9. Kapitel
2009, Moose Lake, Cedar Creek Lodge
Noch vor dem Frühstück setzte Ondragon die Zentrifuge wieder in Gang, zückte sein iPhone, öffnete die Bilder von letzter Nacht und trug die Namen sämtlicher Gäste und alle weiteren Informationen nach Zimmernummern geordnet in sein Notizbuch ein. Dabei stellte er zufrieden fest, dass alle seine Einschätzungen sich als richtig erwiesen.
Der schleimige Maklertyp war wirklich Immobilienmakler für Luxus-Appartements. Harvey Lyme, 44, aus NYC. Er bewohnte das Zimmer 18.
Der ältere republikanische Herr war nicht nur Politiker, sondern hatte sogar eine Amtszeit als Gouverneur von Oregon vorzuweisen; Wilbur Crane, 75, lebte in Portland und war in Zimmer 3 abgestiegen.
Die dicke Filmdiva hieß Lydia Burlwood, 65, und sie hatte noch immer eine Adresse in Beverly Hills. Sie residierte in Zimmer 11, eine der vier Suiten, die die CC Lodge zu bieten hatte.
Der Name des Latinos war Enrique Souza, und endlich fiel bei Ondragon der Groschen. Das war doch dieser Schnulzensänger aus L.A., der in den vergangenen Jahren mit einigen Hits die Charts gestürmt hat. Der feuchte Traum eines jeden Teeniegirls. Er wohnte in Zimmer Nr. 13.
Der Mann mit den roten Händen stellte sich tatsächlich als Chirurg heraus. Michail Petrowsk, 51, Russe, arbeitete aber im Saint Francis Memorial Hospital in Downtown San Francisco, Zimmer 8. Ihm gehörte einer der Geländewagen, deren Schlüssel Ondragon im Tresor gefunden hatte.
Als er weiterlas, kam er kurz ins Stocken. Mr. Terry M. Stuart, ACB Consultant, 42, aus London, Zimmer 6. War der Typ etwa doch aus seiner Branche? Doch mit wenigen Umdrehungen spielte die Zentrifuge ihm die fehlenden Informationen zu. ACB war natürlich eine Abkürzung für die All Credit Bank, und der Typ britischer Investment Banker. Also tatsächlich einer jener gewissenlosen Haifische, die Schuld an der Wirtschaftkrise trugen. Deshalb nannte er sich wohl vorsichtshalber auch Consultant, um etwaigen Anfeindungen von Seiten jener Bürger vorzubeugen, die durch die Spekulationen der Banken um ihr Vermögen geprellt worden waren.
Hinter den Namen und Zimmernummern sämtlicher Gäste ließ Ondragon noch etwas Platz, damit er den jeweiligen medizinischen Grund hinzufügen konnte, warum sich die Personen in der Cedar Creek Lodge aufhielten.
Die kryptischen Kürzel SH-2, LY-3, BL-1, NO-1, BU-4, ON-1, HA-1, VI-2, WO-18 usw. waren einfach zu deuten: Bei den Buchstaben handelte es sich natürlich um die ersten beiden Lettern der Nachnamen und die Zahlen bezifferten die Anzahl der Aufenthalte in der CC Lodge. Ein lächerlich einfacher Code. Demnach waren die drei Models und Mrs. Burlwood mit vier Aufenthalten bereits Stammgäste. Mr. Shamgood hielt sich schon zum zweiten Mal hier auf, genau wie Mr. Viktory. Lyme und Petrowsk hatten drei Aufenthalte zu verbuchen. Der komplette Rest, darunter Hatchet, Norrfoss, Crane, Charlie Bloom, Souza und er selbst, gab sich zum ersten Mal die Ehre. Das Phantom mit dem Kürzel null null-6 oder OO-6 ohne Namen und Wohnort war treffenderweise in Zimmer Nr. 20 untergebracht und hielt den Highscore mit sechs Aufenthalten …
… wenn da nicht Miss Kateri Meoquanee Wolfe wäre. 31 Jahre, Biologin, Zimmer 17.
Ondragon wunderte sich nicht nur über ihren seltsamen zweiten Vornamen. Unwillkürlich musste er schlucken.
