44. Kapitel
2009, Moose Lake, in der Hütte der Parkers
Ondragons Magen knurrte schon wieder und zwar so laut, dass Pete es bemerkte.
„Ich hole Ihnen was zu essen“, er sprang auf und verschwand durch die Tür zum dunklen Wohnküchenschlafzimmer. Es raschelte und klirrte, und dann kam er zurück. In der Hand einen Teller mit Weißbrotscheiben und einem schmierigen Glas Erdnussbutter. Beides gab er Ondragon, der sich schnell zwei trockene Scheiben Brot reinzwang. Das musste reichen. Bevor er sich wieder dem Buch zuwandte, blickte er den Hillbilly und dessen Bruder an. Ihre blassen Gesichter wirkten sehr müde, aber in ihren Augen leuchtete wache Aufmerksamkeit. Ondragon kannte diese Art von Zustand: Todmüde, aber trotzdem vom Adrenalin gepusht. Genauso fühlte er sich nun schon seit 40 Stunden - eine Mischung, die irgendwann in einen vollkommenen Zusammenbruch münden würde.
Aber inzwischen glaubte er auch, der Lösung des Rätsels sehr nahe zu sein. Lieutenant Stafford war wie er selbst ein sehr rational denkender Mensch. Der Engländer, der mittlerweile seit über 150 Jahren tot sein mochte, hatte nur jenen Dingen Glauben geschenkt, die er mit eigenen Augen gesehen hatte. Und es schien, als habe er am Ende eine einleuchtende Erklärung für all diese seltsamen Ereignisse gefunden: die Wendigo Psychose.
Das war das Stichwort. Sofort zückte Ondragon sein iPhone. Fasziniert schauten ihn die beiden Hillbillies an.
„Sie haben ein Handy“, sagte Pete.
„Ja, aber das ist geheim!“ Ondragon suchte den Begriff Wendigo Psychose im Internet. Zum Glück gab es selbst in dieser abgelegenen Einöde einen guten Empfang. Die medialen Ausläufer der Zivilisation hatten also auch dieses einsame Fleckchen Erde längst erobert. God bless Amercia! God save the mobile phone!
Leider stand im Netz nicht allzu viel über die Wendigo Psychose zu lesen, doch das, was er fand, reichte, um sich ein konkretes Bild von dieser Krankheit zu machen. Die Wendigo Psychose war nicht vererbbar, soviel war schon mal klar, sie befiel jedoch vorzugsweise Menschen, die in der Wildnis lebten und Entbehrung und Hunger ausgesetzt waren. Die Einsamkeit schlug ihnen aufs Gemüt und der Hunger brachte sie an den Rand des Wahnsinns, was schließlich dazu führte, dass der Betroffene durchdrehte. Zum Beispiel tötete ein indianischer Trapper namens Swift Runner im Winter 1878 seine Frau und seine fünf Kinder und aß sie. In einem anderen Fall wurde 1907der Oji-Cree Jack Fiddler aufgrund mehrerer Morde verhaftet. Er war als Wendigo-Jäger bekannt und habe laut eigener Angaben vierzehn dieser Kreaturen getötet. Die letzte sei eine Cree-Indianerin gewesen, die kurz vor der endgültigen Verwandlung zum Wendigo gewesen war und ihre Kinder getötet hätte. Und das waren nur zwei der an die fünfzig historisch belegten Fälle in Nordamerika, bei denen Männer und auch Frauen unter dem Einfluss der Wendigo Psychose ihre Familie abgeschlachtet hatten. Den Namen erhielt diese seltene Geisteskrankheit von dem indianischen Legendenwesen, das die Stämme in dieser Gegend fürchteten, weil es für seinen unstillbaren Hunger nach Menschenfleisch bekannt war. In all diesen Beschreibungen fand Ondragon aber noch eine weitere, viel einfachere Bezeichnung für dieses Phänomen: das Cabinfever, auch Hüttenkoller genannt, bei dem Menschen durchdrehten, die sich zu lange in einer kleinen Hütte auf der Pelle rumsaßen.
