8. Kapitel

 

1835, Kabetogama, die einsame Blockhütte der Pelzjäger

 

Als Parker wieder zu sich kam, blickte er in das Gesicht von Two-Elk. Der Indianer hatte eine Hand auf seine Stirn gelegt.

„Kalt“, konstatierte er mit einem Blick, der nicht zu deuten war.

Parker rollte seine schmerzenden Augen zum Fenster. Die Läden waren geöffnet, und Sonnenlicht fiel hinein. Hatte er so lange geschlafen? Auf jeden Fall hatte er einen merkwürdigen Traum gehabt. Er hatte in der Hütte der Walcotts inmitten ihrer zerfleischten Körper gestanden, doch komischerweise war ihm dabei nicht übel geworden. Im Gegenteil, sein Magen hatte verlangend geknurrt.

„Ist das Fieber weg?“, hörte er Lacroix fragen. Seine Augen wanderten zu dem Frankokanadier. Er saß am Tisch und aß gemahlenes Dörrfleisch mit Fett und dazu Zwieback.

„Ich will auch essen“, kam es einsilbig über Parkers Lippen.

Two-Elk ging zum Tisch und kam mit einer Portion Pemmikan wieder.

„Das Fieber ist noch in ihm. Es wird erst aufhören, wenn …“

„Hunger!“ Parker zerrte ungehalten an seinen Decken. Ihm war noch immer fürchterlich heiß, so als säße er in der Hölle und tränke mit dem Teufel höchstpersönlich Tee, aber der Hunger war stärker als alles andere.

Two-Elk reichte ihm das Pemmikan an den Mund, doch Parker schüttelte den Kopf.

„Will ich nicht.“ Warum spreche ich wie ein kleines Kind? „Was Frisches. Gibt es frisches Fleisch?“ Hunger! Ich habe solchen Hunger!

Two-Elk schüttelte den Kopf, und Parker sah genau den kurzen Blick, den er Lacroix zuwarf. Sein Unbehagen erwachte von Neuem und wuchs mit jedem schmerzhaften Pochen in seiner Schulter und seinen Füßen. Verdammt, wenn es doch bloß nicht so heiß wäre, dann könnte er sich besser konzentrieren!

„Was war letzte Nacht?“

Lacroix legte sein Messer hin und strich sich über den Bart.

„Er war da“, sagte Two-Elk nüchtern. „Ich habe seine Fährte verwischt. Bis weit in den Wald hinein.“

„Er kommt wegen mir“, flüstere Parker schließlich und sah Lacroix an, der seinem Blick auswich. Trotz seines schmerzumwölkten Geistes konnte er spüren, dass seinen Freunden unbehaglich zumute war. „Ihr müsst fort! Lasst mich hier und geht nach Fort Frances. Am besten gleich heute noch! Ich bin eine Gefahr für euch und wenn ihr bei mir bleibt, dann setzt ihr euch unnötigem Risiko aus. Er will nur mich. Nicht euch. Lasst mich hier. Ich bin ohnehin verloren.“

Merde! So ein Unsinn. Wir lassen dich nicht im Stich!“ Lacroix funkelte ihn an. „Was denkst du von uns? Selbstverständlich werden wir dir helfen.“

„Und verflucht noch mal wie, wenn ich fragen darf?“ Die Hitze und der Hunger machten Parker fast wahnsinnig.

„Two-Elk wird Hilfe holen.“ Lacroix blieb ruhig. „Er hat seine Sachen schon gepackt. Er reitet los und sucht die Leute seines Stammes. Dort wird es jemanden geben, der weiß, was zu tun ist.“

„Ach ja? Wenn ihr glaubt, dass Zauberei mich rettet, dann …“

„Bleibe stark, mein Bruder, kämpfe gegen das Eis in deinem Herzen, bis ich zurück bin. Ich werde Hilfe finden. Wendigo ist zwar mächtig, aber nicht unbesiegbar.“ Two-Elk legte sich kurz eine Hand auf die Brust und wandte sich um. Nachdem er seine Satteltaschen geschultert und seine Waffen an sich genommen hatte, verabschiedete er sich stumm und verließ das Blockhaus. In der Tür warf er noch einen kurzen Blick auf das Büschel weißer Daunen, das er an den Türrahmen geklebt hatte, und trat dann ganz hinaus in die winterliche Kälte.

Als sich die Tür hinter ihm schloss, stöhnte Parker auf. Der Schmerz drohte ihn erneut zu überwältigen.

„Bekomme ich jetzt was zu essen?“, fragte er mit dünner Stimme.

Draußen hörten sie Two-Elks Pferd davontraben.

 

Nachdem er etwas Pemmikan heruntergewürgt hatte, das seltsamerweise auch nach staubigem Moos schmeckte, lehnte Parker sich zurück und schloss die brennenden Augen, während Lacroix sich daran machte, ihn aus den Decken zu schälen, um den Verband zu wechseln.

Doch unvermittelt hielt der Frankokanadier inne und sog scharf die Luft ein. Parker hob die schweren Lider.

„Was ist los?“ Er folgte Lacroix‘ Blick, der auf seine Füße gerichtet war und …

Oh, Gott!

Das konnte nicht sein!

 

 

Anette Strohmeyer - Ondragon 01 - Menschenhunger
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