WO-18!
Das würde bedeuten, dass sie schon achtzehnmal hier gewesen war.
Dem musste er unbedingt auf den Grund gehen. Und zwar augenblicklich!
Auf dem Flur zum Lakeview Salon begegnete er Pete, dem Kofferjungen. Der Hillbilly trug einen Weidenkorb in der Hand und griente etwas scheel.
„Guten Morgen, Mr. On Drägn! Na, schon eingelebt?“
Ondragon musste über die Art des Jungen grinsen. Er konnte nicht anders, aber irgendwie mochte er dessen gutmütig naive Art. Deshalb verzieh er ihm auch die falsche Aussprache seines Namens und antwortete: „Hi, Pete, wo geht‘s denn hin?“ Er deutete auf den Korb, der Pete wie ein überdimensionales Rotkäppchen aussehen ließ.
„Tja, ich geh jetzt in den Wald und sammle Pilze. Steinpilze und Pfifferlinge und so, Sie wissen schon. Der Chefkoch hat mich losgeschickt. Heute Abend will er was Feines daraus kochen. Steak mit Steinpilzen, glaub ich.“
„Hmm, klingt gut. Viel Erfolg beim Suchen.“ Hoffentlich kannte der kleine Spinner sich mit Pilzen auch aus, das nächste Krankenhaus war über 100 Meilen weit weg! Außerdem lief da noch dieser Bär rum. Ob er Pete warnen sollte?
Ach was, ein echter Hillbilly ging sowieso nie ohne Waffe aus dem Haus.
„Und Pete … wäre nett, wenn du mal nach meinem Auto sehen könntest, ob da alles in Ordnung ist, ja?“
„Na klar, Mr. On Drägn, is‘ doch Ehrensache. See ya.” Pete tippte sich an sein rotes Basecap und watschelte davon.
Wenig später erreichte Ondragon den Frühstücksraum und sah sofort Miss Wolfe. Sie saß wieder an ihrem Tisch am Fenster und las die Star Tribune. Er trat an sie heran.
„Guten Morgen, Miss Wolfe.“
Sie senkte die Zeitung. „Oh, guten Morgen, Mr. Ondragon.“ Das undurchdringliche Lächeln erschien auf ihren Lippen.
„Wie waren der Ausritt und das Barbecue?“
„Gut.“ Sie sah ihn einen Moment an und zeigte dann auf den freien Stuhl. „Wollen Sie sich vielleicht zu mir setzen?“ Darauf hatte er spekuliert.
„Gern.“ Er nahm ihr gegenüber Platz.
Carlos brachte ihm seinen Espresso und die Hafergrütze, zwinkerte ihm verschwörerisch zu, als Miss Wolfe gerade ihre Zeitung zusammenfaltete, und ging dann wieder an seinen Platz neben dem Eingang, von dem aus er wie ein Habicht alles im Blick hatte.
Kateri Wolfe lehnte sich vor und blickte amüsiert auf die Hafergrütze.
„Diät?“
„Nein, das esse ich jeden Morgen.“
„Aha.“
Ondragon erzählte ihr von seinem schwedischen Erbe. Das schien sie zu überzeugen.
„Und Sie, welche verborgenen Wurzeln haben Sie, Miss Wolfe?“
„Bitte, nennen Sie mich doch Kateri, alles andere ist zu umständlich.“
„In Ordnung. Dann gilt für Sie das Gleiche. Ich bin Paul.“
Wieder lächelte sie. „Um auf meine Wurzeln zurückzukommen, Paul. Wie man unschwer erkennen kann, fließt indianisches Blut in meinen Adern. Genauer gesagt, Ojibway-Blut. Meine Eltern waren beide Angehörige dieses Stammes.“
„Wieso waren?“
„Sie sind bei einem Unfall ums Leben gekommen, als ich dreizehn war.“
„Oh, das tut mir leid.“ Ondragon verfluchte sich für sein Talent, immer die brisanten Themen zu erwischen. „Sie sind also eine waschechte Native American?“ Eigentlich pfiff er auf political correctness, aber er wollte nicht noch einmal in ein Fettnäpfchen treten, außerdem hatte er als Sohn eines Diplomaten die Kunst der gepflegten Unterhaltung von klein auf eingebläut bekommen. Und gelernt war schließlich gelernt.
