33. Kapitel

 

2009, Moose Lake, Cedar Creek Lodge

 

Bevor Ondragon zu Dr. Pollux ging, machte er sich einem Plan für den Tag. Jetzt, da er die geheimen K-Akten kannte, ergaben sich völlig neue Gesichtspunkte, und die musste er sorgfältig gegeneinander abwägen. Er wandte sich von dem großen Spiegel neben seinem Bett ab, mit dessen Hilfe er sich ein Bild von seiner Stirnverletzung gemacht hatte. Sie sah wirklich nicht gut aus und hatte auch noch begonnen, dumpf zu pochen. Sheila würde wohl doch Hand anlegen müssen. Mit säuerlicher Miene ging er durch das Zimmer und dachte nach. Deputy Hase würde er erst informieren können, wenn ein Irrtum seinerseits vollkommen ausgeschlossen war. Auf keinen Fall wollte er sich bei dem Jungsheriff durch übereilte Panikmache lächerlich machen. Das hieß aber auch, dass er auf weitere Informationen von Charlize warten musste. Und die würde er nicht vor heute Nachmittag bekommen. Er sah auf die Uhr. Zehn vor elf. Er musste sich auf den Weg machen. Nach dem Termin bei Pollux würde er sich darum kümmern, herauszufinden, wer ihm dieses nette Indianer-Souvenir auf das Kopfkissen gelegt und den Brief verfasst hatte. Natürlich ging er vorerst davon aus, dass es sich dabei um ein und dieselbe Person handelte. Grübelnd verließ er sein Zimmer und schloss die Tür ab, wobei sein Berliner Talisman leise klingelte.

Während er die Stufen ins obere Stockwerk hinaufstieg, kam Ondragon eine Frage in den Sinn. Wusste Pollux von Dr. Arthurs K-Patienten? Wenn ja, dann deckte er ebenso die Verbrechen wie der Doc. Er nahm sich vor, dem Arzt aus der Schweiz auf den Zahn zu fühlen.

Pünktlich wie immer betrat er dessen Behandlungszimmer, das er am Tag zuvor schon in Augenschein hatte nehmen können. Es unterschied sich von dem Büro Dr. Arthurs in einem wesentlichen Punkt. Dr. Pollux schien den für ihn landestypischen Wert auf geleckte Sauberkeit zu legen. Oder, um es mit anderen Worten zu sagen: Sein Zimmer war vom Boden bis zur Decke phobikerfreundlich eingerichtet. Kühle, glatte Oberflächen aus Edelstahl und Plastik, wohin man schaute; mikroskopisch staubfreie und hochfunktionale Möbel in weiß und grau, ohne jeglichen Hauch von Gemütlichkeit. Selbst die rustikalen Baumstammwände, die überall das Innere der Lodge prägten, waren hier mit Rigipsplatten und Tapete verkleidet. Kein Bild hing an der Wand, kein persönlicher Gegenstand war zu sehen. Ondragon kam sich vor, als beträte er ein keimfreies Labor, fehlte nur noch, dass ihn Dr. Pollux in einem gelben Schutzanzug á la Outbreak erwartete. Er setzte sich auf einen der Stühle vor dem Glasschreibtisch. Der Stuhl war dasselbe Neurotiker-Modell wie bei Dr. Arthur, nur, dass Ondragon sich in dessen Büro deutlich wohler gefühlt hatte.

„Wie geht es Ihnen, Paul?“, fragte Pollux mit einem leichten Schweizer Akzent. Auch er hatte auf eine vertrauliche Atmosphäre bestanden und redete ihn mit Vornamen an.

„Gut, soweit.“ Ondragon zuckte mit den Schultern. „Außer, dass mich das Gerede um den Kannibalen-Mörder, der hier im Wald herumläuft, etwas beunruhigt.“

„Kannibalen-Mörder? Wer sagt das denn? Ich dachte, es sei ein Bär gewesen.“ Dr. Pollux runzelte die glatte, hohe Stirn, die umkränzt wurde von kurzem, dunkelbraunem Haar. Ondragon betrachtete den Mann genau. Leichte Geheimratsecken verstärkten den Eindruck, der Kopf des Schweizers bestünde nur aus Stirn und sehr viel Denkmasse dahinter. Brainbug! Das war aber auch schon das Bemerkenswerteste an Pollux. Ansonsten war er der reinste Durchschnitt und so nichtsagend wie seine Möbel.

