Blick war unverwandt auf die Szene gerichtet, in die er so überraschend hineingeplatzt war.
„Was? Was hast du getan?“, schrie er Peter Parker schließlich wütend an, als er wieder Luft zum Atmen hatte. Der Hillbilly hockte auf dem Boden und sah mit tränengeröteten Augen zu ihm auf.
„Mr. On Drägn. Es hat nicht funktioniert.“ Neben ihm lag sein Bruder Momo auf dem Rücken. Die Augen des geistig behinderten Jungen waren aufgerissen, sein Gesicht aufgequollen und seine Hände hatten sich um seinen eigenen Hals gelegt. Zunge und Lippen waren mit schwärenden Blasen überzogen und eine getrocknete, gelblichweiße Masse klebte an Haut und Kleidung.
„Verdammt, Pete! Natürlich hat es nicht funktioniert!“ Ondragon kniete neben dem unglücklichen Momo nieder und fühlte dessen Puls. Der Junge war tot. Qualvoll erstickt an dem heißen Wachs, das Pete ihm in den Hals geschüttet hatte.
Wendigo-Exorzismus!
„Ich wollte ihm doch nur helfen!“, heulte der Hillbilly.
„Woher hast du überhaupt das Wachs?“, fuhr Ondragon ihn an. Doch als er neben Momo einen verbeulten Topf entdeckte, wusste er, woher. Pete war zu der Höhle gegangen und hatte sich das Wachs von den Indianern geschnappt. Dieser Vollidiot!
„Mann, Pete!“ Ondragon fuhr sich mit zitternder Hand über die heiße Stirn und sah sich in der Hütte um. „Wo ist dein Onkel Joel?“
„Er ist weg.“
„Weg? Wohin? Verdammt, nun rede schon!“ Ondragon schüttelte den Hillbilly, doch der schluchzte so heftig, dass er kein Wort mehr herausbrachte. Er ließ von ihm ab und ging zu dem Bett des Onkels hinüber. Erleichtert atmete er auf. Dort stand die alte Flinte in der Ecke, ein vorsintflutlicher Vorderlader, gefühlte zweihundert Jahre alt. Auf dem Kolben waren die Initialen A.J.P. eingeritzt. Ondragon nahm sie und kontrollierte, ob eine Kugel im Lauf war. Sie war geladen. Leider würde er mit diesem Gewehr nur einen einzigen Schuss abgeben können. Das anschließende Nachladen würde zu lange dauern, um sich damit dauerhaft zu verteidigen. „Pete, wo ist dein Jagdgewehr?“
Der Kofferjunge schüttelte den Kopf. „Im Schuppen nebenan.“
Verdammt! Darauf würde er vorerst keinen Zugriff haben, denn Kateri hatte die Blockhütte inzwischen mit Sicherheit erreicht und verschanzte sich in diesem Augenblick da draußen. Er musste also mit dem Vorlieb nehmen, was er hier in der Hütte fand. Ondragon hängte sich das alte Gewehr über die Schulter und durchsuchte die Küche der Hillbillies nach geeigneten Stichwaffen. Auch hier war er erfolgreich. Joel Parker war ein Fallensteller, er besaß gleich drei gute Bowiemesser, die an Nägeln über der provisorischen Spüle hingen. Das sollte ausreichen. Ohne weiter auf den heulenden Kofferjungen und seinen toten Bruder zu achten, zerriss Ondragon ein Hemd und verband damit seine Wunde, dabei fiel ihm auf, dass er blutige Fußspuren auf dem Holzfußboden der Hütte hinterlassen hatte. Scheiß drauf! Er musste jetzt einen Plan entwerfen, wie er zur Lodge gelangen konnte, ohne dabei von einem Pfeil durchbohrt zu werden. Er löschte die Öllampe, damit es in der Hütte dunkel wurde, und schlich zum Fenster neben der Tür. Vorsichtig spähte er hinaus in den anbrechenden Tag, konnte aber niemanden sehen. Er kontrollierte die Ausblicke von sämtlichen Fenstern. Fehlanzeige. Wenn Kateri da draußen war - und das war sie! - dann versteckte sie sich verdammt gut. Ondragon überlegte. Zum Glück war Kateri allein, eine einsame Jägerin. Sie konnte maximal drei Seiten des Blockhauses gleichzeitig im Blick behalten. Er würde also herausfinden müssen, welche Seiten das waren. „Pete!“
Der Hillbilly rührte sich nicht. Im Dunklen kauerte er neben der Leiche seines Bruders.
„Pete! Ich brauche deine Hilfe!“ Ondragon ging zu dem Jungen und zerrte ihn auf die Beine. „Hörst du? Ich werde verfolgt. Miss Wolfe ist da draußen und will mich töten!“
Pete blickte ihn an. Natürlich verstand er nichts. „Du musst sie ablenken, damit ich unentdeckt fliehen kann.“
„Aber …“
„Jetzt hör wenigstens ein einziges Mal auf mich. Geh da an die Tür.“ Er schob den Hillbilly zum Eingang. Dass Pete womöglich getroffen werden könnte, nahm er in Kauf. Er konnte sich keine Rücksicht auf Kollateralschäden leisten, jetzt zählte nur das Überleben des Paul Eckbert Ondragon!
