31. Kapitel
2009, Moose Lake, Cedar Creek Lodge
Wie elektrisiert blickte Ondragon auf das Büschel Federn, das auf seinem Kopfkissen lag. Es war zusammen mit einem kunstvollen Geflecht aus weißen und roten Stachelschweinborsten an ein Lederband geknüpft, das man sich um den Hals hängen konnte. Unheilvoll begann es, in seinem Nacken zu prickeln, und mit der Hand an der Waffe schnellte er herum. Doch da war nichts. Vorsichtig bewegte er sich durch das Zimmer und überprüfte das Innere des Kleiderschrankes und des Bades, aber niemand versteckte sich dort, und sonst gab es auch keine weitere Möglichkeit, sich zu verbergen. Abrupt blieb er stehen. Unter dem Bett!
Wie eine Katze ließ er sich auf alle viere fallen und zielte mit der Pistole in das Dunkel unter dem Bett.
Auch nichts. Langsam kam er sich blöd vor. Noch einmal kontrollierte er den Balkon und den Flur vor der Zimmertür. Nichts.
Mit spitzen Fingern verfrachtete er den Federfetisch vom Bett auf den Nachttisch. Dann drehte er das Kissen um und legte sich wieder hin, die Pistole in der Ritze zwischen den Matratzen versteckt. Seltsamerweise schlief er sofort ein.
Am nächsten Morgen untersuchte er noch einmal gründlich die Zimmer-und die Balkontür und kam zu dem Schluss, dass der Eindringling von letzter Nacht entweder einen Schlüssel oder einen Dietrich gehabt haben musste, denn es waren keine Einbruchsspuren an den Schlössern zu sehen. Wahrscheinlich hatte der Kerl sich im Bad versteckt, als er aufgewacht war, hatte dann den Zettel an der Tür positioniert und war danach zum Balkon raus, während er mit dem Rücken zum Bett gestanden und den Zettel gelesen hatte. Und das alles verdammt lautlos! Ondragon dachte nach. Wer konnte dafür in Frage kommen? Allein die Cleverness, den Zettel als Ablenkung zu benutzen, schloss Pete mit großer Wahrscheinlichkeit aus. Der Hillbilly war zu unbeholfen. Sicher, hier vom Balkon zu klettern, war nicht die große Kunst bei einem Gebäude, das aus Holzstämmen bestand, die man wie eine Leiter benutzen konnte. Das brachte auch jemand ohne viel Kraftaufwand und Geschicklichkeit zustande.
Ondragon dachte weiter. War es Oliver Orchid gewesen? Hatte der Mann aus Zimmer 20 gemerkt, dass er ihm nachgestellt hatte, und wollte ihn nun einschüchtern, damit er es in Zukunft sein ließ? Hatte Orchid Angst, man könnte etwas über ihn herausfinden, das ihn in Schwierigkeit brächte? Etwas, das mit der vergrabenen Tüte und dem Arm darin zu tun hatte? Ondragon besah sich den indianischen Federanhänger, und ein ganz anderer Gedanke materialisierte sich in seinem Hinterkopf. Kateri? Es war ein seltsamer Gedanke, aber warum nicht? Nur welchen Grund hätte Miss Wolfe für ein solches Unterfangen? Sie wusste doch gar nicht, dass er Nachforschungen angestellt hatte. Außerdem war dabei bisher nicht viel herausgekommen. Einer plötzlichen Eingebung folgend, zückte Ondragon sein Handy. Ja, da war eine Mail von Rudee. Er öffnete sie.
Sawadee, Paul!
Einen guten Rat zuerst: An deiner Stelle ich sofort meine Koffer packen und nach Hause fahren, oder immer eine Waffe am Mann haben wenigstens! Und du dich besser mit Tigerbalm einreiben - schmeckt nicht!
Was zur Hölle, faselte Rudee da? Ondragon schüttelte den Kopf.
Im Anhang du ein Dokument finden, das sehr tief, betone, sehr tief, in den Eingeweiden von internem Server der Lodge versteckt. Ich extra ein Programm schreiben, um unbemerkt durch Hintertür Zugriff darauf bekommen. Du dir die Sachen durchlesen, dann du wissen, warum Daten besser als Fort Knox gesichert. Mann, du in guter Gesellschaft! Du bloß sehen, da schnell fertig werden! Dr. A ist Oberfreak! Wenn du mich fragen, der Doc da mehr Irre zusammen als in Resident Evil Zombies!
Greetz
Napol_e.on
PS: Nicht vergessen: Tigerbalm! Du verstehen, wenn Anhang lesen.
