5. Kapitel
2009, Moose Lake, Cedar Creek Lodge
Die Belehrung des Dr. Arthur über die Golden Rules hing Ondragon noch in den Ohren, als er auf sein Zimmer ging und genau das Gegenteil von dem tat, was der Psychotherapeut ihm geraten hatte. Er holte sein iPhone aus dem Tresor und loggte sich ins Internet ein. Es gab sogar ein Netz.
Sie müssen lernen, Wichtiges von Belanglosem zu trennen, Paul! Benutzen Sie so wenig wie möglich Internet und Telefon. Lassen Sie los. Vertrauen Sie ihren Mitarbeitern, Sie werden sehen, Ihre Geschäfte laufen auch ohne Sie. Und sperren Sie sich nicht gegen die Golden Rules, sie sind nur zu Ihrem Besten.
Pah!
Ondragon verdrängte die wohlgemeinten Worte Dr. Arthurs und checkte seine E-Mails. Er fand nichts Besonderes, nur eine Bestätigung von Charlize, dass sie mit den Japanern Kontakt aufgenommen hatte, und eine Nachricht von seinem besten Außendienstmitarbeiter Dietmar, der ihn über die Fortschritte bei der Lösung eines Problems der Kategorie Standard in Nahost informierte. Bei Ondragon Consulting wurden die Probleme in vier Kategorien eingeteilt: No Problem, Standard, Sherlock und Magnum. Mit der ersten Gattung befasste man sich gar nicht erst und leitete sie sofort an lokale Detekteien oder ähnliche Auftragsbüros weiter, und letztere war ausschließlich für den Chef vorbehalten.
Ondragon schaltete das Handy ab, zückte seinen Notizblock und trug sorgfältig seine Beobachtungen vom Frühstück ein. Die Struktur der CC Lodge zu durchschauen, erforderte lediglich die Skills für ein Standardproblem.
Danach zog er das Jackett aus, legte sich auf das Bett und ging im Kopf noch einmal alles durch. Dabei fielen ihm entgegen seinen Gewohnheiten die Augen zu.
Merkwürdig, dachte der letzte noch wache Teil seines Gehirns, wirkt die entspannende Atmosphäre der Lodge etwa schon? Dabei hatte er einen sechsfachen Espresso gehabt! Irgendetwas an diesem Ort machte ihn schläfrig.
Als Ondragon erwachte, sah er nach der Zeit. 12.30 Uhr. Unten gab es bereits Mittagessen, so lange hatte er geschlafen. Stöhnend setzte er sich auf. Wenn er jetzt etwas aß, würde er den ganzen Tag nicht mehr richtig wach werden. Also beschloss er, auf Sport auszuweichen. Rumhängen war nichts für ihn, und auf diese Weise konnte er wenigstens gleich das Gelände um die Lodge herum erkunden.
Er zog sich seine lange Jogginghose an, ein T-Shirt und ein Hoodie aus grauem Sweaterstoff. Am liebsten hätte er sich jetzt beim Kendo abreagiert, aber für dieses extravagante Hobby war hier kein Platz. Ondragon schloss sein iPhone in den Tresor, steckte sich den Talisman in die Tasche und einen Kaugummi in den Mund. Er nahm den Schlüssel und verließ das Zimmer. Der Flur war leer. Auf der Treppe begegnete er dem Deathmetal-Musiker.
„Hey Mann, alles klar?“, grüßte Hatchet lässig und strich sich mit einer tätowierten Hand eine schwarze Strähne aus dem Gesicht. Er sah schon etwas fitter aus als heute morgen, obwohl er immer noch seine Sonnenbrille trug.
„Logo“, entgegnete Ondragon und ließ eine Kaugummiblase platzen.
„Na dann, viel Spaß, Mann! Ich hau mich jetzt erstmal wieder ins Bett.“
„Gute Träume.“
„Klaro, man sieht sich.“ Hatchet schlurfte davon, die Ketten an seiner Hose klirrten.
Grinsend erreichte Ondragon das Erdgeschoss und ging in den Eingangsbereich. Sheila telefonierte gerade, und er nickte ihr galant zu.
Man sollte es nie aufgeben.
Draußen vor der Lodge herrschte brütende Hitze, denn der Eingang lag in der prallen Mittagssonne. Ondragon warf einen sehnsüchtigen Blick zum Mustang hinunter, folgte aber dann in lockerem Lauftempo dem Pfad, der nach rechts um die Lodge herumführte.
