39. Kapitel
2009, Moose Lake, Cedar Creek Lodge
Ondragon schreckte hoch. Verwirrt sah er sich um. Sein Bett war übersät mit beschriebenen Zetteln. Ein Blick auf die Uhr verriet ihm, dass es schon halb neun war.
Es klopfte an seine Tür.
„Ja?“, rief er laut, während er die Notizen zusammenklaubte.
„Mr. On Drägn? Deputy Hase ist da. Er will mit Ihnen sprechen.“ Es war Pete, das konnte man nicht überhören. „Mr. On Drägn? Der Deputy wartet unten in der Empfangshalle.“
„Ja doch, ich komme gleich!“ Ondragon erhob sich, und im selben Moment schossen ihm die Schmerzen durch den Körper. Sein Kopf fühlte sich an wie ein überhitzter Reifen kurz vorm Platzen, und seine Rippe jaulte mit jedem Atemzug auf. Na prima! Wahrscheinlich würde er sich erst von Schreckschraube Sheila verarzten lassen müssen, bevor er in der Lage sein würde, mit dem Deputy zu sprechen geschweige denn wieder da raus in den Wald gehen zu können. Er befühlte die pulsierende Beule an seiner Stirn. Eine seltsame Hitze ging von ihr aus, glühte nach innen und erhitzte seine Gedanken wie ein kaputter Heizstrahler. Stöhnend stand er auf und schaute in den Spiegel. Was er sah, erfreute ihn noch weniger. Ein aschgraues Gesicht mit einem unansehnlichen Gestrüpp aus Bartstoppeln und Falten so tief wie der Grand Canyon blickte ihm entgegen. Da musste zuerst der Renovierungstrupp ran. Ondragon ertappte sich bei dem Gedanken, wie wohl sein Bruder Per heute aussehen würde, wenn er noch am Leben wäre. So wie ich? Oder weniger verbraucht? Was wäre Per für ein Mensch? Hoffentlich ein besserer! Ondragon spürte Trauer in sich aufsteigen. Per, sein Bruder, war tot. Und nichts in der Welt würde ihn wieder lebendig machen, selbst die Therapie bei diesem Kurpfuscher nicht. Was mache ich also hier? Ondragon wischte sich eine Träne fort, die sich in seinen Augenwinkel stahl und machte sich daran, die gröbsten Schäden in seinem Gesicht zu beseitigen.
Als er wenig später das Zimmer verließ, fühlte er sich schon einen Hauch vorzeigbarer. Auch die Handvoll Schmerztabletten begann bereits Wunder zu wirken. Es lebe die Chemie!
In der Eingangshalle saßen Pete, der Deputy mit zwei seiner Gehilfen, Dr. Schuyler, Sheila und Kateri an dem flachen Tisch. Das Gasfeuer in dem Kamin flackerte gleichmäßig und das sonnige Tageslicht fiel durch die Glastür des Haupteinganges. Die Anwesenden drehten sich zu ihm um, als Ondragon zu ihnen trat und einen Guten Morgen wünschte. Der Deputy nickte zurück, er sah äußerst ungehalten aus. Seine Augen zierten hübsche Ringe in der Größe von Treckerschläuchen. Wohl nicht ausgeschlafen, was? Dr. Schuyler dagegen wirkte distinguiert wie immer, so als gäbe es für ihn keine unpassende Zeit. Auf seinem Schoß hielt er den Stahlkoffer mit den kriminaltechnischen Utensilien fest, als befände sich darin eine Million Dollar in kleinen Scheinen. Er konnte es scheinbar kaum erwarten, zur Tat zu schreiten. Auch er nickte freundlich.
Sheila indes wich Ondragons Blick aus, strich Kateri mitfühlend über die Hand und erhob sich. „Sie entschuldigen, meine Herren“, sagte sie und nahm ihren Posten hinter dem Empfangstresen ein. Lady Iceberg hatte nur allzu vertraut mit Kateri gewirkt, das war Ondragon sofort aufgefallen. Ihm war zuvor nie in den Sinn gekommen, dass die beiden Frauen befreundet sein könnten.
„Wo ist Dr. Arthur?“, fragte er, ohne sich zu der Gruppe zu setzen. Er wollte die Angelegenheit so schnell wie möglich hinter sich bringen.
