7. Kapitel
2009, Moose Lake, Cedar Creek Lodge
Kateri Wolfes Lächeln war schwer zu interpretieren. Wie eigentlich alles an dieser Frau. Ihre undurchschaubare Aura weckte Ondragons Neugier. Mit einem kurzen Blick auf ihre Hände vergewisserte er sich, dass sie keinen Ehering trug.
„Wie lange sind Sie denn schon hier, Mrs. Wolfe?“
„Miss Wolfe“, korrigierte sie ihn. „Ich bin seit drei Wochen in Dr. Arthurs Obhut.“
Obhut. Wie das klang.
„Ich bin erst gestern Abend angekommen“, gab Ondragon an. War ja nichts Verfängliches.
„Ich weiß.“ Sie legte ihren Kopf schief. Dabei fiel ihr das schwarze Haar über die Schulter. Sie sah bezaubernd aus. „Ihnen gehört der Mustang.“ Ohne Wertung.
„Stimmt.“ Ondragon grinste.
„Mir gehört der Prius.“
Oh, je.
„Haben Sie auch Angst vorm Fliegen?“ Ihre Stimme klang eine Nuance weicher.
„Ich? Nee. Ich hatte einfach nur Lust, mit dem Auto zu fahren, die Pferdchen mal so richtig laufen zu lassen.“
„Von L.A. bis hierher?“
„Woher wissen Sie, dass ich aus L.A. komme?“
Wieder ein undurchschaubares Lächeln. „Hat sich herum gesprochen. Das geht hier schnell.“
Shamgood!, tippte Ondragon. Oder Sheila?
„Die vier Tage, die ich bis hier herauf gebraucht habe, waren so etwas wie ein kleiner Urlaub.“ Er fragte sich, warum Miss Wolfe hier in der Cedar Creek Lodge war. Sie war ganz eindeutig kein Mitglied der High Society. Da war er sich sicher. Und das war auch der Punkt, der sie von all den anderen hier unterschied, warum sie so fehl am Platze wirkte. Sie war weder hip noch it, sie war ein Zivilist, ein Outsider. Nur, wie bezahlte sie dann ihren Aufenthalt hier? Er blickte auf den silbernen Anhänger an ihrer Halskette. Er hatte die Form einer Feder. Indianerschmuck? Der Name Wolfe würde dazu passen.
„Und Sie? Woher kommen Sie?“, versuchte er, hinter ihre Herkunft zu kommen.
„Ich bin aus Minneapolis“, antwortete sie nach einigem Zögern.
„Also fast eine Einheimische?“
Ein Nicken. Schüchtern oder bewusst distanziert? Ondragon wurde nicht schlau aus ihr.
Noch nicht. Er schnalzte leise mit der Zunge.
„Ich brauche dringend was zu trinken. Was halten Sie davon, unsere Unterhaltung heute Abend beim Dinner fortzusetzen?“ Es war sonst nicht seine Art, so schnell zur Sache zu kommen, aber die Frau gefiel ihm, und was gab es hier sonst schon großartig zu tun? Irgendwie musste man sich ja die Zeit vertreiben. Und ein Rendezvous war alle mal besser, als Wettrennen mit Bären zu veranstalten.
„Tut mir leid, aber heute Abend nehme ich an dem Ausritt teil, der alle zwei Wochen organisiert wird. Wir reiten zum Mount Witiko, machen dort ein Barbecue nach Western Art und kommen erst in der Nacht wieder.“
Ungewollt lief Ondragon ein Schauer über den Rücken. Im Dunkeln da draußen? Er warf einen kurzen Blick zurück auf den Pfad, der sich zwischen den Bäumen verlor.
„Aber im Wald gibt es doch Bären. Ist das nicht gefährlich?“, fragte er halb im Scherz.
Ein wohlklingendes Lachen war die Antwort. „Mr. Ondragon, Sie sind wirklich kein Naturmensch!“
Was war so lustig an seiner Frage gewesen?
„Bären gehen Menschen aus dem Weg. Es sind eher scheue Tiere.“
Das hatte er bis vorhin auch gedacht.
„Kommen Sie doch mit. Es ist bestimmt noch ein Platz frei.“
Ondragon hob beide Hände. „Nein, danke. Das ist nichts für mich.“ Nicht, dass er nicht reiten konnte. Er konnte vieles, was aber nicht bedeutete, dass er es gerne tat. Sein Können war seine Lebensversicherung. Aber allein der Gedanke, auf dem Rücken eines Pferdes zu sitzen, brachte ihm unangenehme Erinnerungen ein: Lybien, am Tor zur Sahara, auf der Flucht vor einer Horde mordlustiger Beduinen, die alles andere als gut auf Gaddafi zu sprechen waren. Zwei Wochen Staub und Schmerzen. Eine Erfahrung, die ihm beinahe das Leben gekostet hätte. Das war vor fünf Jahren gewesen, danach hatte er beschlossen, seinen ersten Außendienstmitarbeiter einzustellen.