Haupt-und Nebengebäude waren von Büschen und hohen Nadelbäumen umgeben, welche kühle Schattenflecken auf die getrimmte Wiese warfen, die sich nun vor seinen Augen öffnete. Liegestühle und Sonnenschirme säumten die Terrasse hinter der Lodge, und einige der Gäste pflegten knapp bekleidet ihren Hautkrebs. Fehlte nur noch der Pool, dann wäre die Täuschung perfekt gewesen. Niemand würde vermuten, dass die Lodge eher Ähnlichkeit mit einer Irrenanstalt hatte als mit einem harmlosen Ferienhotel.
Ondragon erreichte das große Holzhaus, in dem die Angestellten wohnten. Es lag geschätzte zweihundert Schritte von der Lodge entfernt und blickte auf den See, dessen Oberfläche spiegelglatt war wie das Tor zu einer anderen Welt. Kein Lüftchen regte sich, und Ondragon spürte den Schweiß bereits über seinen Rücken rinnen. Hoch oben im Geäst der Bäume zwitscherten die Vögel.
Nur noch bis zum Bootshaus, dann ziehe ich eine Lage Klamotten aus, dachte er und lief auf dem Pfad weiter, der sich malerisch am Seeufer entlang schlängelte.
Als er am Bootshaus ankam, war er kaum außer Atem. Das häufige Training lohnte sich. Ondragon zog sich den Hoodie aus und band ihn sich um die Hüften. Er warf einen Blick zurück über das Wasser zur Lodge.
„Netter Ausblick, nicht wahr?“
Ungewollt fuhr er zusammen und ärgerte sich über seine mangelnde Wachsamkeit. Er hatte den Typen im Overall gar nicht bemerkt, der nun hinter dem Häuschen hervorkam und sich eine Dose Bier aus einem Sixpack griff, das in der Regetonne deponiert war.
„Auch eins?“ Der Typ hielt ihm ein kühles Bud hin.
Das Biertrinken war laut Golden Rules nicht gestattet. Ondragon überlegte nicht lange und nahm es dankend an. Zur Hölle mit den Golden Rules.
„Ich bin übrigens Frank, der Gärtner, und das ist Rumsfeld.“ Er deutete auf einen großen, wolligen Hund, der wie tot neben dem kleinen Steg im Gras lag. Auch ihn hatte Ondragon nicht bemerkt, was glücklicherweise auf Gegenseitigkeit beruhte.
„Nicht gerade ein Wachhund, was?“ Er deutete auf das dunkle Wollknäuel. „Mein Name ist Paul. Pete hat mir schon von Ihnen erzählt, Frank.“
„Pete, dieses Windei. Hat er wieder dummes Zeug gefaselt?“
„Nein, eigentlich nicht.“ Ondragon spuckte sein Kaugummi aus und öffnete die Dose. Das Zischen war Musik in seinen Ohren. Er nahm einen großen Schluck der schäumenden Flüssigkeit. „Ah, großartig!“
„Wissen Sie, manchmal erzählt der kleine Idiot seine bescheuerten Gruselgeschichten herum. Nichts Wildes, aber Dr. Arthur findet, das verängstigt nur die Gäste.“
„Ach, Sie meinen dieses Bergmonster?“ Versonnen hielt Ondragon nach dem Berg Ausschau, doch die hohen Bäume verdeckten die Sicht.
„Pah, Monster! So ein Unfug. Daran glaubt höchstens dieses Indianerpack, das sich hier ab und zu herumtreibt. Ich für meinen Teil halte das für Hirngespinste. Totaler Quatsch! Aber Pete kann es nicht lassen. Er ist halt nicht der Hellste. Lebt bei seinem Großonkel in einer Blockhütte da draußen in den Wäldern, ein echter Hillbilly. Seine ganze Familie ist nicht ganz richtig. Aber Vater und Mutter sind längst tot. Er hat noch einen Bruder, der ein bisschen plemplem ist.“ Frank drehte sich einen schmutzigen Zeigefinger in die Schläfe.
Ondragon fragte sich, was er wohl von den Gästen der Lodge hielt?
„Dr. Arthur beschäftigt Pete nur aus reiner Nächstenliebe. Der Doc ist Philosoph.“
„Wohl eher Philanthrop.“
„Hä?“
„Das heißt Philanthrop, ein Menschenfreund.“ Ganz offensichtlich war Stinkstiefel Frank das nicht, so wie er über den Kofferjungen herzog. Ondragon erinnerte sich nur ungern daran, dass er gestern nicht anders über ihn geurteilt hatte.
