13. Kapitel
2009, Moose Lake, Cedar Creek Lodge
Ungesehen aus der Lodge zu kommen, war nicht schwer. Um kurz nach halb vier am Nachmittag benutzte Ondragon die Feuertür auf derselben Etage wie die Gästezimmer und stieg leise die stählerne Wendeltreppe an der Westseite des Gebäudetraktes hinab. Ihm war bewusst, dass er auf der freien Rasenfläche von den rückwärtigen Fenstern aus gesehen werden konnte, deshalb zwang er sich zu einem ruhigen, fast gemächlichen Gang, bis er ein paar Büsche und Bäume zwischen sich und die Lodge gebracht hatte, dann erst lief er.
Den Weg zur Blockhütte von Peter Parkers Onkel fand er sofort. Er zweigte etwa zweihundert Schritte vor dem Wohnhaus der Angestellten nach rechts ab und führte unter anderem auch zu den Stallungen. In einem großen Bogen schlich Ondragon um die Stallgebäude herum, vor denen die Pferde auf der Koppel standen und grasten. Vom Reitlehrer war nichts zu sehen.
Plötzlich spürte Ondragon einen Tropfen auf seiner Wange und warf einen Blick zum Himmel. Regenschwere, graue Wolken waren seit dem Vormittag aufgezogen, und nun begann es leicht zu nieseln. Missmutig verzog er das Gesicht. Hoffentlich schüttete es nicht gleich wie aus Eimern. Rasch folgte er dem Weg immer tiefer in den Wald hinein. Das Zwielicht unter dem dichten Dach der Bäume versetzte den Wald in eine weit weniger einladende Stimmung als gestern bei strahlendem Sonnenschein. Finstere Schattenlöcher taten sich rechts und links des Weges auf und hauchten nasse Kälte aus ihren moosigen Mäulern. Unbewusst beschleunigte Ondragon seinen Schritt und lauschte aufmerksam in die Umgebung. Doch alles blieb still, kein Knacken ertönte und auch kein Bärengebrüll. Nur das hohle Rauschen des Windes über den Baumwipfeln war zu hören.
Nach einer geschätzten Viertelstunde erreichte er eine Lichtung mit mehreren Gebäuden. Augenblicklich schlug ein Hund an. Das Vieh kam als zottiges schwarzes Kräuel auf ihn zugeschossen, und als Ondragon schon die Hand hob, um ihn abzuwehren, ging ein unerwarteter Ruck durch das Tier, und es wurde jaulend zurückgerissen.
Die Leine hatte nur wenige Zoll vor ihm ihre maximale Dehnung erreicht.
Zufrieden lächelte Ondragon den tobenden Hund an.
„Na, verschätzt?“
Dann wandte er sich auf der Stelle um und betrachtete die Ansammlung von Gebäuden: Ein Haupthaus aus behauenen Stämmen, alt, aber in Schuss, eine dünne blaue Rauchwolke kräuselte sich aus dem Schornstein; daneben eine Art Stall oder Schuppen, schon etwas verrottet, an der Wand unter dem vorgezogenen Dach hingen rostige Tierfallen und undefinierbare Tierkadaver; in Anschluss eine weitere kleine Hütte, davor ein schlammiger Platz und in zirka zwanzig Schritt Entfernung ein mit frischen Latten verschaltes Klohäuschen. Und, nein, es war tatsächlich kein Herz in die Tür geschnitten, sondern eine Mickey Mouse mit zwei runden Ohren!
Ondragon sah auf den kläffenden Hund, der immer wieder in die Leine sprang und sich dabei zu erdrosseln drohte. Geifer tropfte von seinen zurückgezogenen Lefzen auf sein schwarzes Brustfell. Blöder Köter!
Nur, warum reagierte keiner auf sein Gebell?
Er drehte sich zurück zum Haupthaus und hätte beinahe laut aufgeschrien!
Vor ihm stand wie aus dem Erdboden gewachsen ein verhutzeltes Männchen mit weißem Rauschebart und einer Pfeife im Mund; und er wirkte wie der perfekte Almöhi aus einer Werbung für Urlaub in der Schweiz. Das Einzige, was das Bild störte, war die antike Flinte, die er lässig in einer Armbeuge trug.
„Kann ich Ihnen helfen?“, krächzte der Mann und blinzelte ihn aus wässrigen Altmänneraugen an.
„Puh, haben Sie mich erschreckt, Sir!“ Leicht verlegen fuhr sich Ondragon mit der Hand durch sein nasses Haar und war froh, dass der Kerl nicht erst geschossen und dann gefragt hatte. Wie hatte er nur so unbedacht sein und hier derart plump herumschnüffeln können! Jeder wusste doch, dass mit den Einsiedlern nicht gut Kirschen essen war.