„Schade.“
Klang das etwa enttäuscht? Oder war sie nur höflich?
„Vielleicht ein anderes Mal“, lenkte er ein. „Viel Spaß bei Ihrem Ausritt, Miss Wolfe. Und passen Sie auf sich auf!“ Ihm war nicht wohl dabei, aber er wollte sich nach ihrer offensichtlichen Belustigung auch nicht die Blöße geben und behielt seine unheimliche Begegnung am anderen Ende des Sees für sich. Irgendjemand von der Lodge würde ja wohl ein Schießeisen mit in den Wald nehmen.
Kateri Wolfe nickte erneut, verabschiedete sich und ging zur Terrasse hinüber. Ondragon sah ihr einen Moment nach, bewunderte ihren selbstbewussten Gang und betrat die Lodge durch den Haupteingang.
Sheila hing tief über den Tresen gebeugt und studierte ein Schriftstück, als sei sie kurzsichtig.
„Ihr Termin mit Dr. Zeo ist in einer halben Stunde, Mr. Ondragon!“, mahnte sie, ohne aufzusehen.
Mist, das hatte er glatt vergessen! Dankbar für diesen mit Sicherheit äußerst wohlgemeinten Hinweis, beeilte er sich, in sein Zimmer zu kommen. Zwei Sekunden später hatte er sich seiner verschwitzten Klamotten entledigt und stand wohlig seufzend unter dem heißen Wasserstrahl der Dusche.
Als er sich um kurz vor drei Uhr ein Stockwerk tiefer begab, warf er zufällig einen Blick aus dem Fenster des Treppenhauses und sah Pete neben seinem Mustang stehen. Beinahe zärtlich strich der Hillbilly über die mit matter Folie beklebte Motorhaube. Ondragon musste grinsen. So ungefähr hatte er auch ausgesehen, als er und sein Auto sich das erste Mal begegnet waren. Er nahm sich vor, später noch einmal mit dem Kofferjungen zu reden. Vielleicht wusste er ja, was da im Wald vor sich ging.
Das Behandlungszimmer der Spezialistin für Persönlichkeitsstörungen lag am Ende des Flurs im ersten Stock des Westflügels, und Ondragon betrat es pünktlich auf die Sekunde.
Dr. Zeo war eine schmale Frau in den Vierzigern und ihr chinesisches Blut verlieh ihr eine alabasterne Attraktivität, die sie jedoch bewusst ungeschminkt ließ und mit sachlicher Kleidung zu verschleiern suchte. Sie begrüßte ihren neuen Patienten und führte ihn zu zwei bequemen Sesseln, die mit den Rückenlehnen zum Fenster standen. Nachmittäglich eingefärbtes Sonnenlicht fiel ungehindert in den phobikerfreundlich eingerichteten Raum, den die Klimaanalage angenehm kühl hielt. Sie setzten sich, und Dr. Zeo begann ohne Umschweife eine Liste von Fragen zu stellen, die sie säuberlich abhakte. Es war ein Test, der Ondragon aber keine Probleme bereitete. Die Fragestellung war lange nicht so abstrakt wie die von Dr. Arthur.
Nachdem sie die Liste durchgearbeitet hatten, folgte ein vertrauliches Gespräch, wobei Dr. Zeo erwähnte, dass sie den von Ondragon vorab gelieferten Lebenslauf studiert habe und sich daraus einige etwas tiefergehende Fragen ergäben. Ondragon beantwortete auch diese bereitwillig, obwohl sie sehr intim waren und er sich irgendwie ertappt vorkam. Was hatte sein Sexualleben mit der Therapie zu tun? Und warum war es wichtig, zu wissen, ob er schon einmal einen Menschen getötet hätte?
„Das ist notwendig. Machen Sie sich keine Sorgen, Mr. Ondragon.“ Sie hatte sein Unbehagen durchaus erkannt. „Das alles bleibt unter uns. Sämtliche Daten über unsere Patienten behandeln wir äußerst diskret.“
„Wo lagern Sie denn diese Daten, wenn ich fragen darf?“ Er wollte diese Gelegenheit nutzen, um herauszufinden, wo die eigentlichen Informationen über die Insassen zu finden waren.