„Das wird hier so getuschelt“, antwortete Ondragon schließlich. „Ich weiß auch nicht, wer das mit dem Kannibalen behauptet hat, aber sicher ist doch, dass da ein Toter im Wald lag.“

Pollux lächelte beschwichtigend. „Und da lag er wohl auch schon länger. Ganze vier Monate, habe ich gehört. Seien Sie unbesorgt, die Polizei wird schon herausfinden, was passiert ist.“ Er verschränkte die Hände auf dem Tisch. Ondragon war enttäuscht, Pollux hatte keinerlei Regung bei der Nennung des Wortes Kannibale gezeigt. Entweder war er ein guter Schauspieler, oder er wusste tatsächlich nichts von Dr. Arthurs ungewöhnlichen Schützlingen.

„Wir wollen uns jetzt auf Ihre Familien-Aufstellung vorbereiten, Paul“, fuhr Pollux fort, „dafür sollten Sie für einen Moment vergessen können, was hier im Haus so an Schauermärchen herumgeistert. Oder glauben Sie an einen Kannibalen-Mord?“

„Nein, nicht wirklich.“

„Also gut.“ Pollux zückte einen Fragebogen und begann mit seiner Anamnese für die kommende Therapie. Ondragon hörte mit den Händen im Schoß zu und beantwortete geduldig jede Frage. Die Praktik der Familien-Aufstellung war ihm von Anfang an suspekt gewesen, denn die Methode hörte sich doch sehr nach Hokuspokus an. Die Chance, bei einer Wahrsagerin und ihrer Glaskugel ein glaubwürdiges Ergebnis zu bekommen, erschien ihm wesentlich wahrscheinlicher als das hier. Aber trotz seiner Skepsis hörte er dem Schweizer Arzt zu.

„Sind Sie bereit, Paul?“, fragte Pollux am Ende des Gesprächs.

Ondragon nickte, und Pollux erhob sich mit zufriedener Miene. „Dann bitte ich jetzt die Stellvertreter rein, oder? Keine Angst, es sind alles Angestellte der Lodge. Keiner von ihnen weiß etwas von Ihrem Problem, und nichts, was hier drinnen gesprochen wird, wird diesen Raum verlassen.“ Er wies auf die beiden weißlackierten Türen; die eine führte in den Flur und die andere wahrscheinlich in einen Nebenraum. Genau diese war es auch, die sich nun öffnete, und fünf Frauen und fünf Männer in den Raum einließ. Sie setzten sich auf eine Reihe Neurotiker-Stühle an der Wand gegenüber dem Schreibtisch, ohne ihn anzublicken. Es wirkte wie eine Gegenüberstellung bei der Polizei. Ondragon erkannte ein paar Gesichter, aber zu seiner Erleichterung war ihm keiner von den Angestellten näher bekannt.

„So, wir beginnen jetzt. Paul, bitte wählen Sie sich einen Stellvertreter für Ihren Vater aus, sagen Sie ihm, wie er heißt und wie alt er ist und führen Sie ihn an einen Punkt in diesem Raum, von dem Sie denken, dass er zu Ihrem Vater passt.“

Ondragon war sich zwar noch immer nicht sicher, ob es sinnvoll war, sich auf das hier einzulassen, ging aber auf einen der Männer zu, nahm ihn bei der Hand und stellte ihn gleich vor den Schreibtisch. Ja, das passte zu seinem Vater - immer beschäftigt. Dann wiederholte er das Ganze mit seiner Mutter und postierte sie mit dem Rücken zu seinem Vater mit Blick auf die Gruppe.

„Gut, und nun wählen Sie noch einen Stellvertreter für sich selbst, Paul.“ Dr. Pollux stand entspannt da und beobachtete seinen Patienten, der einen jungen Mann in Krankenpfleger-Kleidung auserkor und ihn neben seine Mutter stellte. Aber mit einem Abstand von einer Armeslänge dazwischen.

Als er fertig war, schob Dr. Pollux Ondragon sanft an den Rand. Er klatschte einmal in die Hände und sagte „Bitte“. Was danach geschah, konnte Ondragon im Nachhinein nur als eine Art Puppenspiel mit lebendigen Menschen beschreiben, bei dem eine unsichtbare Macht die Figuren bewegte. Dr. Pollux war dabei nicht mehr als ein Moderator, der die Stellvertreter geleitete. Er verschob Ondragons Vater neben die Mutter, die daraufhin betroffen zu Boden blickte. Auch der Vater schaute zu Boden auf die gleiche Stelle.

Unheimliche Stille herrschte in dem Raum, während Dr. Pollux Ondragons Stellvertreter auf den Boden vor die Eltern legte. Scheinbar ungerührt hoben sie ihren Blick. Pollux nickte. Ondragon verstand gar nichts.