Pete nahm sich der Frage an, auch er sah deutlich mitgenommen aus: „Dr. Arthur hat schon mit Deputy Hase gesprochen. Er muss seine Sitzungen für den heutigen Tag vorbereiten. Er wird nicht mitkommen.“
„Das heißt, keiner von den Verantwortlichen der Lodge will uns begleiten? Ich meine …“ Ondragon war baff. Soviel Ignoranz hätte er von Seiten der Klinikleitung nicht erwartet. „Ich meine, Mr. Lyme ist … war einer von Dr. Arthurs Patienten, schon allein das sollte ihm Verpflichtung genug sein, dabei zu sein. Er ist im gewissen Sinne für Mr. Lyme verantwortlich. Findet das niemand von Ihnen merkwürdig?“
„Nein, im Gegenteil“, entgegnete Deputy Hase. „Dr. Arthur ist genauso besorgt über diesen Zwischenfall, wie Sie, Mr. Ondragon.“
Oh ja, Dr. Arthur ist ein wahrer Gutmensch!
„Außerdem“, sprach der Deputy weiter, „ist ja Mr. Parker dabei.“
Ondragon sah entgeistert auf den Hillbilly, der nichts dafür konnte, dass man ihm diese Verantwortung aufgebürdet hatte. „Entschuldigen Sie, Deputy Hase, aber Mr. Lyme war Gast dieser Lodge und er ist ermordet worden. Erscheint es Ihnen da nicht als angebracht, dass sich jemand aus der oberen Etage darum kümmert?“
„Nicht im Geringsten, schließlich ist Mr. Parker von Dr. Arthur autorisiert worden, uns zu begleiten. Ferner möchte ich Sie darauf hinweisen, keine voreiligen Schlüsse zu ziehen. Ob Mr. Lyme tatsächlich ermordet wurde, werden wir erst noch feststellen müssen.“
„Wollen Sie andeuten, ich bilde mir das ganze nur ein?“ Ondragon war kurz davor, ernsthaft auszurasten. Waren die hier alle so blöd wie die Rindviecher, oder taten sie nur so? „Deputy, bei allem Respekt, aber Mr. Lyme wurde abgeschlachtet wie ein Mastschwein, ich habe ihn gesehen. Und es war beileibe kein schöner Anblick. Da draußen läuft ein kaltblütiger Killer rum. Und es ist, denke ich, Ihre Aufgabe, diesen zu fassen!“
„Haben Sie ihn gesehen, Ihren ‚Killer‘?“ Deputy Hase drehte mechanisch den Hals und sah ihn abschätzend an. Sein junges Gesicht wirkte dabei wie das wächserne Antlitz des Androiden Bishop aus Alien.
„Nein, natürlich nicht!“, entgegnete Ondragon aufbrausend. „Was glauben Sie? Dann wüsste ich ja, wer es ist!“
„Und Sie haben Mr. Lyme erst gefunden, als er schon tot war?“
„Nein, er war noch nicht ganz tot und versuchte, mir etwas mitzuteilen.“
„Etwa, dass es ein Monster war, das ihn so zugerichtet hat? Dr. Arthur hat mir bereits berichtet, dass Mr. Lyme deswegen bei ihm in Behandlung war. Es ist leicht, einen Bären für solch ein Monster zu halten, wenn man unter Wahnvorstellungen leidet.“
Lyme litt nicht unter Wahnvorstellungen, er wollte sich auffressen lassen!, hätte Ondragon ihm am liebsten in sein ausdrucksloses Gesicht geschrien. Er deutete ungehalten nach draußen. „Das, meine Herren, war kein Bär! Das ist so sicher wie ich hier stehe!“
„Was sicher ist, und was nicht, beurteilen wir, wenn wir den Tatort in Augenschein genommen haben. Dr. Schuyler wird den Leichnam später untersuchen, dann wissen wir mehr.“
„Warum wollen Sie eigentlich so unbedingt, dass es ein Bär war?“ Die Borniertheit des Deputys regte Ondragon dermaßen auf, dass er ihn am liebsten bei seinem roten Specknacken gepackt und ihn augenblicklich zum Tatort geschleift hätte, wo er ihn mit der Nase direkt in Lymes offene Bauchhöhle gestoßen hätte. Dann sollte dieser Schweinezüchter in Uniform nochmal sagen, dass er sich das bloß einbildete!
„Mr. Ondragon“, antwortete Hase ruhig, „ich will das nicht unbedingt, ich ziehe nur die Umstände und Tatsachen in Betracht, die wir bereits ermittelt haben.“
„Und Tatsache für Sie ist, dass es ein Bär war? Wo ist da, frage ich Sie, der objektive Blick?“ Ondragon registrierte, wie die zwei Gehilfen Hases, wahrscheinlich die beiden armen Sünder, welche die Leiche bergen mussten, dem Deputy einen Blick zuwarfen. Und als Bestätigung für seine Anschuldigung schwieg Hase mit entrüsteter Miene. Doch bevor er das Gefühl seines Sieges genießen konnte, spürte Ondragon plötzlich, wie ihn ein Schwall unerklärlicher Hitzewallungen erfasste. Schweiß drang ihm aus allen Poren und rann ihm unter seiner Kleidung den Rücken herunter. Sein ganzer Körper schien zu glühen wie ein Stein im Saunaofen. Mit einem beunruhigenden Gefühl des Schwindels fasste er sich an die Stirn.