Für Ondragon war alles klar: Momo Parker war der Wendigo Psychose erlegen. Er hatte einen Hüttenkoller bekommen und seine Eltern umgebracht. Von dieser Tat würde ihn niemand freisprechen können. Und auch wenn er jetzt friedlich wirkte, konnte der Wahnsinn jeder Zeit erneut ausbrechen. Der Junge musste in eine geschlossene Anstalt, so leid ihm das für Pete tat, aber es war die einzige vernünftige Behandlung. Ondragon klappte das Buch zu. Sie waren am Ende angekommen, zumindest folgten nach der reichlich verstörenden und für Lieutenant Stafford erstaunlich irrationalen Beschreibung der Austreibung des Wendigo-Geistes aus dem Körper des Trappers Alan Parker nur noch leere Seiten und ganz am Schluss ein seltsames französisches Gedicht:
De la glace
De la neige
La forêt
Sois sur tes gardes,
lorsqu‘elle arrive.
La peur dévore ton coeur
Tu sens ton corps refroidi.
Il est insatiable, l‘esprit de la forêt isolée.
Insatiable comme la peur.
Le Wendigo
Affamé,
glacé.
Le Mal éternel.
Aber es war in einer völlig anderen, viel ungelenkeren Schrift hinzugefügt worden und stellte nichts dar, was den Fall Momo Parker abmildern könnte.
„So, jetzt muss ich aber wirklich zurück in die Lodge“, sagte Ondragon gähnend. „Draußen wird es schon hell.“ Er sah aus dem Fenster, wo sich die ersten Silhouetten der Bäume aus dem undurchdringlichen Schwarz der Nacht schälten. „Ich muss mich beeilen, bevor noch jemand merkt, dass ich weg war.“
„Aber wir haben Momo doch noch gar nicht geheilt. Das Buch sagt uns doch, wie es geht. Wir brauchen nur noch die Zutaten.“
Ondragon legte ihm eine Hand auf die schmale Schulter. „Pete, ich befürchte, wir werden deinen Bruder nicht heilen können. Erst recht nicht mit diesem vollkommen verrückten Ritual, das Stafford in dem Buch beschreibt. Das ist lebensgefährlich und kann gar nicht klappen. Es ist reiner Aberglaube, weiter nichts. Damals haben die Menschen an solch einen Unsinn geglaubt.“
„Aber wenn es doch funktioniert hat! Das schreibt doch der Stafford. Dieser Alan Parker wurde geheilt!“
Ondragon seufzte. Wie sollte er dem Jungen klarmachen, dass das, was 1835 noch als plausible Behandlung angesehen wurde, nicht für 2009 galt. Er sah dem Hillbilly in die geröteten Augen. „Ich habe dir das mit der Wendigo Psychose doch erklärt. Dein Bruder ist krank im Geiste, und das ist nicht heilbar, zumindest kann ich das nicht kurieren. Nur ein erfahrener Therapeut kann da vielleicht was ausrichten.“
„Dr. Arthur hat Momo doch behandelt, und der ist ein guter Arzt! Wenn er Momo nicht helfen konnte, dann können es andere Ärzte auch nicht.“ Trotzig verschränkte der Kofferjunge die Arme vor der Brust.
„Wie soll ich es dir erklären, Pete. Dr. Arthur hat deinen Bruder nur benutzt, um Erkenntnisse für seine Forschungen zu erlangen.“
„Was für Forschungen?“
„Über die Kannibalen. Dein Bruder ist doch sozusagen … ein Kannibale, und das interessiert Dr. Arthur eben - nicht aber, wie er ihn heilen könnte.“
Eine einzelne Träne stahl sich aus Petes Silberblick und rann die Wange herunter. „Aber warum? Warum will Dr. Arthur ihn nicht heilen?“ Offensichtlich schien er nicht zu verstehen, welchen Ehrgeiz den berühmten Psychotherapeuten antrieb.