„Von mir aus. Auf jeden Fall sollten Sie nicht alles glauben, was der kleine Spinner den ganzen Tag verzapft.“ Der schrullige Gärtner schüttete den Rest seines Bieres in sich hinein und rülpste. Mit der formvollendeten Grazie eines Bauarbeiters zerdrückte er die Dose und warf sie in einen Eimer, der schon mehrere leere Hülsen enthielt. Es schepperte laut in der sommerlichen Stille.
Ondragon beschloss, das Thema zu beenden. Er trank seine Dose aus, bedankte sich bei Frank und setzte sich wieder in Bewegung.
Wie weit es wohl war, wenn man um den ganzen See herum lief? War das überhaupt möglich, oder hörte der Weg irgendwo auf?
Mitten im Laufen drehte er sich um und rief: „Ach, äh, Frank, wie weit ist es einmal um den See?“
„So fünf bis sechs Meilen. Aber nach der Abzweigung zum Mount Witiko wird es etwas unwegsamer.“
„O.K., danke.“ Ondragon drehte sich wieder um.
„Aber brechen Sie sich ja nicht die Gräten. Ich habe nämlich keine Lust, Sie mit dem Boot irgendwo abzuholen! Und Paul, wenn Sie einem Bären begegnen, nicht weglaufen, das reizt die Biester nur!“
Ondragon hob eine Hand und lief weiter.
Frank hatte Recht, nach einer halben Meile zweigte der gut ausgebaute Wanderweg rechterhand ab. Ein braunes Schild mit der typisch gelben Beschriftung der State Park Verwaltung wies den Mount Witiko nach Osten mit zwölf und den Trailhead in die andere Richtung mit fünf Meilen aus. Dabei hatte er gestern auf seiner Fahrt hierher gar kein Hinweisschild gesehen. Wahrscheinlich lag der Startpunkt der Wanderstrecke irgendwo versteckt an der Forest Route zur Lodge. Unter den beiden Schildern war ein drittes angenagelt. In krakeligen Buchstaben war bear’s den, Bärenhöhle, darauf gepinselt worden.
Ondragon ließ sich nicht davon abschrecken und schlug den Trampelpfad ein, der sich an das Ufer des Sees schmiegte. Bären waren hier nichts Ungewöhnliches, dies war schließlich eines der größten ausgewiesenen Schutzgebiete, die es über die ganzen USA verteilt gab.
Allmählich fand er seinen Rhythmus, obwohl er ständig über Wurzeln oder Steine hinwegspringen musste, aber sein sportlicher Ehrgeiz war geweckt. Normalerweise lief Ondragon seine Fünf-Meilen-Runde auf dem asphaltierten Weg entlang der Strandpromenade zwischen Santa Monica und Venice. Die Strecke dort war eben und gleichmäßig und ohne Steigungen oder andere Überraschungen; ganz anders der holperige Trampelpfad, der vor ihm lag. Waldläufe waren etwas Seltenes für ihn, denn wo in L.A. gab es schon Wald? Außerdem war Wald Natur, und Natur stellte für Ondragon einen beinahe lebensfeindlichen Ort dar. Dass er hier in der abgelegenen Lodge gelandet war, hatte nur etwas damit zu tun, dass sie abgelegen war und er seinen Ruf zu schützen hatte. Für das Leben, das er führte, brauchte er die grelle und betonharte Umarmung der Stadt, ihren hektischen Atem und die flimmernden, bunten Lichter in der Nacht. Nur in der Stadt war er unbesiegbar.
Natur war nett zum Anschauen. Aber nett war ja auch der kleine Bruder von scheiße.
Obwohl, wenn er sich recht entsann, gab es da doch etwas. Natürlich konnte man die Natur ab und zu auch gut benutzen, um mit ihrer Hilfe gewisse Probleme zu lösen - leicht kompostierbare Probleme.
Ondragon genoss die ungewohnte Umgebung, ließ sich darauf ein. Er spürte seinen Atem im Einklang mit seinen Bewegungen fließen. Das Geräusch der Luft, die in seine Lungen hinein-und wieder herausströmte, mischte sich mit dem gleichmäßigen Trab seiner Schritte und dem melodischen Stimmen der Singvögel.