„Ist Ihnen nicht gut?“, fragte Dr. Schuyler besorgt, als er sah, dass Ondragon leicht schwankend nach der Rückenlehne eines der Sessel griff.
„Der gestrige Tag war nicht gerade ein Spaziergang im Park“, erwiderte er ernst, verdrängte die erneut aufkeimenden Schmerzen in seinem Kopf und warf stattdessen Kateri einen durchdringenden Blick zu. Sie wirkte wie schon die ganze Zeit über abwesend und distanziert und schwieg noch immer beharrlich. Nach einer Weile wandte er sich wieder an Deputy Hase. „Sir, ich schlage vor, wir machen uns jetzt auf den Weg. Der arme Kerl liegt schon viel zu lange dort draußen. Wir sollten zusehen, ihn da wegzuholen - wenn er den Aasfressern nicht eh schon als Frühstück gedient hat.“ Bewusst hatte er seine Worte vorwurfsvoll klingen lassen. Es war ihm unerklärlich, weshalb Dr. Arthur den Deputy erst am nächsten Morgen alarmiert hatte. Schließlich war einer seiner Gäste tot, und ein Killer rannte frei da draußen herum. Ondragons Misstrauen gegen den Leiter der Klinik wuchs, aber auch die Notizen in seiner Hosentasche bewiesen, dass er Dr. Arthur längst in den Kreis der Verdächtigen aufgenommen hatte. Seine unermüdlichen Gedankenskizzen von letzter Nacht hatten endlich ein vages Muster ergeben, und dem würde er nachgehen, sobald er diese unangenehme Prozedur mit Lyme hinter sich gebracht hätte. Dann würde er in diesem Laden hier gründlich aufräumen. Der Fisch stank immer vom Kopf her. Und hier stank etwas ganz gewaltig!
„Dr. Schuyler, eines würde mich interessieren“, sprach er jetzt zur Abwechslung den Pathologen an, der überrascht aufsah. „Haben Sie 1997 eigentlich auch die Leichen von Louisa und Herman Parker untersucht?“ Er warf einen schnellen Seitenblick auf Pete, dessen erstaunte Miene leicht dümmlich wirkte. Vermutlich versuchte der Kofferjunge noch zu begreifen, was das Eine mit dem Anderen zu tun hatte. Unterdessen rührte sich Schuyler. Sichtlich nervös rückte er seine Brille zurecht und fuhr sich mit der Zunge mehrmals über die Lippen, bevor er antwortete. „Ja, ich war am Tatort, weil mich der damalige Deputy Schoenfield hinzugerufen hatte. Und ja, ich habe die Leichen gesehen. Es war schrecklich.“ Schuyler warf Pete einen schuldbewussten Blick zu. „Aber ich konnte sie nicht untersuchen, weil das FBI den Fall übernahm. Danach waren wir aus der Sache raus und bekamen auch nur das an Informationen, was das Bureau an uns weitergab. Woher wissen Sie darüber?“
„Oh, Pete hat mir davon erzählt, was seinen Eltern zugestoßen ist.“ Ondragon sah, dass Pete etwas sagen wollte, ließ den Hillbilly aber nicht zu Wort kommen. Schließlich sollte niemand wissen, dass er auch sein illegales Handy zur Informationsbeschaffung verwendet hatte. „Und wenn Sie mich fragen, sind die Ähnlichkeiten des Mordes an den Parkers mit dem Fall der Leiche im Wald und jetzt auch mit Lyme unübersehbar!“
„Wir fragen Sie aber nicht!“ Deputy Hase ergriff das Wort. „Es ist nicht nötig, dass Sie sich unseren Kopf zerbrechen. Wir haben alle vorangegangenen Mordfälle sorgfältig geprüft. Das ist ein standardisiertes Vorgehen bei Leichenfunden mit unbekannter Todesursache. Alle möglichen Fakten werden in Betracht gezogen, darunter natürlich auch Muster vorangegangener Gewalttaten und ungeklärter Todesfälle.“
„Und Sie schreiben den Tod dieser beiden unglücklichen Männer einer Bärenattacke zu, damit das FBI Ihnen den Fall nicht wieder wegnimmt? So wäre es doch, nicht war? Würde es sich um einen Serienkiller handeln, so stünden die Agenten vom Bureau sofort wieder auf der Matte. Und das wollen weder Sie noch Dr. Arthur, stimmt‘s? Ich glaube, ich beginne langsam zu verstehen.“