Also wenn etwas definitiv schon Ferien hat, dann mein gesunder Menschenverstand, dachte Ondragon. Ohne die Flinte aus den Augen zu lassen, entschuldigte er sich bei dem Mann: „Es tut mir leid, dass ich ohne Ihre Erlaubnis hier eingedrungen bin, Sir, das war nicht meine Absicht. Sagen Sie, sind Sie der Großonkel von Mr. Peter Parker? Ich suche ihn nämlich. Ich wohne drüben in der Lodge und würde gerne mit ihm sprechen.“
Der Alte grinste und entblößte das jahrzehntelange Fehlen eines Zahnarztes. „Ah, einer aus der Anstalt!“, sagte er trocken.
Sehr charmant. Ondragon verzog keine Miene.
„Pete is‘ …“ Der Alte wandte plötzlich den Kopf, nahm die eh schon erkaltete Pfeife aus dem Mund und brüllte den Hund an: „Schnauze, Bugs!!“ Dann spuckte er geräuschvoll aus.
Ondragon verkniff sich ein Grinsen, während er zusah, wie der verlauste Köter sich mit eingezogenem Schwanz trollte. Diese Familie hatte einen wahrlich skurrilen Hang zu Comicfiguren!
„Also, Pete is‘ nich‘ da.“ Der Alte steckte sich die Pfeife wieder zwischen die Lippen und deutete ein schiefes, unfreundliches Lächeln an.
„Tja“, Ondragon hob die Hände, „dann sorry für die Störung.“ Er wollte schon das Feld räumen, da ging die Tür vom Blockhaus auf und ein ballonförmiger Kopf mit einem jungen, breiten Gesicht und struppigen grauen Haaren schaute hinaus. Ondragon war irritiert. Ein solch junger Bursche und schon ergraut?
„Hallooo, Ooonkeel Joeeel. Woo bleibst duu?“ Die Stimme des Jungen klang ein wenig schleppend und nasal.
Zurückgeblieben, tippte Ondragon. Warum wundert mich das nicht? Er ließ seinen Blick über den schmuddeligen Einsiedlerhof wandern. Was konnte man schon vom Leben erwarten, wenn man hier draußen in der Pampa aufwuchs?
Der Alte, drehte sich zu dem mondgesichtigen Bengel um und sagte: „Momo, ich komme gleich, geh wieder rein, es regnet!“ Sein Ton war liebevoll, aber bestimmt - ganz anders, als der Ton, mit dem er anschließend Ondragon von seinem Gelände scheuchte: „Is‘ noch was, Sir?“
Nein, dachte Ondragon und wandte sich um. Besser ich verlasse diesen Hort der Fröhlichkeit.
„Schönen Tag noch, Mr. Parker.“ Schlecht gelaunt ging er den Weg zurück in den Wald.
Der Regen wurde stärker. Na klar! Und es prasselte schon deutlich lauter auf die Blätter der Farne und Bäume rings herum. Erste Windböen fegten über die Wipfel hinweg. Besorgt blickte Ondragon nach oben, doch die schwarzen Wolken waren von den Bäumen verdeckt, man konnte nur ahnen, was sich da zusammenbraute. War ein Unwetter angesagt gewesen? Er versuchte sich zu erinnern, was der Wetterbericht am schwarzen Brett an der Rezeption gesagt hatte. Keine Ahnung. War ja auch egal. Er wollte schnellstens zurück in die Lodge, wo es schön warm und trocken war.
Beinahe wäre er mit dem Kofferjungen zusammengeprallt. Gerade noch rechtzeitig sah Ondragon auf und wich aus. Pete stapfte mit tief ins Gesicht gezogener Baseballkappe voran und hatte ihn gar nicht wahrgenommen. Überrascht sahen sich beide Männer an.
„Oh hi, Mr. On Drägn. Was machen Sie denn hier draußen? Es regnet.“ Der Kofferjunge klang bedrückt, und Ondragon konnte sehen, dass er geweint hatte. Schnell wischte der Jüngere sich über die geröteten Augen.
„Pete! Gut, dass ich dich treffe. Ich wollte mit dir sprechen. Ist alles okay?“
Der junge Hillbilly nickte, machte aber weiterhin ein trauriges Gesicht.
„Ich geh nach Hause. Dr. Arthur hat mir für den Rest des Tages frei gegeben. Wegen der Sache, wissen Sie.“
Ondragon nickte mitfühlend und verschränkte die Arme vor der Brust. Ihm war kalt und seine Jacke war schon völlig durchnässt. Auch von Petes Mütze tropfte der Regen. Trotzdem, er musste mit dem Jungen reden, jetzt!
„Tja, schlimm das mit der Leiche.“ Ondragon trat zwei Schritte nach links unter einen schützenden Ast. „Weiß man jetzt, wer es ist?“
Pete schüttelte den Kopf. Er klapperte beinahe mit den Zähnen. Wahrscheinlich mehr wegen des Schocks als wegen der Kälte, dachte Ondragon und fragte weiter.