Eine ganze Weile lief er so, ohne über etwas Spezielles nachzudenken. Ein seltener Zustand. Der Pfad verlief die meiste Zeit im Schatten der Bäume. Nur, wenn das schmale Band einmal näher an das schilfbewachsene Ufer ausscherte, traf Ondragon die helle Hitze der Sonne in den Rücken. Umso erfrischender war es, kurz darauf wieder in das kühle Dunkel des Waldes abzutauchen.
An einer Stelle mit einem unheimlich aussehenden, abgestorbenen Baum hing ein weiteres Schild mit bear’s den darauf. Ondragon blieb kurz stehen und blickte in die Richtung, in die es zeigte. Ein kaum erkennbarer Pfad lief direkt in einen sehr finsteren Teil des Waldes hinein und verschwand zwischen rauen Fichtenstämmen und einigen rundlichen, moosbewachsenen Felsen, die sich an einer leichten Anhöhe auftürmten wie die Steinmurmeln eines Riesen. Diese Abzweigung würde er ein anderes Mal erkunden, vorher aber besser jemanden danach fragen. Nicht, dass er tatsächlich einen Bären aufschreckte, der dort seine Höhle hatte.
Ondragon blickte zurück über den See. Die Lodge war nicht mehr zu sehen. Zu viele kleine baumbewachsene Inseln verdeckten den Ufereinschnitt, an dem die Gebäude lagen. Er setzte sich wieder in Bewegung und erreichte wenig später den nördlichen Scheitelpunkt des Sees. Die Hälfte hatte er geschafft. Er fand einen umgekippten Baumstamm über eine sumpfige Stelle, durch die ein kleines Bächlein leise plätschernd in den See floss, und war mit drei Sätzen auf der anderen Seite, wo ihn der Wald mit deutlich dichterem Unterholz empfing. So dicht, dass der Pfad gerade mal als schmaler Durchlass zwischen den Blättern und Ästen zu erkennen war. Ondragon musste beim Laufen mehrere Male Zweige aus dem Weg schlagen, um sie nicht ins Gesicht zu bekommen. Eher ein Wildwechsel, denn ein Wanderweg, dachte er und kam aus dem Rhythmus. Solche Hindernisse war er nicht gewohnt, aber sie trainierten die Geschicklichkeit. Einmal blieb er jedoch an einer versteckten Fußangel hängen und wäre beinahe gestürzt. Fluchend fing er sich wieder und verlangsamte sein Tempo.
Gerade noch rechtzeitig. Sonst wäre er geradewegs in das nächste Hindernis gestolpert. Abrupt verharrte Ondragon.
Wer zum Teufel spannte mitten in der Wildnis Schnüre über einen Weg?, dachte er gereizt. Schwer atmend ging er einen Schritt nach vorn und betrachtete das seltsame Gebilde. Mehr, als dass er es sah, fühlte er, wie sich eine Wolke vor die Sonne schob und es schlagartig düster im Wald wurde. Selbst das Vogelgezwitscher verstummte. Wie in einem schlechten Horrorfilm. Blairwitch Project oder so was.
Ondragon schnaubte verächtlich.
Ein schlechter Scherz! Was anderes konnte es nicht sein.
Er streckte einen Finger aus und berührte den halb verwesten Greifvogel, der eingewickelt in ein Stück Fell in einem riesigen Spinnennetz hing. Das Netz entpuppte sich bei näherem Hinsehen als sorgfältig geknüpftes Flechtwerk aus groben Bindfäden.
Aber was machte es hier mitten über den Pfad gespannt? Und was sollte das mit dem Vogel? Der hatte sich mit Sicherheit nicht von selbst darin verfangen und war dann verendet. Ondragon zog den Finger von dem Kadaver zurück, der sanft im Netz wippte, und rümpfte angewidert die Nase. Weiße Maden krochen aus dem halb verfaulten Schädel des Bussards, oder was auch immer das für ein Vogel war. Ein strenger Geruch nach Wildtierurin drang von jenseits des Netzes herüber. Die Sonne versteckte sich noch immer hinter einer Wolke.
Ein plötzliches Knacken in der Stille des Waldes ließ Ondragon aufhorchen. Er wandte sich um, konnte jedoch außer dem übermannshohen Gestrüpp und dem schmalen Pfad nichts erkennen.
Noch ein Knacken, dem ein merkwürdig hohles Klopfen folgte, als wenn jemand mit einem Stock auf einen Baumstamm schlug.
Da war doch jemand!
„Hallo!“, rief er, fest entschlossen, sich nicht verarschen zu lassen. Wer auch immer diesen derben Scherz hier mit ihm trieb, er würde schon noch merken, dass er das falsche Opfer war. Mit Paul Ondragon legte man sich nicht an.
