4. Kapitel

 

1835, Kabetogama, die einsame Blockhütte der Pelzjäger, 50 Meilen von Fort Frances entfernt

 

Rauch stieg vom Schornstein der Blockhütte auf und vermischte sich mit dem Dunst des trüben Wintertages. Die fahle Märzsonne schaffte es noch immer nicht, die dichten Wolkenmassen zu durchdringen. Es war sehr still im tief verschneiten Wald rings um die Lichtung. Lediglich zwei Fußspuren führten von der Hütte fort, eine zum Holzstapel und die andere zum Abort, ansonsten lag die graue Schneedecke unberührt da wie mit Wasser vollgesogene Wolle. Ab und an fauchte der eisige Nordwind über die Wipfel der Fichten und Espen hinweg und befreite sie von der erdrückenden Schneelast. Mit einem dumpfen Klatschen landeten die weißen Klumpen auf dem Boden. Bald würde sich eine weitere arktische Nacht über die menschenleere Landschaft senken und die geheimnisvollen Rufe der endlosen Wildnis mit sich bringen.

Plötzlich wurde die Tür der Blockhütte aufgerissen und ein Mann kam herausgestürmt. Stöhnend schleppte er sich einige Schritte auf die Lichtung hinaus. Er trug nur Hose und Hemd, sein Gesicht war eingefallen und fiebrig rot. Auf halbem Wege zum Abort hielt der Pelzjäger in seinem taumelnden Gang inne, beugte sich vor und presste beide Hände auf seine verhärtete Bauchdecke. Ein abgehacktes Würgen war zu hören, als Parker sich übergab. Dampfend spritzte das vor zwei Stunden gegessene Mittagessen in den pappigen Schnee. Mühsam rang er nach Luft, während die Krämpfe ihn schüttelten.

Erst als nichts mehr in seinem Magen war als frische Galle, richtete Parker sich auf und blickte mit blutunterlaufenen Augen seine beiden Freunde an, die ihm gefolgt waren.

„Schon wieder“, ächzte er entschuldigend und wischte sich mit einer Handvoll Schnee über den Bart.

Two-Elk legte ihm seinen Mantel um die bebenden Schultern.

„Soll nicht heißen, es hätte mir nicht geschmeckt“, fügte er im Scherz hinzu. Aber es wirkte nicht. Parker sah die ernsten Mienen seiner Freunde noch finsterer werden. Er fühlte sich unendlich erschöpft, während Lacroix ihn, wie einen alten Greis am Arm führend, wieder zurück in die Blockhütte brachte.

Two-Elk vergrub derweil das Erbrochene und urinierte auf die Stelle, damit die Wölfe sich davon fern hielten.

Drinnen ließ Parker sich auf seinen Stuhl am Kamin sinken. Der Geruch nach Tierhäuten und Fellen, die überall in der Hütte in Ballen gestapelt waren oder von den Deckenbalken herabhingen, beruhigte ihn. Lacroix tauschte den Mantel um Parkers Schultern gegen zwei Wolldecken aus, die er so um ihn wickelte, dass nur noch sein struppiger Kopf aus dem Bündel herausguckte. Der Frankokanadier schenkte kalten Tee aus einer zerbeulten Emailkanne in Parkers Tasse nach und hielt sie ihm an die spröden Lippen.

„Trink, Alan. Du brauchst dringend was in den Magen und der Tee scheint das Einzige zu sein, was drinnen bleibt.“

Parker schluckte die bittere Flüssigkeit ohne Widerworte. Sie hatten es zuvor mit heißem Tee versucht, doch der hatte ein wahres Höllenfeuer in seinem Innern entfacht und das seltsame Fieber nur noch verschlimmert, das sich von der Wunde ausgehend in seinem Köper breitgemacht hatte. Genau wie das Essen hatte er ihn wieder ausgekotzt.

„Das Vieh hat dich mit irgendwas infiziert.“ Lacroix hob eine Hand und gestikulierte damit vor Parkers Nase herum. Wenn er wütend war, verstärkte sich sein französischer Akzent noch. „Tabernac! Das ist nicht bloß Wundbrand!“

Parker war zu schwach, um zu antworten.

„Wenn es in den nächsten Tagen nicht besser wird, müssen wir Hilfe holen.“

„Und wo? Etwa bei den Kurpfuschern in Fort Frances?“, krächzte Parker.

Mais non“, Lacroix stieß sein Kinn in Richtung des Chippewa. „Bei seinen Leuten.“

Parker sah Two-Elk an, der stumm das Feuer im Kamin schürte.