„Öffne die Tür!“, befahl er. Mit zitternder Hand schob Pete den Riegel zur Seite und zog die Tür auf. „Du gehst jetzt hinaus, ganz langsam, und tust so, als gingest du zu euerm Plumpsklo, dabei hältst du Ausschau nach Miss Wolfe. Sie hat sich irgendwo versteckt. Du gibst ein Zeichen mit der Hand, wenn du sie siehst, aber unauffällig. Huste in die Hand, hast du verstanden?“
Pete nickte langsam.
„Gut, dann geh jetzt!“ Ondragon schob den Jungen hinaus und schloss sofort die Tür hinter ihm. Angespannt folgte er die magere Gestalt des Hillbillys mit den Augen. Pete bewegte sich so auffällig, als hätte er ein Blaulicht auf dem Kopf und ein Megafon in der Hand, mit dem er gleich rufen würde: „Miss Kateri, kommen Sie raus, Sie sind umstellt!“
Ondragon seufzte.
Pete verschwand um die Ecke des Hauses, unglücklicherweise konnte Ondragon das Klohäuschen von seinem Standpunkt aus nicht sehen, denn es stand an der Seite der Blockhütte, an der sich der Kamin befand, und die hatte keine Fenster. Also musste er warten, bis der Hillbilly wieder vor dem Haus auftauchte. Falls er das tat und wieder zu ihm hineinkam, hätte die ganze Aktion herzlich wenig gebracht, dann müsste er sich etwas anderes einfallen lassen. Ondragon wartete und blickte angestrengt durch das Fenster neben der Tür. Draußen wurde es immer heller. Doch nichts rührte sich. Auch Pete tauchte nicht auf. Unheimliche Stille umgab ihn. Langsam dauerte die ganze Sache zu lange. War der Hillbilly getürmt? Oder hatte Kateri ihn sich geschnappt? Vielleicht hatte sie nicht gezögert, ihn mit einem lautlosen Schuss zu beseitigen.
Noch während Ondragon versuchte, Kateris Taktik zu ergründen, drang plötzlich ein beißender Geruch in seine Nase. Er blickte sich um, und entdeckte, was der Grund dafür war. Rauch drang vom Dach her durch die Ritzen des Gebälks! Einen Augenblick später züngelten auch schon die ersten Flammen vor den Fenstern auf der Rückseite.
Kateri, dieses verdammte Miststück, wollte ihn ausräuchern! Sie hatte ihre Indianerguerilla noch längst nicht abgelegt. Weiße Siedler wurde man am besten los, wenn man ihnen ihre Hütten anzündete!
Ondragon band sich ein feuchtes Tuch über Mund und Nase und machte sich bereit. Er würde so lange wie möglich in der Hütte ausharren und die Umgebung draußen vor Tür und Fenstern beobachten und dann hinausstürmen.
Die Flammen breiteten sich rasend schnell in dem trockenen Holz aus, griffen von den Dachbalken auf die Wände über und fraßen sich immer weiter zu ihm herunter. Bald musste er sich ducken, um der Hitze des Feuers zu entkommen. Wie ein brennender Himmel hingen die Flammen über seinem Kopf und heiß verätzte der Qualm seine Augen. Lange würde er es nicht mehr aushalten. Immer wieder sah er nach draußen, versuchte irgendwo eine Bewegung auszumachen, doch reglos lag der Wald da. Als die ersten Flammen über seine Haut leckten und ihm die Haare versengten, machte Ondragon sich bereit. Er würde nicht zur Tür hinauslaufen, die hatte Kateri bestimmt im Visier. Das Fenster auf der Rückseite bot die beste Möglichkeit, zu entkommen. Er griff sich einen Stuhl, der noch nicht Feuer gefangen hatte, hob ihn über den Kopf und warf ihn durch das Fenster, das mit einem Kreischen zersplitterte. Sofort schlugen die Flammen höher, weil sie endlich Luft bekamen. Ondragon hielt den Atem an und sprang wie ein Löwe durch einen Feuerring hinaus. In Erwartung eines heranfliegenden Pfeiles, ließ er sich gleich auf alle viere fallen und rollte sich einmal herum. Dann sprang er auf und hechtete, das Gewehr in der einen Hand, das Messer in der anderen, mit fliegenden Schritten zu den Bäumen hinüber, die ihm einigermaßen Schutz versprachen. Statt eines Pfeiles verfolgte ihn ein lauter Fluch, der das Getöse des Feuers übertönte. Kateri hatte auf die falschen Ausgänge gesetzt. Ondragon nutzte seinen geringen Vorsprung und lief weiter in den Wald hinein, den schmalen Weg, der zur Lodge führte immer zu seiner Rechten. Wie ein primitiver Waldläufer jagte er durch das Urgrün, barfuß und mit Schlamm beschmiert. Eine Evolution rückwärts: vom urbanen Stadtmenschen zum Neandertaler!
