36. Kapitel

 

2009, im Wald vier Meilen nordöstlich des Moose Lake, Minnesota

 

„Wir sollten weiter“, sagte Kateri, nachdem sie sich ihre Haare wieder zu einem ordentlichen Zopf gebunden hatte. Sie nahm ihren Bogen und den Köcher auf, den sie ins Gebüsch gefeuert hatte, als es zur Sache gegangen war, und hängte sich beides über die Schulter.

Ondragon nahm mehrere Schlucke aus seiner Wasserflasche, die nicht mehr allzu viel enthielt, und warf dann einen Blick auf seine Armbanduhr. „Schon vier Uhr!“

„Machst du etwa schon schlapp?“

„Nein, aber ich habe nicht mehr viel zu trinken und …“

„Die Flasche kannst du am nächsten Bach wieder auffüllen. Komm, hier entlang.“

Ondragon deutete eine Verneigung an. „Ja, Sahib!“

Kateri warf ihm ein schiefes Grinsen zu, fand mühelos den für ihn unsichtbaren Pfad wieder und marschierte voran. Ondragon folgte ihr dicht auf den Fersen. Er musste Kateri vertrauen und wollte sie auf keinen Fall noch einmal verlieren. Ab und an blieben sie stehen, sahen sich um und riefen nach Lyme. Nach ungefähr einer Stunde stolpernden Fortbewegens lichtete sich das unwegsame Unterholz etwas, die Bäume wurden größer und ließen mehr Luft zu ihnen hinab. Gras und Moos eroberte sich vorwiegend den Boden zurück, und das Licht warf gesprenkelte Muster darauf. Das Gelände stieg allmählich an.

„Weißkiefern“, sagte Kateri und zeigte auf die mächtigen Stämme, die wie Säulen das Dach des Waldes stützten. Ondragon sah in eine der ausladenden Baumkronen hinauf. Dabei fiel ihm etwas ins Auge.

„Da, sieh mal“, machte er Kateri darauf aufmerksam.

„Medizin“, entgegnete sie schlicht. „Wir sind an der alten Begräbnisstätte, von der ich vorhin gesprochen habe.“

Ondragon zog unbehaglich den Kopf ein, als er noch mehr bemalte Tierschädel, Federbüschel und ganze, mumifizierte Tierkadaver in den Ästen entdeckte.

„Wir sollten einen Bogen drum herum schlagen. Unser Volk sieht es nicht gern, wenn man diesen Ort entweiht. Da hinten führt der Weg lang.“ Kateri wies mit dem Arm nach rechts.

Ondragon sah in die Richtung. „Und der stößt irgendwann auf den Trail zum Mount Witiko?“

„Genau. Dürften zwar noch ein paar Meilen sein, aber keine Angst, soweit wollte ich nicht gehen.“ Sie zwinkerte ihm zu. Ondragon war in zweierlei Hinsicht erleichtert. Zum einen hatte er wenig Lust, bis zu dem Berg zu latschen, und zum anderen, hatte er endlich wieder eine grobe Orientierung. Doch das Unbehagen blieb. Er blickte auf das vor ihm liegende Dickicht und fragte: „Sind da tatsächlich Tote aufgebahrt?“

„Ja, aber keine frischen. Das ist nicht erlaubt. Dieser Ort existiert jedoch schon seit mehreren hundert Jahren, und die Toten, die hier vor langer Zeit bestattet wurden, haben das von der Regierung zugesicherte Recht, auch hier zu verbleiben. Außerdem glauben wir Ojibway, dass es Unglück bringt, die Toten in ihrer Ruhe zu stören und sie von ihrem angestammten Sitz wegzubringen.“