„Ich gehe jetzt, Pete. Versuch zu schlafen, ja? Wir sehen uns morgen.“ Ondragon stand auf und schüttelte seine Beine aus, die vom langen Sitzen kribbelten. Auch der hämmernde Kopfschmerz stellte sich wieder ein, als hätte er seine Pause beendet und mache sich jetzt wieder an die Arbeit an irgendeinem gigantischen Ambos in irgendeinem dunklen Keller. Als er an der Tür war, hörte er Pete mit düsterer Stimme sagen: „Dann mache ich es eben selbst, wenn Sie mir nicht helfen wollen! Ich werde das schon hinbekommen.“
Ondragon drehte sich um und trat ein paar schnelle Schritte auf den Hillbilly zu. „Das tust du nicht! Hörst du!“, warnte er ihn mit erhobenem Zeigefinger. „Das, was da im Buch steht, ist Quatsch, verstanden! Es ist gefährlich. Es könnte deinen Bruder umbringen! Und das willst du doch nicht, oder?“
„Ich will ihn heilen!“ Pete wich mit seinem Blick dem Zeigefinger vor seinem Gesicht aus, indem er sich hinlegte und seine Decke über die Schultern zog. Ondragon kam sich vor, als rede er mit einem uneinsichtigen Kind.
„Pete! Ich beschwöre dich. Lass es sein! Ich werde mich um Momo kümmern, wenn ich mit Dr. Arthur gesprochen habe. Versprich mir, dass du vorher nichts tust!“
„Hmmm“, brummte der Hillbilly. Es klang nicht gerade wie ein Einverständnis.
„Komm, schlag ein!“ Ondragon hielt ihm eine Hand hin, aber erst nach einer weiteren Ermunterung folgte Pete seiner Aufforderung und boxte lustlos gegen seine Handfläche.
„Gut so. Wenn alles vorbei ist, nehme ich euch beide in meinem Mustang mit. Dann machen wir eine kleine Vergnügungsfahrt, in Ordnung?“ Dass es sich dabei höchstwahrscheinlich um einen Trip nach Nett Lake auf die Polizeiwache handeln würde, ahnten die beiden natürlich nicht. Und wenigstens Momo antwortete mit einem „Au, fein“.
Ondragon wickelte das Buch wieder in die Tüte, stopfte es unter seine Jacke und verließ dann die Hütte. Er konnte nur hoffen, dass Pete sich an die Abmachung hielt. Zumindest würde es dem kleinen Spinner schwerfallen, die Zutaten für das Ritual zu beschaffen. Und solange er die nicht hatte, konnte er auch keinen Unsinn anstellen.
Wenig später lag Ondragon in seinem Bett. Das Licht des anbrechenden Morgens fiel durch die Vorhänge und trotz der Paracetamol, die er von der diensthabenden Nachtschwester bekommen hatte, hörte er, wie es in seinem glühenden Körper bedrohlich flüsterte.
Wendigo! Hunger! Fluch!
Wie auf Kommando knurrte sein Magen. Ondragon schloss seine brennenden Augen, um das aufkommende Hungergefühl zu verdrängen. Er schluckte geräuschvoll.
Hatte das Vieh auch ihn infiziert?
Würde er jetzt ebenfalls zu einer hirnlosen Fressmaschine mutieren? Und wie alt konnte ein Wendigo eigentlich werden?
Die Zentrifuge, lahmgelegt durch Pillen und Fieber, zuckte in ihrem Betäubungsschlaf kurz auf. So ein Quatsch!, sagte sie schwerfällig. Momo ist ein geistig behinderter Junge und er hat sich diese Schauergeschichte bloß ausgedacht, um einer Bestrafung durch seine Eltern zu entgehen. Das ist alles.
Er hörte, wie sein Handy piepte. Bestimmt endlich die Mitteilung von Charlize. Doch noch während Ondragon versuchte, danach zu greifen, überwältigte ihn Bruder Morpheus mit einem fachmännisch angewandten Würgegriff und zog ihn hinab in die Welt der Träume.
Dass es ausschließlich nette Träume sein würden, daran hatte sich good old Morphy noch nie gehalten.