„Und wie ist die Person zu Tode gekommen?“
„Der Medical Examiner weiß es nicht genau, aber es kann sein, dass es ein Bär war. Das soll ich eigentlich niemandem erzählen. Sie behalten das doch für sich, oder?“
„Na klar, Pete. Ein Bär, sagst du?“ Unwillkürlich begann es in seinem Nacken zu prickeln. Schnell warf er einen Blick zurück auf den Weg.
„Ja, der Medical Examiner hat festgestellt, dass es eine Menge Bissspuren an der Leiche gibt.“
„Aber die könnten doch auch postmortem dazugekommen sein.“
„Postwas?“
„Ich meine, ein Tier, ein Bär, kann auch nach dem Tod der Person an dessen Leichnam geknabbert haben.“
Pete schüttelte wieder den Kopf. „Der Medical Examiner sagt, dass da auch noch andere Spuren sind, ältere. Er muss es aber erst untersuchen und er will einen Bären-Spezialisten dazuholen. Vorher kann er nichts Genaues sagen.“
„Aber trotzdem denkt er, dass ein Bär die Person getötet hat?“
Pete nickte und wischte sich erneut über die Augen. Er war total fertig, das sah man.
„Pete, ich muss dir etwas gestehen. Das mache ich aber nur, weil du mir auch ein Geheimnis anvertraut hast.“
Neugierig sah der Kofferjunge ihn an. In seinen silbrigen Blick trat ein munteres Leuchten. „Ich werde es auch ganz bestimmt für mich behalten, Mr. On Drägn. Ich schwöre.“ Er hob zwei Finger.
„Gut. Es ist nämlich so, dass ich gestern an der Stelle gewesen bin, wo du heute die Leiche gefunden hast. An der Spitze des Sees. Ich habe dort Spuren hinterlassen beim Joggen. Weißt du, ob die Polizei sie gefunden hat?“
„Ja, wenn Sie gestern Laufschuhe von Nike, Größe neun, getragen haben …“
So ein Mist, dachte Ondragon, jetzt musste er auf jeden Fall mit dem Deputy reden.
„Ja, die sind von mir. Aber von der Leiche habe ich nichts gesehen. Wo lag sie denn?“
„In dem hohen Gebüsch hinter dem Baumstamm, der über den Sumpf führt. Direkt neben dem Weg. Da war einiges plattgetrampelt.“
Da war ich doch! Warum habe ich sie nicht gesehen? „Tja.“ Ondragon verzog den Mund. „Ich habe nur etwas Seltsames gehört, aber nichts gesehen. Vielleicht war es ein Bär, vielleicht auch nicht. Ich weiß es nicht. Aber da war noch etwas anderes Ungewöhnliches.“
Aufmerksam sah Pete ihn an.
„Da war ein Netz über den Weg gespannt, dort, wo das Dickicht einen Tunnel bildet. Und in dem Netz hing ein mumifizierter Raubvogel. Irgend so ein Indianerzeugs. Hast du das auch gesehen?“
Pete regte sich nicht gleich. Dann nickte er.
„Und die Polizei?“, drängte Ondragon weiter.
Wieder ein Zögern. Dann ein Kopfschütteln.
„Du hast es abgemacht und vor den Bullen versteckt?“
Kopfnicken.
„Warum? Was hat das zu bedeuten? Hat es mit der Leiche zu tun?“
Pete biss sich auf die Unterlippe. Und erst sah es so aus, als wolle er die gleiche Unfreundlichkeit an den Tag legen wie sein Großonkel, doch dann stieß er Luft aus und nickte. „Frank sagt, ich bin ein Spinner, aber ich glaube daran!“
„An was?“
„An das Waldmonster, den Wendigo! Er war das, er hat die Person dort draußen umgebracht und aufgefressen!“
„Der Wendigo?“ Ondragon war geneigt, sich Frank anzuschließen. Pete hatte wirklich nicht alle Latten am Zaun.
Mit bebender Stimme erzählte der Kofferjunge weiter. „Der Wendigo lebt hier in den Wäldern und frisst Menschen. Er hat immer Hunger und ist ständig auf der Suche. Die Indianer hier wissen das. Sie haben Medizin, oder Zauber, oder wie das heißt, gegen ihn. Auch ich weiß, was man tun muss, damit er einen in Frieden lässt. Ich wusste nichts von der Leiche und dem Netz. Ehrlich!“
„Es ist also nicht von dir?“
„Nein.“
„Und von wem könnte es dann sein? Warum hast du es abgemacht?“
Pete sah zu Boden und zuckte mit den Schultern. Entweder er wusste es nicht, oder er wollte es nicht sagen. Nicht so wichtig. Vorerst.