„Sie können mich ruhig Indianerin nennen.“ Schelmisch blitzte es in Kateris schwarzen Augen auf. „Ich habe nicht das geringste Problem damit.“
„Und haben Sie auch einen indianischen Namen?“, fragte er, obwohl er es bereits wusste.
„Ja, Meoquanee. Das heißt, wears red. Meine Eltern gaben mir den Namen, weil ich als kleines Mädchen einem Kaninchen den Hals durchgeschnitten habe und mich von oben bis unten mit dessen Blut besudelt habe.“
Ondragon hob die Augenbrauen. Kaninchen? Hals durchgeschnitten? Diese Frau schien alles andere als ein sanftmütiges Lämmchen zu sein, und er musste sich in Erinnerung rufen, dass er hier in einer psychiatrischen Klinik war.
„Verzeihung, ich wollte Ihnen nicht den Appetit verderben, Paul.“
Ondragon schüttelte sein Unbehagen ab und aß unbekümmert seine Hafergrütze weiter. Der nächste Schritt wäre jetzt gewesen, sich nach dem Grund ihres Aufenthaltes zu erkundigen, doch er ließ es und wich auf eine andere Frage aus.
„Was machen Sie eigentlich beruflich?“
„Ich bin Biologin an der University of Minnesota in Minneapolis. Zusammen mit einigen Kollegen forsche ich an einem Medikament gegen die tödlichen Folgen des Sauerstoffmangels bei hohem Blutverlust - also bei Menschen, die verbluten. Dafür untersuchen wir das hier heimische Streifenhörnchen während seines Winterschlafes. Sein Sauerstoffgehalt im Blut ist dabei extrem niedrig und trotzdem überlebt es den langen Schlaf. Wir wollen herausfinden, wie sich dieser Effekt in der Humanmedizin anwenden ließe. Wissen Sie, die meisten Patienten sterben nicht unbedingt am Blutverlust selbst, sondern am Sauerstoffmangel, der durch den Verlust entsteht. Wenn man diesen ausgleichen könnte, würde das vielen Menschen das Leben retten, die sonst bei einer Operation, einem Unfall oder durch eine Kugel gestorben wären. “
„Das klingt interessant. Forschen Sie gerne?“
„Ja, das ist sozusagen mein Erbe. Meine Eltern waren beide Wissenschaftler. Der Apfel fällt eben nicht weit vom Stamm.“ Sie lächelte verlegen. „Und was machen Sie, wenn ich fragen darf?“
„Ich habe eine Beratungsfirma, Ondragon Consulting. Wir, das heißt, meine Mitarbeiter und ich, beraten Geschäftsleute und Unternehmen weltweit.“
„Ah, so ähnlich wie die Unternehmensberater von McKinsey.“
Ondragon zögerte. Sollte er Miss Wolfe jetzt das „Programm“ seiner falschen Identität vorspielen? Oder könnte er es wagen, etwas mehr von sich zu erzählen? Er entschied sich für das „Programm“, schließlich kannte er die Frau noch nicht näher.
„In der Art. Ich habe bei McKinsey angefangen. Nach meinem Studium in Harvard bekam ich eine Stelle in Düsseldorf und bin nach Deutschland gezogen.“ Das mit Deutschland stimmte sogar, damals hatte er wissen wollen, wie es sich in dem Land lebte, dessen Botschafter sein Vater gewesen war. Dass er parallel zum MBA in Harvard noch ein Politikstudium abgeschlossen hatte, erzählte er Kateri nicht. Das wäre bloß Aufschneiderei gewesen.
Miss Wolfe legte den Kopf schief. „Warum sind Sie nicht nach Schweden zurück? Sie sind doch dort aufgewachsen, oder nicht?“
Ondragon zögerte. Jetzt war er ein wenig zu schnell vorangeprescht. Er hatte ihr gegenüber die ganze Zeit mit schwedischem Akzent gesprochen, so wie bei Norrfoss und Shamgood. Aber das war eine Tarnung gewesen, seine persönliche Geschichte ging niemanden etwas an.