„Sie verstehen gar nichts, Mr. Ondragon!“, fuhr Deputy Hase ihn an. „Sie kommen hierher, wahrscheinlich zum ersten Mal in Ihrem Leben, wedeln mit Ihrer Geldbörse und meinen, Sie würden diese Gegend und Ihre Menschen genau kennen? Das ist immer so bei Ihnen und Ihresgleichen. Ein dickes Konto und ein teures Auto und schon denken Sie, Sie seien etwas Besseres! Aber wir wissen ganz genau, was wir tun, auch wenn wir nicht mit einem goldenen Löffel im Mund geboren worden sind und keine Eliteausbildung genossen haben. Ich bin hier aufgewachsen und ich weiß, wie man in dieser Gegend Ermittlungen durchführt.“
Ondragon schürzte die Lippen ob dieser unverschämten Rede. Daher wehte also der Wind. „Ich rate Ihnen ein letztes Mal, sich aus unseren Ermittlungen rauszuhalten, sonst werde ich Sie wegen Behinderung der Polizei ins Gefängnis bringen. Tun Sie Ihre Pflicht und führen Sie uns zu der Leiche und dann kümmern Sie sich um Ihre Therapie, oder weswegen Sie sonst hierhergekommen sind. Dafür haben sie ja schließlich viel Geld bezahlt!“
Ondragon lächelte mitleidig. „Nur allzu gerne überlasse ich Ihnen diesen hübschen Schlamassel, Deputy. Ich reiße mich bestimmt nicht darum, Ihre Arbeit zu machen, und Sie haben Recht: Ich habe eine Stange Geld dafür bezahlt, um hier zu sein, und deshalb führe ich Sie jetzt zu Mr. Lyme, und danach fahren Sie zur Hölle!“
Deputy Hase erhob sich schweigend, die Beamtenbeleidigung hatte er ohne Kommentar geschluckt und damit bewiesen, wie sehr er, ohne es zu merken, sein eigenes Klischee erfüllte; der Underdog vom Land gehorchte dem Privilegierten. Ondragon lächelte ironisch, dann hob er die Hände. „Gentlemen, bitte folgen Sie mir.“
Sichtlich erleichtert darüber, dass der unangenehme Disput zwischen dem Deputy und dem aufmüpfigen Gast endlich vorüber war, standen alle von den Sesseln auf. Ondragon bemerkte dabei, wie Kateri seinem Blick geflissentlich auswich. Zu gern hätte er gewusst, was sie dachte. Während Deputy Hase und seine Leute ihre Rucksäcke schulterten und Pete sein Jagdgewehr, beobachtete er sie eindringlich. Doch sie zeigte keine Reaktion, nahm wortlos ihre Jacke auf und ging zur Tür. Was war nur mit ihr los? Schämte sie sich für die Nummer, die sie gestern im Wald geschoben hatten? Bereute sie es, sich ihm hingegeben zu haben? Ach was, hingegeben! Wie ein hungriger Wolf hatte sie sich auf ihn gestürzt! Also, warum verhielt sie sich auf einmal so, als sei sie ein Rührmichnichtan? Na, hoffentlich würde sie ihm wenigstens helfen, den richtigen Weg durch den Wald zu finden, denn bisher gab er nur vor, ihn genau zu kennen.
Unter dem kritischen Blick von Sheila verließ der kleine Trupp schließlich die Lodge und machte sich auf in den Wald.
Nach einem strammen, zweistündigen Fußmarsch erreichte die Gruppe den Bach, an dem Ondragon tags zuvor die rätselhaften Spuren gefunden hatte. Nachdenklich kniete er sich hin, suchte den dunklen Morast ab und erhob sich wenig später wieder. Dabei ließ er niemandem merken, dass ihm kurz schwarz vor Augen wurde. Verdammtes Schwindelgefühl! Mit dem Unterarm wischte sich Ondragon tote Mücken und Schweiß von der Stirn, pustete die winzigen, schwarzen Fliegen, die hier am Wasser besonders zahlreich waren, aus der Luft vor seinem Gesicht und sah sich die Stelle noch einmal genau an. Ganz eindeutig erkannte er den kleinen Einschnitt am Bachufer, an dem er seine Flasche aufgefüllt hatte, und seine eigenen Fußabdrücke in der feuchten, schwarzen Erde. Aber wo war die zehenlose Fährte? Der Rest des Bachufers lag unberührt da. Das konnte doch nicht sein.