„Aber es war doch bestimmt ein Bär, der die Person getötet hat.“ Ondragon blieb am Ball.
„Das glauben der Medical Examiner und die Polizei. Aber ich hab nichts gesagt. Sie glauben mir sowieso nicht. Frank schimpft immer mit mir, dass ich so ein Unsinn rede. Er lacht mich aus, nennt mich einen kreuzdummen Hillbilly. Aber das stimmt nicht!“
Ondragon schwieg einen Moment. Es musste eine vernünftige Erklärung für das alles geben. Mit ruhiger Stimme sprach er weiter: „Pete, das, was mich gestern verfolgte, hat vor dem Netz nicht Halt gemacht. Ich habe es gesehen, es war hinter mir her ohne zu zögern. Es war ganz sicher ein Bär.“
Pete ließ die Schultern hängen, als wäre er eine Marionette, der man soeben alle Fäden gekappt hatte. Müde schüttelte er den Kopf. „Oh, nein, Mr. On Drägn … glauben Sie mir, das war er …“
Er? Ondragon hatte die Faxen dicke, aber er musste sich Pete warmhalten. Er war der einzige, von dem er Informationen bekam.
„Ich war übrigens gerade bei deinem Großonkel und … wie heißt übrigens dein Bruder?“
„Momo. Eigentlich Mortimer. Aber das ist zu spießig, sagt Onkel Joel.“
„Da hat er Recht. Der gute alte Joel ist ganz schön auf Zack, was?“
„Hat er Sie mit der Flinte bedroht?“ Pete lächelte zaghaft.
„War meine eigene Schuld. Was laufe ich auch ohne Vorankündigung auf euer Grundstück. Richte deinem Großonkel bitte aus, dass es mir leid tut.“
„Geht klar. Onkel Joel ist gar nicht so böse, wie er manchmal aussieht. Er kümmert sich um uns, seit unsere Eltern gestorben sind. Da waren wir noch Kinder. Ich war elf und Momo neun.“
„Das mit deinen Eltern hat mir Frank schon erzählt“ Ondragon sah, wie beim Namen des Gärtners ein Schatten über die blassen Züge des Kofferjungen huschte. „Was ist mit ihnen passiert?“
„Ach, sie … wir lebten in der Nähe von Orr im Wald. In einer Hütte, genau wie die, in der wir jetzt leben. Und …“ Pete räusperte sich. Es war ihm offensichtlich unangenehm, darüber zu sprechen. „Nun, als ich eines Tages von der Schule nach Hause kam, … da waren sie … tot.“
„Einfach tot? Wurden sie umgebracht? Erschossen?“ Ondragons Sinn für geheimnisvolle Geschichten schlug zum zweiten Male am heutigen Tag an.
„Nein … es tut mir leid, Mr. On Drägn, aber ich muss jetzt gehen. Besser, Sie gehen auch, sonst werden Sie noch völlig nass. Bis morgen.“ Pete tippte sich an die Mütze und ging den Weg in Richtung der Blockhütte weiter.
Ondragon sah ihm nach und fühlte, wie ihm das Wasser kalt in den Kragen seiner Jacke rann. Was mochte mit der Familie Parker passiert sein? Noch ein Mord? Noch ein Rätsel? Aber das hatte bestimmt nichts mit der Leiche zu tun und konnte noch warten. Jetzt musste er zuerst seine Anwesenheit am Leichenfundort gegenüber der Polizei erklären. Er zog eine Grimasse. Sein Aufenthalt hier gestaltete sich vollkommen anders, als er sich vorgestellt hatte. Was er allerdings davon halten sollte, wusste er noch nicht.
Er betrat die Lodge wieder durch die Feuertür. In das Schloss hatte er ein Blatt Papier geklemmt, um sie von außen wieder öffnen zu können. Mittlerweile war es draußen so düster wie bei einem Weltuntergang und es goss in Strömen. In seinem Zimmer schlüpfte Ondragon aus seinen nassen Klamotten und verschwand im Bad, um eine heiße Dusche zu nehmen.
Später beim Abendessen war die Aufregung des Tages unter den Gästen noch deutlich zu spüren. Ondragon setzte sich an seinen Tisch und bestellte das Steak, leider ohne Steinpilze.
Noch während er aß, stand plötzlich Mr. Shamgood neben ihm und lächelte ihn vielsagend an. Ondragon nickte ihm zu, aß aber weiter, was bedeuten sollte, dass er ungestört bleiben wollte. Doch der Modedesigner machte keine Anstalten, wegzugehen, und nahm - ganz zu Ondragons Entsetzen - gegenüber am Tisch Platz. Demonstrativ legte Ondragon das Besteck hin, faltete die Hände und blickte Shamgood an.