Er sah in Kateris hübsch geschnittenes Gesicht. Sie erweckte nicht den Eindruck, als würde sie gleich bei der nächsten Gelegenheit alles weitertratschen, was sie über ihn erfuhr. Zwischen ihr und den anderen normalen Irren hier schien es eine unsichtbare Trennlinie zu geben. Das hatte er auch schon am Tag zuvor gespürt.
Es war total bescheuert, aber genau aus diesem Grund vertraute er ihr. Also erzählte er weiter, und das näher an der Wahrheit, als er ursprünglich beabsichtigt hatte.
„Mein Vater war Diplomat. Er lernte meine Mutter kennen, als er in der Botschaft in Stockholm arbeitete. Ich kam dort zur Welt, aber mein Vater wollte, dass ich Deutscher bin, also bekam ich einen deutschen Pass. Nach Stockholm durchlief mein Vater weitere Stationen, die alle nicht in Deutschland waren. Meine Mutter und ich begleiteten ihn - alle drei Jahre woanders hin. Ich bin also ein Diplomatenkind und in vielen verschiedenen Ländern und Städten aufgewachsen: Teheran, Nairobi, Kairo, Bangkok, Tokio.“
„Das klingt alles sehr aufregend.“
Ja, dachte Ondragon, das alles war in der Tat aufregend, aber es hatte auch dazu geführt, dass er keine richtige Heimat besaß. Er war ein Entwurzelter. Aber ausnahmsweise gab er seinem Vater dafür keine Schuld. Dass er ihn zu einem Freak gemacht hatte, dafür konnte er allerdings schon etwas! Mit Gewalt schob Ondragon seine aufwallenden Gefühle zur Seite. Das alles tat hier nichts zur Sache.
Kateri schob sich derweil eine Strähne hinter das Ohr. Sie schien lebhaft interessiert. „Meine Eltern haben mich auch immer mit auf ihre Forschungsreisen genommen. Das war spannend. Ich habe viele Länder gesehen … bis sie den Unfall hatten.“ Sie senkte den Blick, und ein Schatten flog über ihr Gesicht schwarz wie ein Rabe. Nach einer Weile sah sie ihn wieder an. „Welches Land mögen Sie am liebsten?“
„Eindeutig Japan. Es ist meine zweite Heimat nach den USA. In Deutschland habe ich es versucht, aber es hat nicht funktioniert. Die Leute dort sind zu … wie soll ich sagen, nicht verrückt genug.“
„Und die Japaner sind besser im Verrücktsein?“
„Oh, ja! Die Japaner sind das verrückteste Völkchen, das ich kenne!“
„Und warum wohnen Sie dann nicht in Japan?“
„In den USA habe ich wiederum die besten Voraussetzungen für meine Firma. In Japan oder Deutschland gibt es zu viele Einschränkungen. Ich bin aber immer mal wieder in Japan und treffe dort meine Freunde. In Deutschland bin ich seltener.“ Tatsächlich hatte er seine Eltern das letzte Mal vor 16 Jahren gesehen. Das war, als sein Vater offiziell außer Dienst ging und zusammen mit seiner Mutter endgültig nach Berlin zog.
„Vermissen Sie ihre Eltern nicht?“
„Nein.“ Ondragon legte nachdenklich den Kopf schief. War das tatsächlich so? Und warum sollte er Miss Wolfe davon nicht einfach erzählen? Er hatte schon lange nicht mehr über seine Eltern gesprochen, und vielleicht würde es ihm gut tun, wenn er die eingetreten Pfade für einen Augenblick verließ. Natürlich würde er es bei den unverfänglichen Dingen belassen. Sicher war sicher und seine Gewohnheiten sein bester Schutz. „Nun, vielleicht vermisse ich meine Mutter ein wenig“, lenkte er schließlich ein. „Zu meinem Vater habe ich nicht das beste Verhältnis. Aber meine Mutter, die war für ihre Generation schon ziemlich cool. Sie war Soldatin in der schwedischen Armee und leidenschaftliche Skilangläuferin. Ich war oft mit ihr in Schweden - öfter als mit meinem Vater in Deutschland - meistens im Winter, damit sie dort trainieren konnte. 1976 hat sie bei den olympischen Spielen in Innsbruck die Goldmedaille gewonnen. Ich war damals neun und durfte sie gemeinsam mit meinen Großeltern begleiten. Das war ein großartiger Moment. Ich war sehr stolz auf sie.“
„Das glaube ich.“ Wie aus heiterem Himmel wirkte Kateri Wolfe plötzlich meilenweit weg und zutiefst melancholisch. Erst nach einigen Minuten kam sie wieder zu sich.