Da Dr. Zeo nicht gleich antwortete, fügte er hinzu: „Ich möchte lediglich sicherstellen, dass mein Aufenthalt hier einer gewissen Sicherheitsstufe unterliegt. Meine Klienten dürfen nicht das Geringste davon wissen, und meine ‚Feinde‘ erst recht nicht, wenn Sie verstehen, was ich meine.“
„Natürlich, Mr. Ondragon. Aber ich kann Ihnen versichern, dass die Daten gut aufgehoben sind.“
„Werden sie verschlüsselt? Lagern die Festplatten in einem Safe?“
Dr. Zeo nickte bei beiden Fragen. Okay.
„Ist der Safe hier in der Lodge?“
„In einem Raum mit Überwachung und Alarmanlage!“
„Gut, jetzt kann ich wieder ruhig schlafen.“
Dr. Zeo lächelte. „Sie sind nicht der einzige Sicherheitsfanatiker hier. Auch wir haben einen Ruf zu verlieren. Unsere Angestellten werden regelmäßig auf Zuverlässigkeit geprüft. Wenn etwas an die Öffentlichkeit dringt, gehen wir dem sofort nach und untersuchen den Fall. Gibt es ein Sicherheitsleck, wird es unverzüglich geschlossen.“
„Heißt, der Mitarbeiter wird entlassen.“
„Richtig.“
„Und wie verhindern Sie es, dass dieser Angestellte möglicherweise seinen Frust ablässt und im Nachhinein weitere Details verrät?“
„Sie lassen aber nicht locker, Mr. Ondragon!“
„Das ist mein Beruf.“ Er hob die Schultern und machte ein unschuldiges Gesicht. „Allen Eventualitäten auf den Grund zu gehen.“
„Ihre Liebe zum Detail ähnelt sehr meinem Betätigungsfeld. Sie hätten Psychoanalytiker werden sollen.“
Ondragon lächelte. Er war viel mehr als das: Er war Psychoanalytiker, Wirtschaftswissenschaftler, Ausnahmeathlet, Fachmann für Völkerverständigung, Entsorgungsspezialist und Geheimagent in einem.
Dr. Zeo kam auf das Thema zurück. „Jeder Angestellte unterschreibt mit seinem Arbeitsvertrag eine rechtlich verbindliche Einwilligung, die ihn dazu verpflichtet, auch nach seiner Entlassung absolutes Stillschweigen über alle Belange der Lodge zu behalten. An diese Einwilligung wird er durch einen dezenten Hinweis erinnert, nämlich dass er von einem von uns speziell beauftragten Unternehmen beobachtet wird und etwaige Versuche, Kapital aus Insiderinformationen zu schlagen, strafrechtlich verfolgt werden.“
„Ah, so. Und die Gäste? Wie verhindern Sie, dass einige von ihnen zufällig aufgeschnappte Begebenheiten ausplappern?“
„Deswegen wird von uns auch darauf hingewiesen, gegenüber den Gästen die privatesten Dinge besser für sich zu behalten. Sie haben doch die Golden Rules gelesen.“
„Jepp.“
„Na, dann wissen Sie ja Bescheid“, beendete Dr. Zeo die Sitzung, erhob sich und führte Ondragon zur Tür.
„Und wann erfahre ich jetzt, ob es noch andere ‚Ichs‘ von mir gibt?“, fragte er mit einem charmanten Lächeln.
„Das wird Ihnen morgen Dr. Arthur mitteilen.“
Ehe er es sich versah, stand er im Flur, und die Tür schloss sich hinter ihm mit einem bemüht freundlichen „Angenehmen Tag noch.“
Holla! Die war aber nicht gerade erbaut gewesen von seinen Fragen zur Sicherheit. Augenscheinlich ein sensibles Thema.
Da es nur noch ein paar Minuten bis zum Abendessen waren, beschloss Ondragon, direkt ins Restaurant zu gehen. Er war neugierig, wohin man seinen Tisch verfrachtet hatte. Außerdem hatte er mittlerweile einen Mordshunger.
Carlos, der Chefkellner, führte ihn zu seinem Tisch, der lediglich ein paar Meter weiter geschoben worden war, nur dass sich jetzt eine Säule und eine Holzskulptur als Sichtschutz dazwischen befanden. Erfreut ließ Ondragon sich auf dem Stuhl nieder und bestellte eine klare Tomatensuppe als Vorspeise und als Hauptgang zarte Hühnerbrust in Estragonjus mit Wildreis und einem kleinen Salat dazu.
Als die Suppe kam, betrat Mr. Shamgood das Restaurant. Ondragon sah, wie der Modedesigner missfällig das Gesicht verzog, als er bemerkte, dass sein Tisch nicht mehr neben dem seinen stand. Er setzte sich und warf ihm einen tödlich beleidigten Blick zu.