„Ich war so frei.“ Shamgood deutete auf den Stuhl unter seinem Arsch und grinste sein poliertes Perlweissgrinsen. „Netter Shampoo-Duft übrigens.“
Gleich betrittst du die Welt der Schmerzen! Ondragon bezwang seinen Wunsch, dem Kerl seine gebräunte Visage zu demolieren, und lächelte stattdessen zurück. Kategorie: Wolf - ich zerfetz‘ dich, wenn du mir zu nahe kommst!
„Raten Sie doch mal, warum ich zu Ihnen gekommen bin?“ Shamgood legte geziert seine manikürten Hände übereinander. Entweder schien er die unterschwellige Warnung seines Gegenübers zu ignorieren, oder er hatte sie schlichtweg nicht verstanden.
„Keine Ahnung! Klären Sie mich doch bitte auf, Mr. Shamgood.“ Ondragon hob die Schultern und betonte bewusst seinen schwedischen Akzent. Er wollte sich von Shamgoods künstlichem Upper Eastside-Geplapper distanzieren, um eine etwaige Vertrautheit zwischen ihnen gar nicht erst aufkommen zu lassen. Der Kerl mit seinem aufdringlichen Aftershave stank ihm im wahrsten Sinne des Wortes. Finsterem Blickes taxierte er die dünne Gestalt mit dem Chemieunfall auf dem Kopf.
Shamgood grinste noch breiter und neigte sich vor, dabei sog er laut und genussvoll Luft durch die Nase ein. „Hm, das Steak duftet gut, … Sie übrigens auch.“ Er zwinkerte ihm zu, wurde dann aber schlagartig ernst. „Ich habe Sie gesehen, Mr. Ondragon. Draußen!“ Er lehnte sich wieder zurück und verschränkte zufrieden die Arme vor der Brust.
„Und?“, fragte Ondragon barsch.
„Tja, war es nicht so, dass die Polizei verboten hatte, das Gebäude zu verlassen?“
Du liebe Güte, ein Petzer! Ondragons Miene blieb versteinert.
„Was haben Sie denn draußen gemacht? Sie sahen aus, als seien Sie einer Verschwörung auf der Spur. Oder haben Sie etwas mit dem Mord zu tun? Richtig?“
Ondragon hatte nicht vor, auf diese Fragen zu antworten. Er nahm sein Besteck und aß weiter.
„Wie Sie wollen. Ich finde Ihr Verhalten höchst verdächtig, Mr. Ondragon. Kaum tauchen Sie hier auf, gibt es eine Leiche. Sie können mir viel erzählen, aber Unternehmensberater sind Sie jedenfalls nicht! Und ich denke, ich könnte Ihren Alleingang an Dr. Arthur melden. Der liebt es gar nicht, wenn seine Anweisungen missachtet werden, richtig? Er hat schon so manchen Patienten vorzeitig rausgeworfen, weil er renitent war.“
Innerlich war Ondragon kurz vorm Platzen, doch er beherrschte sich. Ein Wutausbruch vor versammelter Mannschaft würde dem Gerede über ihn nur Vorschub leisten. Er musste die Flucht antreten. Das war zwar nicht seine Art, aber im Moment die sinnvollste Taktik. Mr. Shamgood würde er sich in einer stillen Minute noch einmal vorknöpfen, wenn sie unter sich waren. Ob Amnesty International auch schwule Modedesinger vertrat?
„Sie halten sich nicht an die Golden Rules.“ Shamgood war offenbar noch nicht fertig. Anklagend fuchtelte er mit seinem Zeigefinger in der Luft herum.
Immer ruhig bleiben. Denk an etwas Schönes! Ondragon steckte sich den letzten Bissen Steak in den Mund und griff nach der Serviette. Kurz stellte er sich dabei vor, sie Shamgood ins Maul zu stopfen.
„Sie schleichen des Nachts hier im Gebäude herum und trinken Bier mit diesem“, Shamgood warf einen angewiderten Blick hinüber zu Hatchet, der gerade einen halbe Flasche Ketchup über seinem Burger leerte, „mit diesem unzivilisierten Neandertaler da und graben völlig schamlos die Damen an! Das steht so nicht in den Golden Rules!“
Jetzt reichte es! Der Kerl hatte ihm hinterhergeschnüffelt? Das sollte er lieber lassen, sonst würde es wirklich ungesund für ihn werden. Hoffentlich hatte er nicht auch seinen kleinen Einbruch in das Büro an der Rezeption beobachtet. Ondragon warf die Serviette auf den Tisch und schob seinen Stuhl zurück. Er wusste nicht, warum Shamgood Patient der CC Lodge war, aber eine Behandlung gegen manische Pedanterie und Rechthaberei würde ihm jedenfalls nicht schaden.
Im Grunde war er ja selbst schuld. Er hatte die Situation unterschätzt und sämtliche Insassen für harmlos gehalten. Er würde in Zukunft vorsichtiger agieren müssen.