„Sehr gerne würde ich noch mehr von Ihnen erfahren, Paul. Aber ich befürchte, ich muss jetzt zu meiner Sitzung bei Dr. Arthur.“ Sie schaute auf ihre Uhr und erhob sich.
„Sehen wir uns zum Mittagessen?“
Ondragon nickte und erhob sich ebenfalls.
Als Kateri Wolfe den Tisch verließ, schaute er ihr nachdenklich hinterher. Das Gefühl, dass diese Frau einen dunklen Abgrund in sich trug, war stärker als je zuvor.
Carlos trat an seinen Tisch. „Bravo! Das hat noch niemand geschafft.“
„Was?“
„Bei Miss Wolfe mit am Tisch zu sitzen.“
Verwundert schaute Ondragon den Chefkellner an.
Der hob die Schultern. „Sie ist ein wenig speziell, müssen Sie wissen.“
„Wie meinen Sie das?“
„Eigentlich darf ich ja nicht über die Gäste reden, aber Miss Wolfe ist da, glaube ich, eine Ausnahme.“ Carlos hatte die Stimme gesenkt und sich kurz umgesehen. Niemand schien sich für ihr Gespräch zu interessieren, außer Mr. Shamgood, der unentwegt zu ihnen herüber starrte, aber zu weit entfernt saß, als dass er etwas hören konnte. „Miss Wolfe ist jedes Jahr zweimal hier. Sie gehört quasi zur Einrichtung. Dr. Arthur ist so etwas wie ihr Mentor. Er kümmert sich um sie, seit sie eine Waise ist. Er war eng mit ihren Eltern befreundet.“
„Was ist mit ihren Eltern passiert?“
Carlos sah sich erneut um.
„Ein Flugzeugabsturz auf dem Kanadischen Schild, mitten im Winter. Und die kleine Kateri war mit dabei, sie überlebte als einzige. Ihre Eltern waren die Piloten der Cessna, die der Familie gehörte. Sie waren auf einer Forschungsreise in die Arktis. Nach dem Absturz hat man sie erst fünf Wochen später gefunden!“
Deshalb also die Flugangst, dachte Ondragon und pfiff durch die Zähne. „Wie hat sie das überlebt, allein im Eis?“
Carlos hob die Schultern. „Vielleicht ein Wunder? Ich weiß es nicht. Darüber wird hier in der Lodge nichts erzählt. Aber das muss alles sehr traumatisch für Miss Wolfe gewesen sein. Deshalb ist sie so oft hier. Dr. Arthur behandelt sie auf eigene Rechnung. Auf jeden Fall ist sie sehr zurückhaltend und hat eigentlich nie Kontakt zu den Gästen. Sicher, der ein oder andere hat schon mal versucht, mit ihr Kontakt aufzunehmen. Sie sieht ja auch ganz hübsch aus. Aber geschafft hat es noch keiner. Bis auf Sie!“ Er sah Ondragon anerkennend an. „Machen Sie was draus!“ Mit diesen Worten wandte sich Carlos ab und ging zu Mr. Shamgood, der schon seit einigen Minuten nach ihm winkte.
Verwundert verließ Ondragon das Restaurant, legte sich oben in seinem Zimmer auf sein Bett, steckte sich seine Kopfhörer in die Ohren und dachte über die seltsame Kateri Wolfe nach, während die entspannte Stimme von Ziggy Marley von den Leuten von Morgen sang.