Ondragon freute sich innerlich, aß seine Suppe und beobachtete die sechs weiteren Gäste. Der republikanische Politiker dinierte in Gesellschaft der dicken Filmdiva, der blonde Preppy aus Europa hackte mit dem Fischmesser auf seine Forelle blau ein, als sei das arme Wassertier daran schuld, dass er hier sein musste, und der Maklertyp nahm manierlich seine Nudeln zu sich. Neu waren ein distinguierter Herr mit geröteten Händen, von dem Ondragon annahm, dass er Chirurg war, und ein durchtrainierter Typ in Tennisschuhen, an denen noch roter Sand klebte. Ondragon kannte ihn: Thomasz Viktory, Nummer elf in der Weltrangliste. Ein erfolgreicher tschechischer Tennisstar, der in Florida lebte, und bei dem er sich jedes Mal fragte, ob der Name echt war oder nur ein Fantasieprodukt.
Als Ondragon den Hauptgang serviert bekam, erschien noch ein überaus gepflegter Herr Mitte Vierzig, der in Fragen modischer Eleganz sogar ihn selbst noch in den Schatten stellte. Seine dunklen Haare waren so exakt geschnitten, als hätte der Friseur eine Schablone benutzt, und sein italienischer Anzug saß absolut perfekt. Als der Mann sein Glas anhob, um mit spitzen Lippen einen Schluck Mineralwasser zu trinken, blitzte eine goldene Rolex unter der linken Manschette hervor. Ganz eindeutig Banker.
Beruhigt schob sich Ondragon eine Gabel mit Hühnchen in den Mund. Am Morgen war er sich nicht so sicher gewesen. Der Typ sah nach hohem Tier aus, Manager, CEO oder etwas in der Art. Jemand, der potentiell einer seiner Klienten hätte sein oder einen seiner Klienten hätte kennen können. Denn es war ja durchaus möglich, dass etwaige Kunden von Ondragon Consulting auch diese Anstalt aufsuchten. Aber als Banker war der Kerl völlig ungefährlich, denn für Kreditinstitute arbeitete er grundsätzlich nicht. Doch eines war merkwürdig an dem Mann. Ondragon schaute genauer hin. Etwas stimmte mit seiner Kleidung nicht. Nur … was?
Dann fiel es ihm auf. Der Anzug und das Hemd des Mannes hatten keine Knöpfe. Was sollte denn das? Eine Knopfphobie?
Ondragon zuckte mit den Schultern und gönnte sich zum Nachtisch eine kleine Auswahl handgemachter Petits Fours, die Carlos ihm auf einem Silberteller anbot. Zwar aß er sonst kaum Süßigkeiten, aber dafür hatte er heute schließlich das Mittagessen ausfallen lassen.
Während er die köstlichen Spezialitäten genoss, betrat ein erstaunlich gut gelaunter Charlie Bloom mit den drei Models das Restaurant. Sie waren in ein offensichtlich erheiterndes Gespräch vertieft und nahmen gemeinsam an Charlies Tisch Platz. Es war nicht zu übersehen, wie sehr die drei Mädels den Schauspieler anhimmelten.
Ondragon tupfte sich mit der Serviette die Lippen ab und erhob sich. Leider blieb der ominöse Gast Nummer Zwanzig noch immer ein Phantom. Ob der alle Mahlzeiten auf dem Zimmer einnahm? Nun ja, vielleicht litt er unter extremer Paranoia oder war einfach nur unglaublich schüchtern. Ondragon schmunzelte in sich hinein. Mit einem Kopfnicken in Richtung des Chefkellners verließ er den Lakeview Salon.
Er blickte auf seine Armbanduhr. Acht Uhr abends. Am verlassenen Empfangstresen vorbei ging er nach draußen. Es war noch immer herrlich warm, und die Sonne tauchte die Landschaft in abendlich warmes Licht. Nachdem er einen kritischen Blick auf seinen Mustang geworfen hatte, schlenderte er um das Gebäude herum auf die Terrasse, wo er sich an einem der Teakholztische in der Sonne niederließ. Er wollte noch eine Weile die Abendstimmung genießen, während er im Kopf seinen nächtlichen Erkundungsfeldzug plante.
Ein Räuspern ließ ihn seinen Blick von der herrlichen Aussicht auf den See abwenden.
„Hej hej, ich habe gehört, Sie sind auch Schwede.“ Der junge Europäer stand neben seinem Tisch und sah ihn durch seine Ray Ban an. Er hatte Schwedisch gesprochen.
Ondragon überlegte kurz, ob er darauf antworten sollte, oder ob er so tun sollte, als hätte er ihn nicht verstanden. Er seufzte innerlich. Es schien schwerer als gedacht, seine privaten Dinge für sich zu behalten.