„Sie sind ein sehr aufdringlicher Mensch, Mr. Shamgood. Das ist eine sehr schlechte Angewohnheit, richtig? Ich schlage Ihnen vor, Sie halten sich von mir fern.“
„Pah, wollen Sie mir drohen? Ich muss Sie warnen, ich habe mit Sicherheit die besseren Anwälte als Sie!“
Du hast ja keine Ahnung, dachte Ondragon, bei den Leuten, die ich kenne, brauche ich keine Anwälte! Er stand auf und verließ den Tisch. In der Tür zum Restaurant begegnete er Miss Wolfe. Verwundert schaute sie ihn an. „Nanu, Sie gehen schon?“
Ondragon hatte keine Lust, unter dem selbstgerechten Blick Shamgoods mit Miss Wolfe zu sprechen. Deshalb zog er sie mit hinaus auf den Flur.
„Ich musste mein Abendessen früher als gewollt beenden.“ Instinktiv warf er einen Blick über die Schulter, so als könnten Shamgoods Augen direkt durch die Wand schauen. „Ich hatte eine sehr unschöne Tischgesellschaft.“
Miss Wolfe schien immer noch nicht zu verstehen, deshalb klärte er sie auf: „Mister-Tommy- ich-mache-in-Mode war mir etwas zu aufdringlich, da habe ich die Flucht ergriffen!“
„Hat er Sie angebaggert?“
Ondragon seufzte. „Es war Liebe auf den ersten Blick.“
Miss Wolfe lächelte. „Ja, Mr. Shamgoods Charme kann Mann nur schwer wiederstehen. Er kann ganz schön aufdringlich sein.“
In der Tat! Wirft mir vor, ich belästige die Frauen, und schmeißt sich selbst ungehemmt an seine Beute ran.
„Dr. Arthur hat ihn schon mehrmals ermahnt, er solle es lassen. Wenn es Sie stört, Paul, dann sagen Sie es Sheila, die gibt die Beschwerde weiter.“
Ausgerechnet Sheila! Ondragon hob müde eine Hand. „Nein, nein, schon gut, mit dem werde ich schon fertig.“ Er blickte Miss Wolfe an. Der Hauch des Lächelns auf ihren Lippen gefiel ihm. Und überhaupt sah sie wieder ganz apart aus in ihrem grünen Angora-Pullover und dem indianischen Gürtel mit den Silberbeschlägen um die Hüften. „Wie wär‘s mit später in der Lounge? Dann können wir bei einem Golden-Rules-konformen Drink über den aufregenden Tag plaudern.“
„Gerne.“
„Schön.“ Ondragon verabschiedete sich und ging auf sein Zimmer. Nachdem er die Tür geschlossen hatte, fluchte er laut und wählte die Nummer von Deputy Hase, die er sich zuvor aus dem Internet geholt hatte. Schon nach wenigen Sekunden hatte er den leitenden Ermittler im Fall „Bärenfutter“ am Apparat.
„Deputy Hase. Wer spricht?“
Ondragon erklärte ihm, wer er war und warum er anrief.
„Und das sagen Sie mir erst jetzt?“ Hases Tonfall verriet Überraschung und Gereiztheit zugleich.
„Nun, ich habe nicht gleich daran gedacht, dass ich gestern auch an der Stelle gewesen bin.“
„Wir haben in der Tat Ihre Fußspuren gefunden, Nike, Größe neun. Ganz frisch, mitten auf dem eingedrückten Brustkorb der Leiche!“
Was? Ondragon starrte entsetzt auf seine Laufschuhe, die ganz unschuldig neben dem Schrank standen. Für einen kurzen Moment war er sprachlos.
„Können Sie mir das erklären, Mr. Ondragon?“
„Äh, bitte?“
„Können Sie mir sagen, warum Sie nicht gemerkt haben, dass Sie auf eine Leiche getreten sind?“
„Ehrlich gesagt, nein.“
„Ich glaube, wir sollten das morgen etwas genauer besprechen. Ab acht Uhr wird die Polizei wieder in der Lodge sein. Wir haben vor, alle Gäste und Angestellten zu einer Befragung zu laden. Ich schlage vor, wir treffen uns gleich nach Ihrem Frühstück?“
„In Ordnung.“
„Und bringen Sie Ihre Schuhe mit!“ Der Deputy beendete das Gespräch, und Ondragon schaltete das Handy aus. Ungläubig glotzte er auf die Schuhe. In seinem Magen rumorte es.
In die Leiche getreten! Wie um alles in der Welt hatte er das nicht bemerken können?
Dafür gab es nur eine Erklärung: Es musste während seiner bescheuerten Stampede durch das Gebüsch passiert sein, als der Bär hinter ihm her war.