Ondragon öffnete die Datei. Und während er sie durchging, bildete sich kalter Schweiß auf seiner Stirn. Es war verrückt, aber mit einem Mal bekamen Dr. Schuylers scherzhafte Anspielung auf einen etwaigen kannibalistisch motivierten Mörder und Dr. Arthurs private Forschungen einen unschönen Zusammenhang. Das, was hier Schwarz auf Weiß in den so sorgsam geheim gehaltenen Patientenakten stand, dürfte selbst den guten alten Fritz Haarmann beeindruckt haben! Mit zittrigen Fingern scrollte Ondragon weiter. War Kateri womöglich auch Bestandteil dieser illustren Liste? Aus einem unerfindlichen Gefühl heraus wusste er, dass es ihn nicht überraschen würde, wenn dies tatsächlich so wäre. Schnell überflog er den Inhalt und erreichte schließlich das Ende der Datei. Einige bekannte Namen waren darin aufgezählt, doch nicht der von Miss Wolfe. Gut? Nicht gut? Ondragon scrollte die Datei zum Anfang zurück und arbeitete sie noch einmal durch, nur um sicherzugehen, dass er nichts übersehen hatte. Danach schaltete er das Handy ab und starrte eine Weile an die Wand. Es war unfassbar! Aber irgendwie hätte er auch früher darauf kommen können.
Später beim Frühstück blickte er mit ganz neuen Augen auf seine Mitinsassen und ergänzte mit vorgetäuschter Ruhe die Einträge in seinem Notizblock. Doch hinter seiner gelassenen Fassade raste der dreifache Espresso durch seine Venen und hatte die Zentrifuge längst auf Höchsttouren gebracht. Bis eben noch unbekannte Puzzleteilchen fielen wie von selbst auf ihren Platz und ergaben langsam ein Bild. Ein Bild, das Ondragon noch immer einen Schauer aus Faszination und Ekel über den Rücken jagte. Rudees Worte kamen ihm in den Sinn. Tigerbalm - eine Topidee! Unwillkürlich musste er schmunzeln. Rudee war eben ein Pragmatiker. Der Thai dachte, dass Menschenfleisch in einer Marinade aus ätherischen Ölen vielleicht nicht ganz so schmackhaft sein könnte. Menschenfleisch. Was für ein perverser Wahnsinn!
Ondragon sah kopfschüttelnd auf seine Aufzeichnungen, als könnte er es immer noch nicht glauben. Aber warum sollten die geheimen Patientenakten von Dr. Arthur lügen? Sein Blick suchte den Chirurgen Michail Petrowsk, der heute einmal ohne den Tennisstar Viktory am Tisch saß. Er aß seelenruhig sein Omelette. Ondragon wurde schlecht. In der Akte von Petrowsk war unter anderem vermerkt:
Starke kannibalistische Ausprägung, hat seinen Drang jedoch weitgehend unter Kontrolle. K. nicht sexuell bedingt, d.h. M.P. hat keine sexuellen Fantasien vor, während oder nach dem Verzehr. Kompensiert sein Verlangen nach Menschenfleisch durch das Essen von Organen/ Körperteilen, die nach Transplantationen oder anders gelagerten Operationen entsorgt werden. Bereitet sie zu Hause zu wie eine ganz normale Speise. M.P. sagt, er tue das, weil er den Nervenkitzel beim Stehlen der Organe liebe und Menschenfleisch als Delikatesse ansehe. Gehört einem kleinen Ring von Kannibalen in Kalifornien an, die er mit Organen beliefert. Lebt zusammen mit seiner Frau und seinen zwei Kindern, die unwissentlich Mitkonsumenten sind.
Ondragon verzog angewidert das Gesicht. Das war wirklich scheußlich! Und außerdem strafbar. Oder etwa nicht? Wohin kamen die entnommenen Organe nach einer Operation, und wer kontrollierte diese Entsorgungskette? Irgendwo musste es einen Mitwisser geben. Zumindest saß Dr. Petrowsk als Chirurg direkt an der Quelle, um seinem ungewöhnlichen Genuss frönen zu können. Ondragons Magen machte einen gefährlichen Schlenker, so als säße er in einer Achterbahn. Er hob die Hand und winkte Carlos heran. Er brauchte mehr Kaffee!