Ondragon warf einen letzten Blick auf die über ihm baumelnden Schädel und Kadaver und musste sich danach beeilen Kateri hinterher zu kommen, denn sie war bereits mit großen Schritten unterwegs. Als sie um das Bestattungsheiligtum herum waren und der Weg immer steiler wurde, begann Kateri erneut damit, Lymes Namen zu rufen. Doch der verdammte Hurenbock blieb unauffindbar. Klar, denn er wollte sich ja auch gar nicht finden lassen. Und Lärm machten sie ja genug, damit Lyme sie orten und ihnen ausweichen konnte. Nachdenklich kaute Ondragon auf seiner Unterlippe. Eigentlich war es total sinnlos, was sie hier taten, und es war längst an der Zeit, Kateri aufzuklären, sonst irrten sie womöglich noch weitere Stunden vergeblich umher. Sie musste die Wahrheit über Lyme erfahren. Ondragon rang seine letzten Zweifel nieder.

„Ähm, Kateri, warte mal.“

Die unvergleichliche Miss Wolfe drehte sich um und sah ihn fragend an.

Ondragon sprach mit Bedacht weiter. Er wollte die gerade gewonnene Vertrautheit nicht sofort wieder zerstören: „Erinnerst du dich noch? Vorgestern hat mich Mr. Lyme angesprochen. Mir schwant, das hängt mit seinem Verschwinden zusammen.“

„Inwiefern?“

Ondragon gab sich einen Ruck. „Er wollte von mir hören, ob es stimmt, dass ein menschenfressender Bär den Mann im Wald getötet hat.“

„Und?“

„Nun ja“, er kratzte sich am Hinterkopf, „ich habe ein bisschen übertrieben und behauptet, Deputy Hase hielte das Waldmonster für den Mörder. Den Wend- … du weißt schon.“

„Du hast was getan?“

Deutlich konnte Ondragon sehen, wie sich eine Gewitterwolke über Kateris Kopf zusammen braute. Verlegen zuckte er mit den Schultern. „Lyme ging mir auf die Nerven und ich wollte ihn loswerden. Aber zu diesem Zeitpunkt wusste ich ja noch nicht, was ich heute weiß!“

„Und was ist das? Los, raus mit der Sprache.“

Ondragon sprang ins kalte Wasser, ohne zu wissen, ob er je wieder auftauchen würde.

„Ich kenne den Grund, warum Lyme bei Dr. Arthur in Behandlung ist. Er … das klingt jetzt vielleicht ein wenig verrückt, aber es ist wahr.“

Kateri presste gereizt die Lippen aufeinander, und Ondragon beeilte sich, es ihr endlich zu verraten. „Lyme will sich auffressen lassen!“

„Auffressen?“ Kateri blinzelte ungläubig.

„Und deshalb“, lenkte Ondragon hastig ein, „glaube ich, dass wir ihn hier im Wald nicht finden werden, wenn wir laut nach ihm rufen. Er will gar nicht gefunden werden. Er will sich von dem Ungeheuer auffressen lassen.“

„Und warum hast du das nicht allen erzählt, bevor wir losgezogen sind? Das wäre sehr hilfreich gewesen.“

Ondragon hob entschuldigend beide Hände. „Ich weiß, tut mir leid.“ Hoffentlich kam sie nicht auf die Idee, ihn zu fragen, woher er das wusste.

„Und woher weißt du das?“

Ondragon schloss kurz die Augen. Hinter seiner Stirn pulsierte der Kopfschmerz immer stärker, und er hatte noch immer das ungewisse Gefühl, dass es nicht gut wäre, ihr die tatsächlichen Ausmaße seiner Aktivitäten zu verraten.