Dann ließ Pollux den Stellvertreter Ondragons wieder aufstehen und sich neben Vater und Mutter stellen. Alle drei schauten nun in Richtung der Gruppe der restlichen Teilnehmer. Pollux nickte erneut. Er ging zu Ondragon und fragte leise: „Ich habe Sie das schon vorhin gefragt, und Sie haben es verneint. Aber schauen Sie, es sieht ganz danach aus, als ob es in Ihrer Familie doch einen ungewöhnlichen Todesfall gegeben hat.“

Ondragon starrte den Arzt an. Es hatte ganz sicher keinen solchen Todesfall gegeben. „Ich habe wirklich keine Ahnung, wovon Sie reden. Tut mir leid.“

„Verstehe. Dann versuchen wir es mit etwas anderem.“ Pollux ging zu der Gruppe und wählte einen weiteren Mann aus, der sich vor den anderen drei Stellvertretern auf die Erde legen musste. Augenblicklich ging ein Ruck durch Vater und Mutter, sie bewegten sich, gingen zu dem Liegenden und hoben wie im Gebet die gefalteten Hände vor den Mund. Der Sohn stand weiterhin wie erstarrt, seine Hände tief in die Hosentaschen.

Skeptisch sah Ondragon zu. War das seriöse Psychotherapie?

Pollux ging zu Ondragons Stellvertreter und führte ihn neben seine Eltern. Alle drei blickten nun auf den Liegenden hinab und nach einer Weile atmeten sie plötzlich erleichtert auf. Es war ein schwaches Geräusch, man konnte es mehr fühlen als hören, aber dennoch schwebte es mit deutlicher Präsenz im Raum. Pollux legte einem nach dem anderen eine Hand auf die Schulter, dabei murmelten Mutter und Vater leise ein Wort, das Ondragon nicht verstehen konnte. Auch hier nickte Pollux wieder verständnisvoll und sah seinen Patienten dann ernst an

„Es verhält sich wie folgt, Paul.“ Er machte eine gewichtige Pause. „Es gab definitiv einen Todesfall in Ihrer Familie, das ist sicher. Doch seitdem haben Sie und Ihre Eltern nie wieder darüber gesprochen. Ihre Eltern kennen die Person, die ums Leben gekommen ist, und halten ihr Andenken weiterhin hoch. Allein von Ihnen kommt die Ablehnung, nur von Ihnen wurde die Person aus ihrer Familie verdrängt und ausgeschlossen. Ich sage Ihnen, Paul: Holen Sie diese Person zurück in Ihr Herz, zurück in Ihre Gedanken! Dann sind Sie in der Lage, Ihr Problem zu verarbeiten. Holen Sie den Toten zurück, geben Sie ihm, was ihm zu Recht gehört: Einen Platz in Ihrer Familie.“

Zum ersten Mal zutiefst verunsichert in seiner eignen Wahrnehmung, sah Ondragon Dr. Pollux an. Das alles war doch ein fauler Zauber. Warum wollte Pollux ihm einen Todesfall andichten? Und woher sollten diese fremden Menschen hier in diesem Raum wissen, was in seiner Familie vorgefallen ist? Das war unmöglich. Alles bloß Show. Er zögerte.

Pollux blickte ihn sanft an. „Ich sehe, dass Sie sich noch immer dagegen wehren, Paul. Hören Sie, ich sage Ihnen jetzt den Namen und die Stellung der verstorbenen Person, und dann können Sie mir immer noch sagen, ob ich mich irre, oder?“

Ondragon presste die Lider aufeinander. Seine Augen brannten, und sein Schädel fühlte sich an, als fuhrwerkte jemand mit einem Püriergerät darin herum. Das hier war schlimmer als jede Hypnose! Wie sollte er aus dieser Situation nur herauskommen, ohne wie ein kleines Kind einfach davonzulaufen? Er öffnete die Augen wieder und nickte gequält langsam.

Pollux lächelte verständnisvoll, lehnte sich dann mit auf dem Rücken verschränkten Armen vor und flüsterte: „Der Name ist Per Gustav und er ist Ihr Bruder. Ich wage sogar, zu behaupten, dass es Ihr Zwillingsbruder ist!“

Es fühlte sich an wie ein mächtiger Kinnhaken. Ondragon taumelte und ging zu Boden. Tonnen von Büchern krachten von den Regalen und begruben ihn unter sich.

Stille.

Und dann ein Schrei. Es war seine Mutter!

„Per! Oh, mein Gott, Per!“

 

 

Anette Strohmeyer - Ondragon 01 - Menschenhunger
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