Nachdem er eine neue Tasse mit dampfendem Espresso erhalten hatte, zog es seine Aufmerksamkeit wieder magisch in seinen Notizblock. Petrowsk war unter den ganzen Vollkaputten noch der Harmloseste. Da war unter anderem der Latinoschnulzensänger Enrique Souza. Der biss seine Freundinnen mit Vorliebe in den Hals, weil er unbändige Lust verspürte, ihr Blut zu trinken. Natürlich hielten seine Beziehungen deshalb nicht besonders lange. Eine seiner ehemaligen Partnerinnen hatte ihn 2008 sogar wegen Körperverletzung angezeigt. Er hatte sie so stark gebissen, dass sie tatsächlich blutete. Klarer Fall von Vampirismus, der eine Variante des Kannibalismus war, so lautete es in Souzas Akte. Außerdem war seine Neigung extrem sexuell geprägt. Er tendierte zu Gewalt und überschüttete sich und seine Partnerinnen beim Geschlechtsverkehr gerne eimerweise mit Kunstblut. Wohl auch ein Grund für die Kürze seiner Beziehungen. Sexuell bedingt hieß das aber auch, dass Souza eine tickende Zeitbombe war. Keiner wusste, was passieren würde, wenn er einmal nicht das bekam, wonach es ihn gelüstete. Immerhin schien es dem Knaben aber aufgefallen zu sein, dass er nicht ganz normal war und hatte sich in die Therapie bei Dr. Arthur begeben, der, so ging es Ondragon auf, mit der CC Lodge ein weltweit einzigartiges Asyl für Menschen mit dem abnormen Verlangen nach Menschenfleisch geschaffen hatte. Er war der einzige Psychotherapeut, der seinen Patienten offenbar versprach, ihre kriminellen Machenschaften nicht an die Polizei zu melden. Wahrscheinlich fand man Dr. Arthurs Adresse auch nur auf einschlägigen Internetseiten, oder sie sprach sich in diesem Milieu einfach herum, auf jeden Fall behielt der Doc nach außen hin ein seriöses Image, getarnt als Nervenarzt für Reiche. Ein genialer Schachzug, denn das bedeutete, dass er nebenbei ganz unauffällig Patienten bekam, die er in situ, sozusagen einen Kannibalen in freier Wildbahn, studieren konnte. Das war ein ungemeiner Vorteil, denn Kannibalen landeten in der Regel erst nach ihrer Straftat und Verhaftung auf der Couch. Und besonders gesprächig gebärdeten diese sich unter den erdrückenden Bedingungen von Haft und öffentlicher Aufmerksamkeit auch nicht. Es war also ein wünschenswerter Zustand, dass Kannibalen aus aller Welt freiwillig zu Dr. Arthur kamen und aus ihrem Leben plauderten, bevor sie durch ein Gerichtsurteil stigmatisiert würden. Und davon gab es immerhin an die siebzig Namen in der Liste. Siebzig Kannibalen, die frei herumliefen! Ein verstörender Gedanke, aber offenbar auch ein wahrhaft fruchtbares Feld der Forschung. Nicht, dass Dr. Arthur deswegen ein schlechterer Psychotherapeut auf den anderen Gebieten gewesen wäre. Im Gegenteil, er hatte alles in allem eine brillante Heilungsquote.
Ondragon nahm einen Schluck Kaffee und schnalzte mit der Zunge. Was die Polizei und die Presse wohl dazu sagen würden, wenn sie erführen, dass hier in der CC Lodge potentielle und auch tatsächliche Verbrecher untergebracht waren? Delikat. Kein Wunder, dass sämtliche Unterlagen zu den K-Patienten so gut gesichert waren.