Je länger er lief, desto schwerer fiel ihm das Atmen. Die Wunde schmerzte höllisch und er verlor immer mehr Blut. Hinter sich hörte er, wie die Jägerin wütend durch den Wald brach. Sie machte sich keine Mühe mehr, leise zu sein. Die Treibjagd hatte begonnen! Kateri schrie und schickte Verwünschungen aus. Rückte immer näher. Ondragon wusste, dass sie als nächstes von seiner Pistole Gebrauch machen würde, er musste also zusehen, Haken zu schlagen und immer genügend dichtes Unterholz zwischen sich und ihr zu haben.
Gerade, als er dachte, dass endlich die Lodge vor ihm auftauchen müsste, gewahrte er eine Bewegung neben sich. Er riss den Kopf herum, doch der Schatten war bereits wieder verschwunden, wenn dort überhaupt einer gewesen war. Ganz sicher konnte sich Ondragon seiner Sinne nicht mehr sein, denn das Fieber und der Blutverlust machten sich bemerkbar. Seine Schritte wurden langsamer, und er spürte, wie ihn die Kraft allmählich verließ. Er war sich der Ironie durchaus bewusst, dass er ausgerechnet von jemandem verfolgt wurde, der genau dazu Forschungen anstellte, Menschen vor dem Verbluten zu retten. Ein lautes Knacken und Krachen drang an sein Ohr, als würde hinter ihm ein Baum umfallen. Ohne sich umzusehen, rannte Ondragon weiter. Die Lodge musste jeden Moment erscheinen. Plötzlich ließ ein dumpfes Knurren den Wald erzittern, ein urtümlicher, bedrohlicher Laut. Stille folgte. Und dann hörte Ondragon einen spitzen Schrei.
Nun hielt er doch an und lauschte mit jagendem Herzschlag. Keine geschätzten zwanzig Schritte hinter ihm bebte das Gebüsch, als würde es von einem Sturm zerzaust. Äste brachen und ein erstickter Schrei war zu hören, der in einem Gurgel endete, und dann wieder ein Knacken. Doch diesmal war es kein Baum, es klang irgendwie weicher und feucht, so als ob Knochen und Fleisch zermalmt würden. Kateri …
Als es aus dem Gebüsch genüsslich zu schmatzen begann, wirbelte Ondragon herum und lief erfüllt von Grauen weiter. Der Horror in diesem Wald nahm einfach kein Ende. Irgendetwas hatte Kateri getötet und fraß sie nun auf!
Stolpernd und mit letzter Kraft erreichte Ondragon schließlich die Häuser der Lodge. Er hatte morgendliche Stille erwartet, ein Gebäude, in dem noch alles schlief, nicht aber dieses Bienennest, in dem es bereits geschäftig von Menschen wimmelte. Die Lodge war illuminiert wie ein Weihnachtsbaum. Leute gingen ein und aus, einige trugen die Uniformen der Statetrooper, und auf dem Parkplatz flackerten mehrere Blaulichter.
Ondragon wollte sich zurück hinter einen Busch ducken, um erst einmal zu beobachten, was der Aufmarsch zu bedeuten hatte, da drehte einer der Statetrooper den Kopf in seine Richtung. Einen Moment schien es, als erkenne er den nackten, schlammverschmierten Mann inmitten der üppigen Vegetation nicht, doch dann zog er seinen Revolver und zielte auf ihn.
„Waffen hinlegen und langsam aus dem Gebüsch kommen!“
Ondragon dachte kurz darüber nach, diese Anweisung zu missachten, doch dann wurde er sich seiner mangelnden Alternativen bewusst … und seiner Erschöpfung. Er konnte nicht wieder in den Wald zurück! Auf keinen Fall würde er diesen Scheißwald noch einmal betreten!
Er warf die Flinte und das unterarmlange Bowiemesser weg und ging mit erhobenen Händen auf den Statetrooper zu, der sich zu seiner Beruhigung nicht als schießwütiger Jüngling, sondern als gestandenes Mannsbild mit dickem Schnauzer herausstellte.
„Wer sind Sie?“, rief Schnauzbart.
„Mein Name ist Paul Eckbert Ondragon, ich bin Gast in dieser Lodge!“ Er hatte den Statetrooper fast erreicht und sah, wie dieser in das Funkgerät an seiner Schulter sprach:
„Wir haben ihn!“ Der Mann ließ den Revolver sinken. „Kommen Sie mit, Mr. Ondragon, Sie werden erwartet. Hier, nehmen Sie.“ Er gab Ondragon seine Jacke, die er sich dankbar um die Schultern legte. Dann folgte er dem Statetrooper in das hell erleuchtete Hauptgebäude bis zum Eingangsbereich, wo weitere Männer in Uniformen, zwei Typen in dunklen Anzügen und eine Frau standen. Als diese sich zu ihm umdrehte, fiel Ondragon ein Stein vom Herzen.
„Charlize!“
„Chef!“ Die asiatisch brasilianische Schönheit lief auf ihn zu und schloss ihn in ihre Arme.
Nie war Ondragon erleichterter gewesen, sie zu sehen.