Um kurz von elf Uhr machte er sich auf den Weg, den „Turm“ zu erklimmen. Vor Dr. Arthurs Sitzungszimmer wartete er einige Augenblicke, bis der Stundenzeiger seiner Uhr exakt auf der Elf ruhte. Doch als er klopfen wollte, öffnete sich die Tür und Kateri trat heraus. Sie blickte ihn lächelnd an, ließ ihn an sich vorbei durch die Tür treten und schloss sie hinter ihm wieder, ehe er etwas sagen konnte.
Dr. Arthur tippte gerade etwas in seinen Laptop, der auf seinem Schreibtisch stand, blickte dann aber auf und begrüßte seinen nächsten Patienten.
Ondragon nahm erneut auf dem phobikerfreundlichen Stuhl Platz.
„Bevor wir anfangen“, kam er dem Arzt zuvor, „ist es möglich, dass ich eine Liste der Angestellten dieser Einrichtung bekommen kann?“
Dr. Arthur klappte den Laptop zu und blickte ihn beinahe amüsiert an.
„Warum lachen Sie?“, fragte Ondragon brüsk. Der Psychotherapeut hatte etwas an sich, das ihn verunsicherte. Und es waren nicht nur diese gelben Augen.
„Ich lache nicht. Ich habe Ihre Frage nur schon gestern erwartet, Paul.“
„So.“
Dr. Arthur nickte. „Sie vergessen, dass ich mit Ihrem pathologischen Zwang, alles bis ins Detail durchleuchten zu wollen, bereits bekannt bin.“
„Ich bin kein Kontrollfreak, falls Sie das denken.“
„Nein, das denke ich nicht. Im Gegenteil, es ist eine Ihrer herausragenden Fähigkeiten, und in diesem Falle will ich eine Ausnahme machen und Ihnen die Liste geben.“
Ondragon schwieg überrascht.
„Natürlich nur unter der Voraussetzung, dass Sie die Informationen für sich behalten. Aber ich denke, da kann ich mich auf Sie verlassen, nicht wahr?“
„Selbstverständlich.“
„Bestens. Hier ist die Liste.“ Dr. Arthur zog ein Blatt Papier aus der Schublade und reichte es ihm. „Ich möchte schließlich, dass Ihre Therapie erfolgreich verläuft. Dazu gehört, dass Sie sich hier wohl fühlen. Hilft Ihnen diese Liste dabei?“
„Auf jeden Fall. Haben Sie vielen Dank.“ Ondragon faltete das Blatt und steckte es in die Innentasche seines Jacketts, das er über die Stuhllehne gehängt hatte.
„Dann können wir ja mit dem ersten therapeutischen Gespräch anfangen.“ Dr. Arthur zückte seinen silbernen Kugelschreiber. „Dr. Zeo hat Sie gestern untersucht und ist zu dem Schluss gekommen, dass bei Ihnen keinerlei dissoziative Persönlichkeitsabspaltungen vorliegen. Sie sind Sie selbst, Paul, herzlichen Glückwunsch. Das können nicht viele meiner Patienten von sich behaupten.“
Dr. Arthurs Humor war wirklich gewöhnungsbedürftig, trotzdem musste Ondragon schmunzeln.