Oh, Mann! Er fuhr sich durchs Haar. Ich bin abgespannter, als ich dachte.
Schwerfällig erhob er sich vom Bett, suchte eine Plastiktüte aus seiner Reisetasche und stopfte die Laufschuhe hinein. Erst als er die Tüte luftdicht verknotet hatte, stieß er den angehaltenen Atem aus. Den Leichengeruch, der zweifelsohne an den Schuhen klebte, wollte er nicht unbedingt in die Nase bekommen. Er legte das ganze Bündel in die Badewanne. Als er seinen angewiderten Blick davon abwandte und zufällig in den Spiegel schaute, seufzte er. Er sah genauso aus, wie er sich fühlte.
Mies.
Das Rendezvous mit Miss Wolfe war das einzig Erfreuliche an diesem Tag, der ja erst sein zweiter in der CC Lodge war. Sie trafen sich gegen neun Uhr abends in der Lounge und da Miss Wolfe erklärte, sie säße gerne direkt an der Bar, setzten sie sich an die Theke. Äußerst sympathisch.
Ondragon grüßte Hatchet, der sich in einer Polsterecke fläzte und Musik auf seinem iPod hörte, und bestellte beim Barkeeper einen Virgin Caipirinha. Kateri nahm ein alkoholfreies Bier aus der Flasche. Noch sympathischer.
Zuerst plauderten sie über dies und jenes, belangloses Zeug, bis sie schließlich zum zweiten Drink und „zu der Welt da draußen“ kamen. Ondragon erzählte Kateri, was er von Pete erfahren hatte, und dass der Medical Examiner annahm, ein Bär könne den Mann getötet haben.
„Das ist möglich, die kriegen schon mal einen Fressflash. Dann fallen sie alles an, was ihnen in die Quere kommt“, entgegnete Kateri gelassen.
„Gestern haben Sie noch gesagt, dass die Viecher harmlos sind.“
„Ich wollte Sie nicht verängstigen, Sie sahen schon gehetzt genug aus.“
„Gehetzt?“
Sie lächelte hintergründig.
„Dann hatte ich wohl Glück. Da war nämlich tatsächlich etwas hinter mir her, genau an der Stelle, wo Pete die Leiche gefunden hat.“ Ondragon nippte an seinem zweiten Caipi.
„Vielleicht hat der Bär gedacht, Sie machen ihm seinen für schlechte Zeiten angelegten Vorrat streitig.“
„Das klingt doch, als sei an der Bärentheorie was dran.“ Ondragon lachte. „Pete glaubt nämlich, dass es so ein Waldmonster war, das hier herumläuft. Der Wendigo, oder so ähnlich. Was für ein Schwachsinn! Der Typ hat zu viel Fantasie.“
Erst jetzt bemerkte er, dass Kateri mitten in der Bewegung erstarrt war. Die Flasche mit dem Bier hing vor ihren Lippen in der Luft. Kondenswasser tropfte auf ihren Schoß.
„Was ist?“, fragte er.
Sie blinzelte und sah ihn an. Kühle Distanziertheit und noch etwas anderes war in ihre dunklen Augen getreten. Unbehagen?
„Mit dem … Waldmonster ist nicht zu spaßen“, sagte sie aufgebracht, aber leise. „Und man sollte wissen, was man tut, wenn man seinen Namen ausspricht.“
Ondragon stellte sein Glas auf die Theke. „Jetzt sagen Sie bloß nicht, dass Sie auch daran glauben?“
„Ich bin Indianerin, mein Stamm ist hier im Norden ansässig, ich bin mit der Legende aufgewachsen. Meine Großeltern haben sie an meine Eltern weitergegeben und meine Eltern an mich. Und ich werde sie gleichfalls irgendwann einmal an meine Kinder weitergeben.“
„Die Legende vom Wendigo?“
„Schhht!“ Kateris hübsche Augenbrauen kräuselten sich missbilligend.
„Erzählen Sie mir von der Legende?“
Sie blitzte ihn an. „Wenn Sie mir versprechen, mehr Respekt vor diesem Wesen zu zeigen.“
Ondragon nickte.