„Wieso auch Schwede?“, fragte er schließlich auf Englisch zurück.
Selbstsicher hob das Bürschchen ihm die Hand entgegen. „Ich bin Johan Norrfoss aus Stockholm.“
Ondragon ergriff die Hand nur widerwillig. „Paul Ondragon - und nein, ich bin kein Schwede.“
„Aber Tommy, ähm Mr. Shamgood, sagte, Sie seien aus Schweden.“
„Das haben Sie dann wohl falsch verstanden.“
Norrfoss runzelte verwirrt die Stirn. Ondragon entschloss sich, ihm eine ausgedachte aber plausible Information zu präsentieren, dann wäre er ihn vielleicht schnell los.
„Ich bin US-Bürger.“ Tatsächlich besaß er einen gefälschten US-Reisepass, den er aber nur außerhalb der Staaten benutzte. „Meine Mutter ist allerdings Schwedin, sie ist ‘72 eingewandert.“ Er drehte den Spieß um. „Norrfoss? Etwa das Energieimperium, das mittlerweile in ganz Europa Atomkraftwerke betreibt?“, fragte er auf Schwedisch.
„Ja, aber wir investieren auch in Wasserkraft und andere alternative Energieanlagen. Mein Großvater hat das Norrfoss Unternehmen 1937 gegründet, und mein Vater hat es ‘79 übernommen, seit den Neunzigern sind wir eine Aktiengesellschaft und expandieren von Skandinavien nach Europa“, leierte Norrfoss herunter, als hätte er die Firmengeschichte eingeprügelt bekommen.
Ondragon nickte. Norrfoss AB war bekannt dafür, dass sie überalterte Reaktoren betrieben und das noch als umweltfreundlich bezeichneten. Aber diese Reaktoren hatten die Lizenz zum Gelddrucken, egal, welches Sicherheitsrisiko sie darstellten. Die Familie Norrfoss musste unglaublich reich sein. Ondragon hoffte, dass ihn niemals die Atomlobby um Hilfe bitten würde.
„Ist ganz schön langweilig hier, nicht wahr?“ Norrfoss gähnte, als wolle er seine Aussage unterstreichen. „Ich wäre viel lieber in die Cirque Lodge nach Utah gegangen, da ist die Umgebung wenigstens netter und die Gäste hipper. Das hier ist doch genau wie zu Hause. Wälder, nichts als beschissene Wälder.“ Missfällig stieß er Luft aus. „Ich habe meinem Alten gesagt, dass ich lieber nach Utah will, aber er hat mich trotzdem hier eingebuchtet. Ich solle zusehen, dass ich mein Problem in den Griff kriege, sonst würde er mich enterben. Zum Kotzen, immer muss der alte Sack sich einmischen!“
Wie ich’s mir dachte, ein reiches, verwöhntes Magnaten-Söhnchen. Und einmal läuft es nicht so, wie er es sich denkt. Ondragon verkniff sich ein abfälliges Grinsen.
„Und Sie, sind Sie freiwillig hier?“
„Wie man‘s nimmt“, entgegnete Ondragon, noch immer nicht bereit, das Gespräch zu vertiefen.
Norrfoss nickte, als verstünde er, zog mit zwei Fingern ein silbernes Zigarettenetui mit Brillanten-Monogramm aus seiner Hosentasche und zündete sich eine Lucky Strike an - bei jeder Bewegung darauf bedacht, besonders lässig zu wirken.
„Auch eine?“ Er hielt Ondragon das aufgeklappte Etui hin, doch der schüttelte den Kopf.
„Nein, danke, ich rauche nicht. Und ich würde es auch sehr begrüßen, wenn Sie es nicht ausgerechnet in meiner Nähe täten. Ich sitze nämlich hier draußen, um die frische Luft zu genießen, außerdem stehen Sie in der Sonne.“
„Oh, ich bitte um Verzeihung, ich wollte Sie nicht belästigen. Hatte nur einem Landsmann Guten Tag sagen wollen. Einen angenehmen Aufenthalt wünsche ich Ihnen noch, Herr Ondragon! Hej do!“
Der Sarkasmus in der Stimme des Schnösels war Ondragon nicht entgangen, doch er machte sich nichts daraus, er war es gewohnt, nicht von allen Menschen gemocht zu werden.
„Vielen Dank für Ihr Verständnis, Mr. Norrfoss. Wir sehen uns.“
Als der junge Schwede gegangen war, lehnte Ondragon sich zurück und schloss genervt die Augen. Wenn er weiter so unhöflich war, dann hätte er bestimmt bald viele Freunde unter den Gästen!
