52. Kapitel

 

2009, Moose Lake, im Wald

 

„Vernon!“ Ungläubig glotzte Ondragon auf das schwarze Gesicht des Matrosen-Masseurs, das ganz entspannt wirkte, so als sei der Tod nur eine vorübergehende Meditationsübung.

„Ja, der! Ich war gerade auf meinem nächtlichen Gang zur Küche, da habe ich beobachtet, wie er die Lodge durch die Hintertür verließ. Er trug dieses seltsame Kostüm, und ich folgte ihm aus Neugier. Ich konnte ja nicht ahnen, was der perverse Wichser da vorhat. Dieses kranke Schwein!“

„Danke für die Rettung, Hatchet.“

„Kein Ding, Mann.“

Ondragon klopfte dem Todesmetaller auf die Schulter. Er fragte sich noch immer, wie es diesem anämisch drahtigen Mann gelingen konnte, dem schwarzen Koloss das Licht auszublasen. Er beugte sich zu Vernon hinab und entblößte dessen massige Schulter. Unter dem Kostüm kam ein Verband zum Vorschein und plötzlich wusste er, wie sich alles abgespielt haben musste. Vernon war einer von Dr. Arthurs persönlichen Handlangern. Zuerst hatte er Bates und Orchid aus dem Weg geräumt und dann Lyme aufgeschlitzt. Bis dahin war seine Verkleidung als Wendigo nur ein makaberer Scherz gewesen, die sich dann aber doch als sehr nützlich herausstellte, nachdem er, Ondragon, unglücklicherweise Lymes Leiche entdeckt hatte. Vernon hatte ihn als Wendigo verkleidet angegriffen. Jedoch hatte Kateri davon nicht das Geringste gewusst und Vernon aus Versehen angeschossen. Sie hatte tatsächlich gedacht, sie schösse auf das Waldmonster. Arme, verwirrte Kateri.

Ondragon besah sich die Krallen des Kostüms und Dr. Schuylers Worte hallten in seinem Kopf wider. Etwas ist seltsam an den Wunden. Das war kein Bär.

Kein Wunder. Bären hatten ja auch keine Messerklingen als Krallen. Vernons Handschuhe waren eine fast schon lächerliche Kopie von Freddy Krügers Werkzeugen, aber offensichtlich effektiver als die des narbengesichtigen Alptraumes von der Elmstreet. Die Verwüstungen, die er damit Lymes Körper zugefügt hatte, waren äußerst glaubwürdig gewesen, und hatten zudem auch noch die künstlerische Handschrift eines Dr. Lecters getragen. Entweder war Vernon ein Fan alter Horrorstreifen gewesen oder komplett durchgeknallt. Wer wusste schon, was ihm in den einsamen Stunden auf See zugestoßen war?

Kopfschüttelnd erhob sich Ondragon wieder. Das Sahnehäubchen auf diesem Schwarzwälderkirschwahnsinn war, dass Deputy Hase am Ende alles vertuschen sollte. Bestimmt hatte er von der Lichtung aus, auf der nur der Tierkadaver und nicht Lymes Leiche gehangen hatte, mit seinem Funkgerät jemanden in der Lodge angewiesen, Lymes Ring aus seiner Hosentasche zu entfernen. Natürlich Vernon! Und Ondragon hatte tatsächlich an sich gezweifelt, so scheinbar perfekt war alles inszeniert gewesen. Doch jetzt war es vorbei, die Illusion zerstört. Paul Eckbert Ondragon war am Zug. Er wandte sich an Hatchet.

„Hast du Kateri gesehen?“

„Die Höllenbraut?“

„Genau die!“, knurrte Ondragon.

„Nope. Ist mir nicht begegnet. Wieso?“

Ondragon wollte gerade erklären, dass er noch ein Hühnchen mit der Kannibalin zu rupfen hatte, weil sie sich nicht nur an ihm vergriffen hatte, sondern auch seine wunderbare Assistentin Charlize an diesen Julian verraten hatte, da ertönte ein scharfes Surren. Ungläubig riss Hatchet die Augen auf und öffnete seinen Mund, aber nur ein feuchtes Röcheln drang aus seiner Kehle, in der ein weißer Pfeil steckte.

Noch im selben Moment zischte ein zweiter Pfeil heran und verfehlte Ondragons Gesicht um Haaresbreite, er konnte den Luftzug der Befiederung an seiner Wange spüren. Augenblicklich duckte er sich und rannte gebückt in den Schutz einiger Sträucher. Ein weiterer Pfeil sirrte an ihm vorbei und schlug zwei Schritte weiter in einen Baum ein. Sein Fuß verfing sich im Geäst, und er geriet ins Stolpern, doch er fing sich wieder und rannte weiter, barfuß und blutend, wie ein Tier auf der Flucht vor seinem Jäger.

Äste peitschten ihm ins Gesicht und er konnte keine Armeslänge weit sehen, so dunkel war es. Aber er rannte und rannte, ignorierte seine Schmerzen. Die Jägerin war irgendwo hinter ihm. Er konnte sie hören, aber nicht sehen. Plötzlich kam ihm ein Gedanke. Wenn er sie in der Dunkelheit nicht sehen konnte, dann konnte sie das auch nicht. Sie konnte ihn also nur durch seine Geräusche orten. Abrupt schlug er einen Haken, suchte Schutz hinter einem dicken Baumstamm und lauschte in die feindliche Finsternis des Waldes. Jetzt, da er beide Hände frei hatte, fühlte er sich nicht mehr ganz so hilflos, aber Kateri hatte mit Sicherheit mehr Erfahrung mit der Jagd auf diesem Terrain. Er würde sich allein auf seine vom Fieber vernebelten Instinkte verlassen müssen, um mit ihr als Gegner fertig zu werden. Leise ging Ondragon in die Hocke und grub seine Finger in die vom Regen aufgeweichte Erde. Dann schmierte er sich den Schlamm ins Gesicht, damit es nicht mehr als heller Punkt weithin sichtbar leuchtete. Danach entledigte er sich bis auf die schwarze Unterhose seiner auffälligen Klamotten und verpasste auch dem Rest seines Körpers eine Schlammpackung, dabei immer wieder in den Wald hinaus horchend.

Nachdem er sich in einen primitiven Krieger verwandelt hatte, lenkte er seine Überlegungen auf eine mögliche Waffe. Er könnte Steine benutzen oder dicke Äste, doch gegen einen Bogen oder seine Sig Sauer mutete das wirklich steinzeitlich an. Hätte er bei seiner Flucht doch wenigstens einen von Vernons Messerhandschuhen mitgenommen. Ondragon gefiel es nicht, aber das einzige, was ihm blieb, war in Deckung zu bleiben und zu hoffen, dass er Kateri entkommen konnte, bevor die Sonne aufgehen würde!

Anette Strohmeyer - Ondragon 01 - Menschenhunger
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