„Sie kennen die Medizin gegen den …“ Lacroix sprach nicht weiter. „Putain de merde! Warum mussten wir ausgerechnet an dem Tag bei den Walcotts auftauchen und diesem verdammten Biest in die Arme laufen!“

„Hadern bringt jetzt auch nichts.“ Parker bekam kaum noch Luft unter der dicken Schicht aus Wolle. Seine Füße schmerzten, als seien sie zu Baumstämmen angeschwollen.

Es war eine Woche her, seit sie von diesem selbstgefälligen Lieutenant verhört worden waren und die Überreste der Walcotts begraben hatten. Der Lieutenant hatte sie nur ungern gehen lassen, denn für ihn war die Untersuchung der Morde noch lange nicht abgeschlossen. Parker hatte gespürt, dass er ihnen nicht traute. Aber der Engländer wusste ja, wo er sie finden konnte, und so waren sie noch am selben Tage zu der Blockhütte in ihrem Jagdgebiet zurückgekehrt. Sie waren keine Menschen, die viel Trubel mochten, und der wäre in Fort Frances mit großer Wahrscheinlichkeit über sie hereingebrochen. Die Leute dort lechzten nach jeder noch so unbedeutenden Neuigkeit, und ungeklärte Morde waren ein wahres Fest für Klatsch und Tratsch, eine willkommene Abwechslung, die eine Weile von der Einsamkeit ablenken würde. Parker und seine beiden Freunde scheuten jedoch den Lärm der Menschen, sie liebten die Stille des Waldes, in die sie sich zurückziehen konnten.

Allerdings erschien ihnen die Stille draußen in der Wildnis indessen nicht mehr ganz so beruhigend. Sie wirkte zunehmend bedrohlich. Obwohl nichts darauf hindeutete, dass sich dort draußen etwas Anderes aufhielt als die ihnen vertrauten Bewohner des Waldes.

Die finstere Kreatur blieb verschwunden; eine bloße Erinnerung, ein Schatten, der allein in Parkers unruhigen Träumen lebendig blieb.

„Mir ist viel zu heiß“, jammerte er. Ihm standen Schweißperlen auf der Stirn. „Bitte, lasst mich wenigstens die Decken ablegen.“ Er machte Anstalten, sich aus den Decken zu schälen, doch Two-Elk trat auf ihn zu und hinderte ihn daran.

„Nicht! Wir können es nur aufhalten, wenn du die Wärme in dir behältst.“

„Aber ich komme um vor Hitze!“

„Das ist der Kampf deines Körpers gegen das Fieber. Es ist gut.“ Der Indianer hielt ihm ein Stück getrocknetes Hirschfleisch hin. Parker lief das Wasser im Mund zusammen, in seinem Magen gurgelte es verlangend. Er musste etwas essen.

Trotz der Gefahr, auch dieses Stück Nahrung wieder auszuspeien, nahm er es zwischen die Zähne und kaute. Parker hatte den üblichen wildwürzigen Geschmack der luftgetrockneten Spezialität erwartet, umso überraschter war er, dass es nach schimmligem Moos schmeckte. Trocken und spröde knirschte es zwischen seinen Zähnen. Vielleicht war das Trockenfleisch verdorben. Er sah sich das nächste Stück genauer an, aber es schien in Ordnung zu sein. Er zwang sich, es herunterzuschlucken.

Two-Elk fütterte ihn, bis er aufgab.

„Das reicht, hab Dank mein Freund. Ich glaube, ich werde es bei mir behalten.“ Das hatte er beim letzten Essen auch gedacht. Sie würden ja sehen.

Das ungewohnte Gefühl eines vollen Magens machte ihn schläfrig und wenig später nickte Parker dankbar auf seinem Stuhl ein.

Mit der hereinbrechenden Dämmerung senkte sich Stille über die Hütte. Nur das Knacken der Holzscheite im Feuer war zu hören. Lacroix schlürfte einen frisch aufgebrühten Kaffee, der so schwarz war wie die Nacht draußen vor der Tür, und sah dem Indianer dabei zu, wie dieser geschickt einen seiner Schneeschuhe reparierte.

Beide fuhren aus ihrer Ruhe hoch, als plötzlich ein heftiger Windstoß gegen die Hütte prallte und sämtliche Fensterläden erzittern ließ. Erschrocken sahen die Pelzjäger zur Tür. Heulend fauchte der Wind erneut um die Außenwände, als wolle er die Behausung niederreißen, und klang dann abrupt ab.