Mit einer Mini-Diodenleuchte und einem Spezialwerkzeug in der Tasche, das er immer dabei hatte, egal wohin er verreiste, machte Ondragon sich auf den Weg. Es war kurz vor vier Uhr nachts. Um diese Zeit schlief mit Sicherheit auch die letzte Nachteule.
Die Flure und der Treppenaufgang waren dunkel und ruhig. Ondragon trug ein dunkles T-Shirt und seine schwarze Baumwoll-Pyjamahose. Er ging barfuß. Das war am leisesten, und falls er doch erwischt werden sollte, konnte er behaupten, er wäre im Schlaf gewandelt.
Er erreichte die Lobby und lauschte kurz. Der Mond schien durch die Glasscheibe der Eingangstür und warf ein Viereck aus silbernem Licht auf den grünen Teppich. Der Elchschädel mit den ausladenden Geweihschaufeln glotzte ihn vom Kamin her mit leeren Augenhöhlen fragend an.
„Nicht weitersagen, Kumpel“, flüsterte er dem längst verflossenen Huftier zu und glitt lautlos hinter den Tresen. Sheila hatte alles ordentlich hinterlassen. Der Karteikasten war nirgendwo zu sehen, die Schubladen waren verschlossen. Ondragon zückte seine Dietrichsammlung und öffnete eine Schublade nach der anderen. Er fand einen Kalender, der nur Kürzel enthielt, eine kleine Geldkassette, Schreibzeug, Blanko-Formulare, eine Taschenlampe, Büroklammern, Locher und ein paar Low-Carb-Riegel. Der übliche Kram, nichts, womit man etwas anfangen konnte. Er verschloss die Schubladen wieder und wandte sich der Bürotür zu. In weniger als einer halben Minute hatte er das Schloss geöffnet und war im Raum. Er lehnte die Tür hinter sich an, lauschte erneut. Dann ging er zum Tresor, knipste die Diodenleuchte an und klemmte sie sich zwischen die Zähne. Die letzte Ziffer der Kombination war die Sieben gewesen. Also musste er nur noch die ersten drei herausfinden. Er fischte ein winziges stethoskopartiges Gerät aus seiner Hosentasche, steckte sich das eine Ende des Kabels ins Ohr und legte das andere auf die das kalte Metall der Tresortür. Er begann am Zahlenschloss zu drehen. Fünfzehn Minuten später öffnete sich die Tür.
„Sentry, mein Freund, ich wusste, dass wir uns verstehen!“ Ondragon leuchtete in das Innere des Tresors. Er fand den Karteikasten, einen Schlüsselbund, einen kleinen Alukoffer mit sämtlichen Gäste-Handys und das Kästchen mit den Autoschlüsseln. „Bingo!“
Zuerst nahm er sich den Karteikasten vor. Die Karten waren alphabetisch geordnet und hatten Buchstabenkürzel als Titel.
Mist! Er stellte den Kasten ab, nahm den Schlüsselbund aus dem Tresor und schlich sich aus dem Raum zum Empfangstresen. Vorsichtig öffnete er erneut eine der Schubladen, griff sich den Kalender und verschwand wieder in dem Raum. Mit der Leuchte zwischen den Zähnen fotografierte er den Kalender und die Karteikarten mit seinem iPhone. Die Kürzel und die Zeiträume würde er später in Ruhe abgleichen. ON-1, das sah er gleich, war die Abkürzung für ihn, WO-16 für Miss Wolfe und SH-2 für Mr. Shamgood. Leider war auf den Karten nichts über die Gründe der jeweiligen Aufenthalte vermerkt. Dr. Zeo hatte also Recht, die sensibleren Daten wurden woanders unter Verschluss gehalten. Das Wichtigste aber hatte er sichergestellt: Die Namen und Adressen. Damit konnte er schon viel anfangen.
Er stellte den Karteikasten zurück in den Tresor, zögerte und nahm dann das Kästchen. Mit einem leisen Schaben öffnete sich der Deckel. Vier Autoschlüssel glänzten im weißen Licht der Leuchte: Der vom Mustang, der von Miss Wolfes Prius‘, ein Chrysler-und ein Ford-Schlüssel. Mit Sicherheit von den beiden modernen Geländewagen, die auf dem Parkplatz standen. Wem sie gehörten würde sich leicht rausfinden lassen.
Ein Geräusch ließ Ondragon aufhorchen. Rasch knipste er das Licht aus. Waren da Schritte?
Nicht im Gebäude, sondern draußen.
Er verharrte regungslos, hörte aber nichts mehr. Leise schob er das Kästchen zurück in den Tresor und verstellte die Zahlenkombination, hinterließ alles so, wie er es vorgefunden hatte. Sheila sollte schließlich keinen Verdacht schöpfen.