„Dr. Arthur hätte es im Übrigen auch wissen müssen“, fuhr er ärgerlich fort, „er behandelt Lyme ja schließlich. Warum hat er nichts gesagt? Ich verrate es dir. Er forscht nämlich nebenbei heimlich an Menschen mit dem Kannibalen-Syndrom und auch an solchen, die auf der anderen Seite stehen und sich essen lassen wollen. Wusstest du das?“

„Ja, das wusste ich, und es geschieht auch nicht heimlich, es ist ganz offiziell sein Spezialgebiet“, verteidigte Kateri ihren Mentor. „Glaub mir, ich kenne Jonathan sehr gut. Dass er das mit Lyme nicht gesagt hat, liegt wahrscheinlich daran, dass die Schweigepflicht ihn bindet. Daran halten sich ja beileibe nicht alle Ärzte, aber Jonathan ist äußerst gewissenhaft! Er würde nie Dritten etwas über seine Patienten erzählen. Nie! Selbst mir nicht, und ich bin wie eine Tochter für ihn.“

Ja, selbst dir nicht, Schätzchen!, dachte Ondragon böse, wollte sich aber nicht auf eine Diskussion über Dr. Arthurs Integrität einlassen, dazu war Kateri viel zu befangen. Sie würde nie etwas Negatives über ihren Mentor gelten lassen, und ihn selbst dann noch in Schutz nehmen, wenn seine Machenschaften offen zu Tage träten. Das war zwar verständlich in ihrer Lage als Vollwaise, aber es konnte ihn, Ondragon, in dieser Angelegenheit nur zum Verlierer machen. Einen Pfeil musste er allerdings noch abschießen.

„Und wusstest du auch, dass er einige Kannibalen hier in der Lodge behandelt?“

„Ja, auch das ist mir bekannt.“

„Macht dir das keine Angst?“

„Nein, denn, wie gesagt ich kenne Jonathan schon sehr lange, und er weiß, was er tut. Er ist ein sehr guter Psychotherapeut. Vielleicht sogar der beste, den du auf diesem Planeten finden kannst.“

„Schon möglich.“ Ondragon spürte, wie eine seltsame Hitze ihn erfasste, und er heftig zu schwitzen begann. Es war, als säße er in einem Raum, in dem jemand die Heizung bis zum Anschlag aufgedreht und danach den Thermostat abgebrochen hätte. Mit dem Handrücken wischte er sich über die Stirn und nahm den letzten Schluck Wasser aus seiner Flasche. So elend hatte er sich nicht mehr gefühlt, seit er damals von Malaria geplagt in einem Rebellencamp in Myanmar festhing.

„Geht es dir nicht gut?“, fragte Kateri und wollte ihm eine Hand an die Wange legen.

Ondragon schüttelte schnell den Kopf. „Schon gut, alles okay. Ich habe nur schrecklichen Durst.“ Um seiner Aussage Nachdruck zu verleihen, drehte er seine leere Flasche auf den Kopf. Auch Kateris kleiner Wasservorrat war längst aufgebraucht. Sie brauchten beide dringend Nachschub.

„Es ist noch ungefähr eine halbe Meile bis zum nächsten Bachlauf. Hältst du es noch bis dahin aus?“

Ondragon nickte und schlug nach dem millionsten Moskito auf seiner Haut. Sie wollte also noch immer nicht aufgeben. „Na gut.“ Er stieß sich von dem Baumstamm ab, an den er sich gelehnt hatte. „Aber wir sollten nicht mehr laut rufen, damit Lyme uns nicht ausweichen kann. Vielleich läuft er uns dann direkt in die Arme.“

Sie gingen eine Weile, in der Kateri sehr still war und so wirkte, als denke sie nach. Wahrscheinlich fragte sie sich immer noch, woher er das mit Lyme wusste, traute sich aber nicht, ihn danach zu fragen, da sie fürchtete, er könnte Dr. Arthur angreifen. Denn inzwischen musste auch ihr klar geworden sein, dass der Doc sich in der Tat merkwürdig verhalten hatte. Er sah auf seine Uhr. Kurz nach sechs. Allmählich sollten sie den Rückweg antreten, sonst würde sie die Dunkelheit überraschen.

 

Anette Strohmeyer - Ondragon 01 - Menschenhunger
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