„Also gut.“ Sie strich sich eine ihrer langen Haarsträhnen hinters Ohr, lehnte sich etwas vor und sprach leise weiter: „Das Wort Wendigo, Paul, stammt aus der Sprache der Anishinabe-Stämme, zu denen auch wir Ojibway oder auch Chippewa zählen, und es ist sehr alt. Die Stämme der Anishinabe hier im Norden der USA und in Kanada unterscheiden sich von denen der Irokesen in einem besonderen Punkt. Die Anishinabe haben niemals Menschenfleisch gegessen!“
„Menschenfleisch?“
„Ja, die Irokesen haben in schlechten Zeiten, in bitteren Wintern und Dürren, durchaus zu diesem Mittel gegriffen, um sich mit Menschenfleisch vor dem Verhungern zu retten. Meistens haben sie Angehörige anderer Stämme verzehrt oder Weiße, die zufällig durch ihr Gebiet zogen, besonders gerne Missionare“, hier zeigte Kateri ein wölfisches Grinsen. „Die Irokesen galten als besonders grausam. Die Anishinabe dagegen haben die Praxis des Kannibalismus‘ stets verurteilt und sich davon distanziert. Bei uns heißt es: Isst jemand Menschenfleisch, wird er zu einem Monster. Ein Geschöpf, das im Wald haust und immer Hunger leidet, also immer weiterfressen muss. Dieses grausame Wesen steht für Völlerei und Gier. Lieber würde ein Anishinabe sterben, als einen anderen Menschen essen! Aber der Wendigo ist ein Teil unserer Mythologie. Wir fürchten ihn wie einen Gott und bezeugen ihm unseren Respekt. Natürlich versuchen wir, ihm aus dem Weg zu gehen, denn, wer den Weg eines Wendigo kreuzt, der läuft Gefahr, selbst einer zu werden. Es kann jedem passieren, der allein durch den Wald läuft.“
„Und wie sieht das … äh, Ding aus? Wie ein Bär?“
„Nein, eher wie eine große Katze auf langen Beinen. Er trägt ein struppiges Fell an seinem langen, ausgezehrten Körper. Ausgezehrt ist er, weil er fressen kann, was er will, aber niemals satt wird. Und in seinem Maul hat er scharfe, gelbe Zähne und eine unnatürlich lange Zunge. Aber er kann auch andere Gestalten annehmen, zum Beispiel die eines riesigen Eisskelettes. Er ist nämlich ein Gestaltwandler.“
„So wie der Werwolf? Ich meine, ist es ein Mensch, der sich bei Vollmond verwandelt oder ist er immer ein Monster?“
„Nein, er vermag auch in Menschengestalt herumzulaufen. Aber ich denke, mit einem Werwolf kann man ihn am Ehesten vergleichen, nur dass er sich nicht bei Vollmond verwandelt. Er kann es, wann immer er will. In seiner Menschenform ist er an seinen leuchtend roten Augen zu erkennen und an seinem Herz aus Eis. Ach, und ich vergaß seine Füße, die sind dick und unförmig, ohne Zehen. Und sie brennen ihm immerzu, so dass er ganz unruhig ist. Besonders in windigen Nächten muss man auf der Hut sein, dann reist er mit dem kalten Nordwind, und eine heftige Bewegung in den Baumwipfeln heißt nicht, dass der Wind in sie gefahren ist!“ Kateri machte eine Pause und sah Ondragon eindringlich an. In diesem Moment wirkte sie unwiderstehlich anziehend. Ihre Lippen glänzten, und auf ihren Wangen lag eine erregte Röte.
„Was ist?“, fragte sie, als sie seinen Blick registrierte.
„Hmm. Wie war das? Wie wird man zu dem Monster?“
Sie beugte sich vor, bis ihre Lippen nicht mehr weit von seinem Ohr entfernt waren.
„Wenn man Menschenfleisch isst oder von einem Wendigo gebissen wird. Manchmal reicht es auch, wenn man von ihm träumt.“
Ondragon roch den Hauch ihres Parfüms. Es war zu verlockend. Er wandte seinen Kopf ein wenig und küsste sie auf die warme, weiche Halsbeuge.
Kateri schien nicht überrascht. Langsam rückte sie von ihm ab und sah ihn an. „Ich muss Sie warnen, Paul, ich bin eine Verrückte“, flüsterte sie.
„Und weshalb bin ich wohl hier und suche den Rat von Dr. Arthur?“, fragte er grinsend zurück.
„Sie leiden an einem weit kleineren Problem als ich. Glauben Sie mir, es ist besser so. Es tut mir leid, ich gehe jetzt ins Bett. Ich bin müde.“ Ihre Augen blickten kurz in die seinen und sagten etwas ganz anderes.
Zu dumm, dass sie hier in aller Öffentlichkeit waren, wenn es auch nur der eingeschränkte Kreis der Lodge war, aber die Golden Rules machten in dieser Hinsicht eindeutige Angaben: Keinen sexuellen Kontakt zum Personal oder zu anderen Patienten!
Kateri glitt von ihrem Barhocker. „Auf Wiedersehen, Paul. Bis morgen und träumen Sie mir nicht vom Waldmonster.“ Sie zwinkerte ihm zu und verließ die Lounge.
Seufzend sah Ondragon ihr hinterher. Nach wenigen Minuten stellte er sein Glas auf die Theke.
Zur Hölle mit den Golden Rules!
Er stand auf und folgte Miss Wolfe.
Hinter ihm grinste Hatchet breit.