Als er gerade den Kalender in die Schublade zurücklegte, drang erneut ein Geräusch an seine empfindlichen Ohren. Ein Scharren. Und es kam eindeutig von draußen. Jemand war an der Eingangstür. Schnell verschloss Ondragon die Schublade und schlich geduckt um den Tresen herum. Mehrere Atemzüge lang beobachtete er das gläserne Viereck in der oberen Hälfte der Tür. Nichts rührte sich. Die Zentrifuge lief.
Die Ausflugsgruppe mit ihren Pferden war längst wieder zurück, das hatte Ondragon mitbekommen. Von ihnen konnte es keiner sein. Vielleicht war es ein Zweig, der vom Wind draußen an die Hauswand geschlagen wurde. Aber waren auf dieser Seite des Gebäudes überhaupt Bäume? Ondragon versuchte sich zu erinnern. Das Schaben erklang erneut. Diesmal direkt vor der Tür.
In den Schatten des Tresens gekauert, fixierte er das vom Mondlicht beschienene Viereck. Unwillkürlich brach ihm der Schweiß aus. Zum wievielten Male an diesem Tag? Nicht zu fassen, wie ihn dieser Ort aus dem Konzept brachte. Vielleicht sollte er sich das Ganze doch noch einmal gut überlegen. Er war ja bisher trotz seines Problems ganz gut zurechtgekommen.
Plötzlich tauchte ein Schatten in dem Viereck auf, blitzschnell wie ein Zwinkern. Ein Stöhnen erklang und es rüttelte einmal kurz und heftig an der Tür. Adrenalin schoss Ondragon bis in die Fingerspitzen und er duckte sich hinter den Tresen. Dann war alles wieder ruhig. Bemüht seinen Atem kontrollierend wartete Ondragon ab. Was zum Teufel ging hier vor?
War das ein Bär? Oder ein Verletzter, der Hilfe brauchte?
Langsam schob er sich aus seiner Deckung und tastete sich an der Wand entlang auf den Eingang zu. Neben der Tür blieb er stehen und horchte. War da ein schwaches Atmen zu hören? Ondragon besann sich auf seine Coolness. Was sollte da draußen schon Bedrohliches sein? Er trat vor das Glasviereck der Tür und blickte hinaus.
Dort war nichts zu sehen, außer den üblichen Schatten der Nacht. Die Stufen vor dem Eingang waren leer, gleichfalls der Weg zum Parkplatz hinunter. Im Mondschein konnte Ondragon die einzelnen Autos erkennen. Nichts rührte sich zwischen den Bäumen rings um den Parkplatz. Er drückte gegen die Tür. Sie war verschlossen. Das Adrenalin in seiner Blutbahn ebbte ab. Er gewahrte, dass sein Atem gegen die kalte Scheibe schlug und wischte über die Stelle. Bloß keine Spuren hinterlassen. Er warf einen letzten Blick in die Dunkelheit hinaus und wandte sich dann schulterzuckend ab. Wahrscheinlich waren es wieder seine überspannten Nerven gewesen. Der Vorfall am Nachmittag hatte nicht gerade zur Verbesserung seiner inneren Ausgeglichenheit beigetragen.
„Paul Eckbert, du wirst alt. Benimmst dich immer irrationaler!“
Die Eingangstür im Rücken, verließ er die Lobby. Im Flur zu den Freizeiträumen hielt er jäh inne. Da brannte Licht! Vorhin war noch alles dunkel gewesen. Er schlich auf den rötlichen Lichtschein zu, der aus der Tür zur Lounge in den Flur fiel. An der Tür angekommen, spähte er durch den Spalt.
In der gemütlichen Sitzecke neben der Bar saß Hatchet im Licht einer Tiffany-Lampe mit Herbstmotiv und mampfte genüsslich einen riesen Teller Fritten mit Käse überbacken. Ondragon lief bei dem Geruch nach frittierten Kartoffeln das Wasser im Mund zusammen. French Fries waren eines seiner wenigen Laster. Er wusste auch nicht, wieso sämtliche Rezeptoren seines Körpers darauf abfuhren. Magisch zog es ihn in die Lounge. Er öffnete die Tür und bemühte sich, verschlafen auszusehen.
Hatchets Kopf fuhr vom Essen hoch. Wegen der Sonnenbrille konnte Ondragon nicht sehen, was der Typ dachte.
„Hey, Mann, kannste auch nicht pennen? Komm rein!“, lud der Deathmetal-Musiker ihn mit vollem Mund ein. „Auch was von den Fritten?“ Hatchet hielt Ondragon, der sich ihm gegenüber in einen der Sessel setzte, seinen Teller entgegen.