„Sehr witzig, du Komiker, komm raus!“
Statt einer Antwort knackte es wieder. Diesmal näher.
Auf dem Pfad kam etwas auf ihn zu. Doch Ondragon konnte nicht ausweichen, denn das Netz und dichtes Gestrüpp versperrten ihm den Weg. Er könnte sich natürlich quer durch die Büsche schlagen, aber dazu hatte er wenig Lust.
„Na, los, zeig dich, Witzbold!“, rief er drohend.
Wieder ein Knacken und ein heimliches Rascheln. Er nahm eine Bewegung der Zweige keine zehn Schritte von ihm entfernt wahr und versuchte in dem dichtbelaubten Geäst etwas auszumachen.
Dann hörte er wieder das hohle Klopfen und ein Seufzen. Gegen seinen Willen breitete sich eine Gänsehaut auf seinem Rücken aus. Erneut fluchte er leise. Warum ließ er sich durch diesen offensichtlichen Scherz aus dem Konzept bringen?
Er war einfach nicht auf seinem Terrain, wo er seine Stärken ausspielen konnte. Wütend ballte er seine Hände zu Fäusten.
„Na warte, dir polier‘ ich mächtig die Fresse, wenn ich dich kriege!“ Er wollte gerade entschlossenen Schrittes auf das Geräusch zugehen, da wehte ihm ein stechender Gestank nach Tierpisse entgegen. Angewidert stieß Ondragon Luft durch die Nase aus, nahm aber neben dem beißenden Uringeruch noch etwas Anderes wahr.
Etwas undefinierbar Wildes.
Der Geruch wurde stärker, beinahe unerträglich.
Vielleicht ist es ein Bär, dachte er halbwegs alarmiert und sein Zorn, den er eben noch verspürt hatte, verebbte.
Auf jeden Fall muss ich hier weg, bevor das Vieh meinen Weg kreuzt. Wahrscheinlich befinde ich mich gerade auf seiner Lieblingsroute! Ondragon fackelte nicht lange. Er ignorierte das verstärkte Prickeln in seinem Nacken, wandte sich wieder dem Netz zu und bahnte sich mit seinen Armen einen Weg durch das Gestrüpp links davon. Hätte er eine Machete gehabt, wäre das ein leichtes Unterfangen gewesen. So aber kämpfte er mit aller Kraft gegen die elastischen Zweige an, die nach seinen Augen schlugen und ihm das Gesicht zerkratzen. Es war vollkommen absurd, und während er sich mühsam voran arbeitete, um hinter dem Netz wieder auf den Pfad zu gelangen, sah er sich selbst, wie er im Gebüsch um sich schlug wie eine außer Kontrolle geratene Motorsense. Er verfing sich mit seinem Hoodie an einem Ast und zerrte daran. Das Prickeln breitete sich vom Nacken über seinen ganzen Rücken aus, aber er wagte es nicht, sich umzudrehen. Endlich bekam er den Hoodie frei und setzte sein fieberhaftes Gewühle fort. Nur noch zwei Armlängen zähes Buschwerk trennten ihn vom Pfad. Ondragon spürte seine Arme ermüden, riss aber weiter an den Zweigen. Das Joggen hatte ihn mehr Kraft gekostet, als er gedacht hatte. Blätter flogen und Äste knackten. Es war verrückt. Er benahm sich wie ein Depp! Hoffentlich war das hinter ihm wirklich ein Bär und nicht doch jemand von der Lodge, der ihn nachher vor der versammelten Mannschaft lächerlich machte.
Ondragon brach auf den Pfad hinaus wie ein verschrecktes Reh. Blätter im Haar und Striemen im Gesicht. In seinem Hirn brannte ein einziger Gedanke. Er musste sich vergewissern! Mensch oder Tier?
Er wirbelte herum und warf einen wilden Blick hinter sich. Irgendetwas Großes rumorte in dem Gebüsch, aus dem er gerade hervorgekommen war, und brachte das geflochtene Bindfadennetz zum Vibrieren, erweckte den toten Vogel darin grotesk zum Leben. Ondragon blinzelte.
Blitzte da graues Fell durch die Blätter? Zottige Haare? Eine Tatze?
Er blinzelte erneut … dann rannte er los. Kümmerte sich nicht um seine müden Glieder und flog mit beinahe übermenschlichen Schritten vorwärts den Pfad entlang. Der abartige Geruch begleitete ihn. Eine Meile, zwei Meilen.