Ondragon blätterte zu zwei weiteren Namen: Harvey Lyme und Oliver Orchid. Endlich kam etwas mehr Licht in das Geheimnis um den Patienten in Zimmer Nr. 20. In der sehr umfangreichen Akte war vermerkt, dass Orchid bei seiner Tätigkeit für Ärzte ohne Grenzen in einem abgelegenen Dorf im Gebiet der Rebellen von Darfur, Westsudan, an einen Kannibalenkult geraten war. Dem hatte er zuerst aus reiner Neugier beigewohnt, war ihm aber schließlich nach und nach verfallen. Man hatte ihn anfänglich vor dem Dorf gewarnt. Frauen und Männer verschwänden dort immer wieder. Doch die Wissbegier Orchids war größer als seine Angst, und so war er zu dem Dorf gereist. Die Einwohner hatten zunächst zurückhaltend reagiert, den Ausländer aber dann bereitwillig in ihren Kult eingeführt, der seine Feinde opferte und sie aufaß, um ihre Stärke zu gewinnen. Orchid hatte Dr. Arthur erzählt, dass er von diesem archaischen Brauch fasziniert war und begonnen hatte, ein Buch darüber zu schreiben. Doch dann sei die Situation außer Kontrolle geraten, und er hätte sich eines Tages in einem Blutrausch wiedergefunden, die Machete in der Hand und die Leber seines Opfers zwischen seinen Zähnen. Orchid konnte nicht erklären, wie es dazu gekommen war, aber er war erschrocken über seine Verwandlung und aus dem Dorf geflohen, von dem er später nicht mehr sagen konnte, wo es genau lag. Zurück bei den Ärzten ohne Grenzen war er schon nach wenigen Wochen außerstande, seine Arbeit fortzuführen. Der Fluch des Dorfes ließ ihn nicht mehr los, und das Verlangen, zu töten und Menschenfleisch zu essen, war übermächtig geworden. Seine Hände zitterten, wenn er einen Patienten berührte. Er hatte sich kaum noch unter Kontrolle. Er kündigte seinen Job und reiste auf dem schnellsten Wege nach Kanada zurück. Er hoffte, dass der afrikanische Alptraum in der kühlen Umgebung seiner Heimat abklingen würde. Doch das war ein Trugschluss. Immer wieder ertappte sich Orchid dabei, die Menschen in seiner Umgebung zu betrachten und sich zu fragen, wie diese schmecken und was für Stärken sie ihm wohl schenken mochten. Und dann, eines Tages, sei es eskaliert …
Zu Ondragons Bedauern brach an dieser Stelle der Bericht über Oliver Orchid ab, der Rest der Akte war leer. Es schien, als unterläge alles Weitere einer noch höheren Geheimhaltungsstufe. Das war seltsam, denn die K-Akten waren doch schon top secret. Gab es etwa noch mehr, noch geheimere Daten? Die Frage war nur, wo? In Dr. Arthurs Aktenschrank? Vielleicht waren die noch nicht digitalisiert worden und schlummerten in Papierform seelenruhig im Büro des Seelenklempners. Ondragon überlegte. Das Büro war mit Sicherheit besser abgesichert als Sheilas Office. Und eigentlich gab es Wichtigeres, als dort einzubrechen, schließlich wusste er jetzt, dass Oliver Orchid ein K-Patient war und immerhin den Weg zu Dr. Arthur gefunden hatte.
Ondragon blätterte in seinem Notizblock und richtete sein Augenmerk auf den letzten, ihm bekannten Fall: Harvey Lyme. Der Immobilienmakler war von noch speziellerer Natur. Er war kein Kannibale. Lyme stand, nun ja, wie sollte man es ausdrücken, er stand auf der anderen Seite. Und das mutete weit perverser an, als der andere kranke Scheiß, den Ondragon bisher gelesen hatte. In seiner ganzen bemitleidenswerten, pickligen Verzweiflung trachtete Lyme zwar danach, mit Kannibalen in Kontakt zu kommen, aber nicht etwa, weil er nach Gleichgesinnten suchte, sondern weil es ihn nach einer ganz besonders abgefahrenen Abnormität gelüstete. Es war so schlicht wie haarsträubend:
Harvey Lyme wollte sich aufessen lassen!
Noch immer fassungslos ob dieser Tatsache schüttete Ondragon den Rest seinen Kaffees auf seinen rumorenden Magen und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. Auch sonst fühlte er sich nicht gerade wie der Mops im Haferstroh, eher wie Alice im Irrenland. Es war schon mittelmäßig bis sehr beunruhigend, dass er sich hier in einer Anlaufstelle für Menschen befand, die gerne Menschen aßen oder von ihnen gegessen werden wollten, ohne dass die Öffentlichkeit etwas davon ahnte. Die hübsch gelegene CC Lodge war quasi Teil eines dunklen Netzwerkes, das hinter den Kulissen der Gesellschaft existierte und die tiefsten und widerwärtigsten Abgründe der Menschheit beherbergte. Einiges wurde dadurch jetzt noch klarer: die Abgelegenheit der Anlage, die eingeschworene Gemeinschaft, die extreme Kontrolle der Mitarbeiter. Das alles waren Bestandteile einer Geheimhaltungsstrategie, wie man sie sonst im Pentagon oder beim CIA vorfand. Das Schlimmste an der ganzen Sache aber war: Er saß hier mit Kannibalen unter einem Dach! Das musste man erst einmal verdauen. Auch die Morde, naja, vielleicht nur der Fall mit der Leiche im Wald konnte damit zu tun haben. Was, wenn einer der K-Patienten ausgerastet und seinen Instinkten gefolgt war? Das war durchaus denkbar und näher dran an Dr. Schuylers Scherz, als dieser es sich je hätte träumen lassen. Verständlich wäre dann auch das Verhalten von Dr. Arthur, der so tat, als wüsste er von nichts. Seine vermutlich illegalen Forschungen durften auf keinen Fall auffliegen. Ondragon überlegte, wie er weiter vorgehen wollte. Eigentlich sollte er mit seinen neu gewonnen Informationen sofort zu Deputy Hase gehen, sie warfen ein ganz anderes Licht auf die Mordermittlungen, die bis jetzt nicht besonders weit gediehen waren. Vielleicht konnte er dafür sorgen, dass die Polizei sich nicht in eine völlig falsche Richtung verrannte und Dr. Laytons Bären vom Killer-Verdacht freigesprochen wurden. Darüber würde sich die alte Lady bestimmt freuen. Aber würde man ihm auch glauben? Die Sache mit den Kannibalen war ziemlich unglaubwürdig.