Ondragon griff zu. „Köstlich!“
„Bekomme nachts immer einen tierischen Hunger. Die in der Küche wissen das schon und stellen mir immer was hin. Rein in die Mikrowelle und fertig!“ Er griff eine Pommes vom Teller und steckte sie sich in den Mund. Käsefäden verklebten seinen sorgfältig gestylten Kinnbart. „Hatchet.“ Er streckte Ondragon eine fettige Hand hin.
„Paul.“ Ondragon schüttelte sie.
„Cooles Auto!“
Er runzelte die Stirn, dann begriff er. „Ah, der Mustang. Ja, danke.“ Wenn er gewusst hätte, dass die Karre so viel Aufmerksamkeit erregt, wäre er mit seinem Dienstwagen gekommen, einem etwas unauffälligeren Dodge Magnum. Er nahm noch eine Pommes.
Dank seiner Internetrecherche wusste er bereit einiges über Hatchet. Er kam aus Detroit, Sohn einer kinderreichen Arbeiterfamilie, hatte in seiner Jugend mit Kumpels eine Garagen-Band gegründet. Das Übliche. 2002waren sie mit einem Song über den 11. September in der Deathmetal-Szene entdeckt worden und bekamen ihren ersten Plattenvertrag. 2003 tröpfelte die erste Million ins Haus. Hatchet war der Leadsänger des Rudels ungewaschener Männer. Er spielte E-Gitarre, grunzte seine unverständlichen Texte ins Mikro und machte die Faxen auf der Bühne, wie etwa mit Kunstblut herumspritzen, sich ins Publikum stürzen, und so weiter. Vor einem Jahr hatte er sich dabei jedoch böse verletzt. Kieferbruch. Seitdem hatte er kein Konzert mehr gegeben. Gesundheitliche Probleme hieß es auf der offiziellen Webseite der Band.
„Auch Showbiz?“, fragte Hatchet zwischen zwei Happen.
„Unternehmensberatung.“
Ein Grunzen als Antwort.
Als der Teller leer war, holte Mr. Evil eine Dose Bier aus einer abgewetzten Tasche und lehnte sich zurück. Ondragon sah auf die Dose.
„Ich weiß, darf man nicht, mach ich aber trotzdem. Pete, der kleine Rocker, bringt mir immer ein Sixpack aus dem Ort mit. Ich trinke es heimlich, scheiß auf die Golden Rules!“ Er setzte die Dose an und trank sie in einem Zug leer. „Ohne Bier hat man doch gar keinen Spaß! Ist total öde hier, Mann! Nicht mal ‘ne Glotze gibt’s. Außer Fressen, Schlafen und … naja, Ficken is‘ ja nicht erlaubt. Gibt eh nicht genug Tussis hier, denen man auf die Titten glotzen kann. Entweder haben sie keine, oder sie sind über sechzig.“ Er verzog den Mund zu einem Du-weißt-schon-Grinsen. Irgendwie erinnerte der Typ Ondragon an den Gitarristen von Faith No More in seinen jungen Jahren. Kaum hatte er das gedacht, sang Jim Martin in seinem Ohr auch schon: I’m easyyyy, I’m easy like a Sunday moooorning!
„Und ich hab noch die gesamte Zeit vor mir. Das kann ja heiter werden“, winkte er schließlich resigniert ab. Die Vorstellung war wirklich nicht besonders prickelnd.
„Tja, ich bin in ein bisschen mehr als einer Woche hier raus. Der Doc hat mich wieder hinbekommen.“ Hatchet grinste.
„Glückwunsch!“
„Hatte Angst vor Menschenmassen. Seit meinem Unfall hab ich mich kaum noch auf die Bühne getraut.“
Ondragon war über die Offenheit des Musikers erstaunt und ließ ihn weiterreden.
„Die Sache hat mich übel mitgenommen. Nicht nur die Schmerzen. Auch die Angst. Weißt du, Mann“, er hob beide Hände und verkrampfte sie zu Klauen, „diese Angst macht einen fertig. Konnte am Ende nicht mal mehr auf die Straße gehen.“
„Verstehe. Das ist schlimm.“
„Die CC Lodge war meine letzte Rettung.“
Meine auch, dachte Ondragon und ihm wurde unwohl.
„Aber Dr. Arthur ist cool. Der hat echt was drauf.“
Ondragon gähnte übertrieben und streckte sich. „Nichts für ungut, Kumpel, aber ich glaub, ich geh wieder ins Bett. Ist nicht meine Zeit.“ Er stand auf, denn auf keinen Fall wollte er nach seinen Gebrechlichkeiten gefragt werden. Er bedankte sich für das Essen und verließ die Lounge. Wenig später lag er im Bett und schaltete die Zentrifuge ab.