Ondragon preschte durch den Wald wie ein panischer Gaul, spürte seine Lunge protestieren und die Muskeln in seinen Beinen brennen, als fließe Säure statt Blut durch seine Adern. Gehetzt sah er sich immer wieder um, doch da war nichts.
Vor ihm wurde der Pfad allmählich breiter, und das Unterholz wich wadenhohen Heidelbeersträuchern und Gras, das in saftigen Büscheln auf dem lichtbesprenkelten Waldboden wuchs. Der See zu seiner Linken glänzte idyllisch im Sonnenschein, als sei nichts gewesen. Eine Handvoll Wildenten schnatterte einträchtig vor sich hin. Alles schien sommerlich ruhig.
In Rekordtempo und mit kreischender Lunge erreichte Ondragon schließlich das Gelände der Lodge. Am Rand der getrimmten Wiese blieb er stehen, stützte sich auf seine Oberschenkel und rang nach Luft. Jogginghose und T-Shirt klebten ihm schweißnass am Körper. Seine schönen, weißen Schuhe waren völlig verdreckt.
Was zur Hölle … war das gewesen?
Selbst seine Gedanken kamen abgehackt wie sein Atem.
Er hatte die Nerven verloren. Eine Reaktion, die er bisher für unmöglich gehalten hatte. Dabei war er schon in weitaus lebensgefährlichere Situationen geraten: Ins Sperrfeuer der Mafia zum Beispiel, oder ins Fadenkreuz eines indischen Profikillers. Aber das war alles in der Stadt gewesen, auf seinem Terrain. Nicht draußen im Wald! Ondragon spuckte aus. Wenigstens gab es keine Zeugen. Was würden seine Klienten dazu sagen, wenn sie wüssten, dass er vor einem flohverseuchten, nordamerikanischen Schwarzbären - den er noch nicht einmal richtig gesehen hatte - davonlief wie Forrest Gump.
Scheißwald!
Das Schwindelgefühl legte sich allmählich, und jeder schmerzende Zoll seines Körpers lechzte nach Wasser, aber Ondragon war unfähig, sich zu bewegen.
„Na, haben wir es ein bisschen übertrieben?“, hörte er unvermittelt eine Frauenstimme neben sich fragen.
Dreck klebte in seinem Gesicht, und mit Sicherheit bot auch der Rest von ihm einen jämmerlichen Anblick, trotzdem zwang er sich, aufzusehen.
Es war die rätselhafte Frau vom Frühstück. Sie trug jetzt ein hellblaues, figurbetontes T-Shirt, das ihren dunklen Teint hervorhob, und eine weite, weiße Leinenhose. Ihre mandelförmigen, schwarzen Augen blickten ihn direkt an. So direkt, dass ihm ganz anders wurde.
„Puh, ja. War ein bisschen anstrengend. Bin um den ganzen See gelaufen“, erklärte er leichthin. Seine Stimme klang dennoch belegt.
Sie musterte ihn. „Wohl eher einmal durch die Hölle und zurück?“ Ein trockenes Lächeln erschien auf ihrem anziehend fremdartigen Gesicht.
„Wenn Sie mit der Hölle den Wald meinen“, er wischte sich über das Gesicht und fingerte ein Blatt von der Stirn, „dann haben Sie Recht!“
„Naturliebhaber?“
„Lassen Sie mich kurz überlegen. Äh, nein.“ Er wagte ein erstes Lächeln; Kumpel-Kategorie. Nur nichts überstürzen. Langsam ging es ihm besser und er konnte sich ganz aufrichten. Stöhnend streckte er sich. „Jetzt ‘ne Dusche und ein Mineralwasser!“
Die Frau betrachtete ihn noch immer mit seltsam verschleiertem Blick. Ihr Gesicht verriet nicht im Geringsten, was sie dachte.
Ondragon spürte Verlegenheit in sich aufsteigen und war überrascht. Es war lange her, dass ihn die Anwesenheit einer Frau verlegen gemacht hatte. Normalerweise war er derjenige, der cool operierte.
„Ich bin Paul Ondragon“, stellte er sich vor, um den Anflug von Unsicherheit im Keim zu ersticken, und streckte ihr seine Hand hin.
Ihre Hand fühlte sich erstaunlich kühl an, was wahrscheinlich daran lag, dass er total überhitzt war.
„Kateri Wolfe.“ Sie entblößte makellos weiße Zähne.