Parker blinzelte mit roten Augen aus seinen Decken hervor und sah seine beiden Freunde fragend an. Sie hatten keinen Sturm aufziehen sehen.

Ein gedämpftes Wiehern drang aus dem angrenzenden Stall. Die Pferde waren unruhig. Einer von ihnen würde nach ihnen sehen müssen, falls der Sturm tatsächlich stärker werden sollte.

Mit einem Mal hörten sie einen dumpfen Schlag über sich, und sie blickten hinauf in das verrußte Gebälk. Holzstaub rieselte ihnen in die Augen.

Da war etwas auf dem Dach.

Two-Elk griff nach seinem Messer, als ein langgezogenes Stöhnen durch die eisige Nacht zu ihnen hinein drang.

 

 

Anette Strohmeyer - Ondragon 01 - Menschenhunger
titlepage.xhtml
Ondragon_01_-_Menschenhunger_split_000.html
Ondragon_01_-_Menschenhunger_split_001.html
Ondragon_01_-_Menschenhunger_split_002.html
Ondragon_01_-_Menschenhunger_split_003.html
Ondragon_01_-_Menschenhunger_split_004.html
Ondragon_01_-_Menschenhunger_split_005.html
Ondragon_01_-_Menschenhunger_split_006.html
Ondragon_01_-_Menschenhunger_split_007.html
Ondragon_01_-_Menschenhunger_split_008.html
Ondragon_01_-_Menschenhunger_split_009.html
Ondragon_01_-_Menschenhunger_split_010.html
Ondragon_01_-_Menschenhunger_split_011.html
Ondragon_01_-_Menschenhunger_split_012.html
Ondragon_01_-_Menschenhunger_split_013.html
Ondragon_01_-_Menschenhunger_split_014.html
Ondragon_01_-_Menschenhunger_split_015.html
Ondragon_01_-_Menschenhunger_split_016.html
Ondragon_01_-_Menschenhunger_split_017.html
Ondragon_01_-_Menschenhunger_split_018.html
Ondragon_01_-_Menschenhunger_split_019.html
Ondragon_01_-_Menschenhunger_split_020.html
Ondragon_01_-_Menschenhunger_split_021.html
Ondragon_01_-_Menschenhunger_split_022.html
Ondragon_01_-_Menschenhunger_split_023.html
Ondragon_01_-_Menschenhunger_split_024.html
Ondragon_01_-_Menschenhunger_split_025.html
Ondragon_01_-_Menschenhunger_split_026.html
Ondragon_01_-_Menschenhunger_split_027.html
Ondragon_01_-_Menschenhunger_split_028.html
Ondragon_01_-_Menschenhunger_split_029.html
Ondragon_01_-_Menschenhunger_split_030.html
Ondragon_01_-_Menschenhunger_split_031.html
Ondragon_01_-_Menschenhunger_split_032.html
Ondragon_01_-_Menschenhunger_split_033.html
Ondragon_01_-_Menschenhunger_split_034.html
Ondragon_01_-_Menschenhunger_split_035.html
Ondragon_01_-_Menschenhunger_split_036.html
Ondragon_01_-_Menschenhunger_split_037.html
Ondragon_01_-_Menschenhunger_split_038.html
Ondragon_01_-_Menschenhunger_split_039.html
Ondragon_01_-_Menschenhunger_split_040.html
Ondragon_01_-_Menschenhunger_split_041.html
Ondragon_01_-_Menschenhunger_split_042.html
Ondragon_01_-_Menschenhunger_split_043.html
Ondragon_01_-_Menschenhunger_split_044.html
Ondragon_01_-_Menschenhunger_split_045.html
Ondragon_01_-_Menschenhunger_split_046.html
Ondragon_01_-_Menschenhunger_split_047.html
Ondragon_01_-_Menschenhunger_split_048.html
Ondragon_01_-_Menschenhunger_split_049.html
Ondragon_01_-_Menschenhunger_split_050.html
Ondragon_01_-_Menschenhunger_split_051.html
Ondragon_01_-_Menschenhunger_split_052.html
Ondragon_01_-_Menschenhunger_split_053.html
Ondragon_01_-_Menschenhunger_split_054.html
Ondragon_01_-_Menschenhunger_split_055.html
Ondragon_01_-_Menschenhunger_split_056.html
Ondragon_01_-_Menschenhunger_split_057.html
Ondragon_01_-_Menschenhunger_split_058.html
Ondragon_01_-_Menschenhunger_split_059.html
Ondragon_01_-_Menschenhunger_split_060.html
Ondragon_01_-_Menschenhunger_split_061.html