„Hier war eine Spur“, sagte er schließlich zum Deputy und zeigte auf die Stelle. „Hier, direkt neben meinen Fußabdrücken. Leider ist sie jetzt verschwunden. Hier habe ich auch den Ring gefunden.“ Er wollte in die Hosentasche greifen und ihn herausholen, doch dann entsann er sich, dass er heute eine andere Hose trug.
„Was für einen Ring?“ Deputy Hase sah ihn fragend an.
„Es war der Siegelring von Lyme. Der hat hier im Schlamm gesteckt, unter der Spur.“
„Da ist aber keine andere Spur außer der Ihren.“
„Keine Ahnung, warum sie verschwunden ist. Ich verstehe das auch nicht.“
„Und wo ist der Ring jetzt?“
„In meinem Zimmer. Ich habe ihn in der anderen Hose.“
Der Deputy sah auf das Ufer und dann seine Kollegen an. Ondragon war sich nicht sicher, aber Hase wirkte, als sei er nicht überzeugt. Wütend setzte Ondragon daraufhin über den Bach. Sie würden ihm schon noch glauben, wenn sie endlich Lymes Leiche sahen. Scheiß auf die Fährte!
Mit forschem Schritt eilte er voran und hielt nach der Blutspur Ausschau, die gestern noch deutlich zu jenem Ort geführt hatte, an dem er auf Lymes Gedärmen ausgerutscht war. Aber auch hier war es wie verhext. Er konnte sie einfach nicht finden. Ein unschöner Verdacht beschlich ihn, doch er ließ sich nichts anmerken und ging immer weiter - bald würden sie die Leiche sehen, sie konnte nicht mehr weit weg sein.
Als er die Blutspur schließlich doch fand, war er erleichtert. Er wies Deputy Hase auf die unmissverständliche Fährte hin, und sie folgten ihr. Nach etwa hundert Metern bog Ondragon ein paar Äste eines Gebüsches zur Seite, und vor ihnen öffnete sich die kleine Lichtung. Na also! Endlich hatte er sie gefunden. So ein schlechter Pfandfinder war er doch gar nicht. Zufrieden drehte er sich zu den anderen um.
„Dort drüben ist der Baum, an dem Lyme hängt, nur ein paar Schritte geradeaus über die Lichtung und man steht vor ihm. Es ist nicht zu verfehlen. Ich bleibe besser hier. Ich muss das nicht noch einmal sehen, das verstehen Sie doch sicher.“ Ondragon ließ Deputy Hase, der ihn mit einem verächtlichen Blick strafte, an sich vorbeitreten. Seine Männer, Dr. Schuyler, und auch Pete folgten ihm. Kateri blieb überraschenderweise bei ihm zurück. Die unverhoffte Zweisamkeit wollte Ondragon nutzen. Er nahm die noch immer distanziert dreinblickende Kateri zur Seite und fragte, was mit ihr los sei.
Sie wand sich aus seinem Griff um ihr Handgelenk und wich zurück. Sie wirkte spröde wie eine alte Jungfer, so als hätte ihre innige Begegnung nicht stattgefunden. Ein neuer Verdacht kam in ihm auf. Nachdem er gestern zu Bett gegangen war, war Kateri doch noch bei Dr. Arthur geblieben. Hatten sie sich unterhalten? Hatte sie ihrem Mentor von ihrem Schäferstündchen erzählt? Und was hatte Dr. Arthur dazu gesagt? Hatte er schlecht über ihn geredet? Hatte er sie dafür getadelt, mit einem anderen Patienten angebandelt zu haben? Er wollte sie gerade darauf ansprechen, als er Deputy Hases Stimme hörte.
„Mr. Ondragon, kommen Sie mal bitte her!“
Mit fragender Geste trat er durch den Busch auf die Lichtung. Deputy Hase, Schuyler und seine Männer standen keine zehn Schritte von ihm entfernt vor dem besagten Baum und blickten ihn an. Ondragon erkannte den faserigen Stamm sofort wieder, auch die niedrig hängenden Äste und den Felsen davor. Aber die Gesichter der Polizisten waren alles andere als betroffen von dem Anblick der Leiche. Mit finsteren Mienen starrten sie ihn an, als sei er selbst der Verbrecher.
„Könnten Sie mir das erklären?“, fragte der Deputy mit strenger Stimme und trat zur Seite. Als Ondragon sah, was da am Stamm hing, fiel er aus allen Wolken!