„Vorweg möchte ich noch sagen, dass ich Ihre Leistung, mit dieser speziellen Angst umzugehen und zu leben, bewundernswert finde. Es ist wirklich erstaunlich, wie weit Sie es damit geschafft haben. Gerade im Studium stelle ich mir das besonders schwierig vor.“
„Nun, ich hatte immer jemanden, der mir geholfen hat. Und heute bereitet meine Assistentin zuvor alles für mich auf und informiert meine Klienten, in welcher Form sie mir Informationen zukommen lassen sollen.“ Auch in dieser Hinsicht war Charlize Tanaka Gold wert. Ondragon hob beide Hände. „Das ist alles bloß eine Frage der Organisation.“
„Das Leben eines Neurotikers besteht zu einhundertzehn Prozent aus Organisation! Aber wehe, es läuft etwas nicht so, wie geplant. Sind Sie spontan, Paul? Können Sie mit unerwarteten Abweichungen von Ihrem Tagesablauf umgehen?“
„Ich denke schon. Zumindest laufe ich nicht gleich Amok, wenn sich etwas in meinem Plan ändert - und das tut es oft. Ich halte mich eigentlich für recht flexibel. Sonst könnte ich meinen Job nicht machen.“
„Sie müssen sich nicht verteidigen, Paul. Sie sind hier, damit ich Ihnen helfe, und dazu muss ich Ihnen Fragen stellen. Sie dienen allein dem Zweck, Sie einzuschätzen und nicht, um Ihnen Vorwürfe zu machen. Ihre abwehrende Reaktion ist verständlich. In Ihrer Welt brauchen Sie diesen Selbstschutz, doch hier bei mir nicht. Sie müssen ehrlich zu mir sein, sonst drehen wir uns im Kreis und dringen nicht zum Kern Ihrer Angst vor.“
„Ist gut. Ich habe verstanden. Ich werde mich bemühen.“
„In Ordnung, Paul. Ich möchte nun, dass Sie die Augen schließen und an die Farbe Ihrer Angst denken.“
Ondragon beruhigte sich ein wenig, legte seine Hände locker in den Schoß und schloss die Lider. Vor seinem inneren Auge erschien das Tannengrün. Magisch, zerstörerisch, zum Kotzen! Sofort stellte sich die bekannte Mischung aus Angst und Hass wieder ein.
„Und nun sagen Sie mir - ganz spontan - wer Schuld ist an Ihrer Angst?“
„Mein Vater!“, kam die Antwort wie aus der Pistole geschossen.
„Hmmhm. Und wieso glauben Sie das?“
Während er Dr. Arthur erzählte, was für ein verkappter Sadist sein Vater gewesen war, geschah etwas Sonderbares mit Paul Eckbert Ondragon: Er begann sein anfängliches Misstrauen zur Seite zu schieben und redete zum ersten Mal im seinem Leben mit einem anderen Menschen über das Verhältnis zu seinem Vater.
Als die Zeit der Sitzung abgelaufen war, hatte Ondragon das Gefühl, hier endlich an der richtigen Adresse zu sein.
Dr. Arthur schien das zu spüren und lächelte sein joviales Buffalo-Bill-Lächeln. „Ich, denke, wir waren für’s Erste erfolgreich heute.“ Er erhob sich, und Ondragon tat es ihm gleich.
„Sie sind ein sehr rationaler Mensch, Paul, sachlich und fest in dieser Welt verankert. Das ist gut, sie schwirren nicht in einem Fantasieuniversum herum. Außerdem haben wir eine der Ursachen für Ihre Phobie bereits extrahieren können und die anderen werden wir mithilfe der Hypnose auch noch ans Tageslicht bringen. Ich bin zuversichtlich, dass wir Ihr Problem recht schnell beheben werden. Bis dahin“, Dr. Arthur breitete die Arme aus, „genießen Sie den Aufenthalt! Und sollte Ihnen noch irgendetwas dazu fehlen, geben Sie mir oder dem Personal Bescheid. Wir kümmern uns darum.“ Er zwinkerte ihm zu und ruckte sein Kinn in Richtung der Liste.
„Ja, danke, ich …“
Ein Klopfen an der Tür unterbrach Ondragon.
Dr. Arthur verzog verärgert das Gesicht. „Das ist doch …! Entschuldigen Sie bitte, Paul.“
Doch bevor er noch etwas sagen konnte, flog die Tür auf und eine aufgeregte Sheila erschien im Raum.
„Sheila! Sie wissen doch, dass Sie auf keinen Fall eine Sitzung stören dürfen! Haben Sie das etwa vergessen?“, wies Dr. Arthur die Rezeptionistin zurecht.
Ondragon sah sofort, dass etwas nicht stimmte, denn Sheila war ganz bleich.
„Dr. Arthur. Es tut mir leid, aber …“ Sie holte Luft. „Es geht um Pete!“
„Ja?“ Die Ungeduld stand Dr. Arthur ins Gesicht geschrieben.
„Er hat eine Leiche im Wald gefunden!“