Ondragon bemerkte, wie Kateri das Restaurant betrat und räumte schnell den Notizblock vom Tisch. Sie musste nichts davon wissen. Lächelnd empfing er sie und winkte Carlos herbei, damit sie ihr Frühstück bestellen konnte.
Während er ihr beim Essen zusah, spürte er eine untergründige Erleichterung darüber, dass Miss Wolfe nicht in der K-Akte von Dr. Arthur auftauchte. Demnach war sie keine Kannibalin, und er konnte sich getrost mit ihr einlassen, ohne befürchten zu müssen, von ihr verspeist zu werden. Er unterdrückte ein Grinsen und fragte sie nach ihrem Tagesplan.
„Oh, es steht nicht viel an“, entgegnete sie. „Dr. Arthur erwartet mich um elf Uhr, und um zwölf habe ich eine Verabredung mit der Masseurin im Spa. Muss meine Muskeln nach den gestrigen Training mit dem Pferd etwas lockern.“ Kateri lächelte. „Und Sie?“
„Ein Termin um zehn Uhr bei Dr. Pollux. Dr. Arthur hat mir empfohlen, es mal mit einer Familien-Aufstellung zu versuchen, für die Pollux Spezialist ist. Die Hypnose scheint bei mir nicht auszureichen, um die tiefsten Gräben meines Unterbewusstseins auszuloten. Bin mal gespannt, was das bringt.“
„Was gibt es denn bei Ihnen so Tiefes auszuloten?“ Sie hatte ihre Stimme gesenkt und sah ihn aufreizend an. Ondragon wurde ganz warm im Bauch.
„Nun, das wird Dr. Pollux hoffentlich herausfinden, oder wollen Sie in den Bereich der Tiefenpsychologie übersiedeln? In dem Fall ließe sich einrichten, heute Nachmittag eine erste Sitzung abzuhalten. Sagen wir um vier Uhr am See?“
Kateri Wolfe wandte verlegen ihr Gesicht ab und rieb sich ihre Wange an ihrer Schulter. Dann sah sie ihn wieder an, ein verschämtes Lächeln auf den Lippen. „Könnte ein spannendes Experiment werden. Ich meine, mit mir als Therapeutin.“
„Dann ist es abgemacht.“ Ondragon wollte sich erheben.
„Aber vielleicht sollte ich vorher noch mal Krankenschwester spielen und den Kratzer auf Ihrer Stirn verarzten. Sieht nicht gut aus. Könnte entzündet sein. Spüren Sie nichts?“
Ondragon fuhr mit den Fingern über die verschorfte Wunde. Tatsächlich fühlte er eine Beule und leichte Schmerzen, als er darauf drückte.
„Wird schon nichts Wildes sein. Aber wenn es Sie beruhigt, so werde ich zu Schwester Grausam aufsuchen und sie um Jod bitten.“
„Schwester Grausam?“
„Na, Sheila.“
„Sie ist eigentlich ganz okay.“
„Eigentlich?“
„Ja.“
„Und auf welchen Knopf muss man da drücken?“
Kateri sah ihn verständnislos an.
„Schon gut.“ Ondragon schüttelte den Kopf. „Wir sehen uns am See.“ Bevor er den Tisch verließ, strich er Kateri unauffällig über den Unterarm. Innerlich freute er sich schon darauf, diese Frau ausführlicher zu erkunden, und vielleicht böte sich ihm ja schon bald erneut eine Gelegenheit. Diesmal würde er bestimmt nicht Nein sagen.