40. Kapitel

 

2009, im Wald sechs Meilen nordöstlich des Moose Lake, Minnesota

 

Ondragon griff sich an seine schweißnasse Stirn. Ihm schwindelte und er fühlte sich, als sei er in einem gottverdammten Backofen gefangen, der auch noch auf einer Achterbahn befestigt war. Ein Gedanke raste ihm immer wieder durch den hämmernden Schädel: Er musste noch in seinem Bett liegen und schlafen. Ja, so war es. Er träumte dies alles. Es konnte nicht anders sein. Er träumte diesen beschissenen Alptraum.

„Erklären Sie mir das, Mr. Ondragon!“ Die genervte Stimme von Deputy Hase holte ihn schließlich zurück in die Wirklichkeit. Ondragon blinzelte. Er schlief nicht. Er war hellwach! Doch diese Erkenntnis machte es nicht besser. Auch die Realität, in der er sich wiederfand, war einem Alptraum noch immer scheißnah.

„Mir ist schlecht!“, murmelte er und setzte sich unter den skeptischen Blicken des Deputys und seinen Männern auf den Felsen vor dem Baum. Alles drehte sich, und Ondragon hatte Mühe, seinen Verstand wieder klar zu bekommen. Er suchte in seiner Hosentasche nach der Packung Schmerztabletten und warf sich zwei davon ein. Trocken würgte er die bitteren Pillen runter. Erst dann wagte er es, seinen Kopf mit den gefühlten Ausmaßen von New Jersey zu heben und in das gerötete Gesicht des Deputys zu sehen.

„Es tut mir leid, aber ich kann das nicht erklären.“ Er schwenkte seinen Arm über die Lichtung. Auch wenn das Fieber seine Sinne aushöhlte, war er sich doch sicher, dass dies die richtige Stelle war. Hundertprozentig. Er hatte sich nicht geirrt! Das waren die Lichtung, der Baum, der Stein. Nur eines stimmte nicht mit seinen gespeicherten Erinnerungen überein, und sein Gehirn weigerte sich noch immer vehement, zu glauben, was seine Augen sahen.

Lyme! Die Leiche des Maklers war nicht da!

Stattdessen hing an seiner Stelle ein aufgebrochener Tierkadaver am Stamm der Weißkiefer. Eine dunkle Pfütze getrockneten Blutes sammelte sich unter dem Halsstumpf des Tieres. Aber nicht nur der Kopf fehlte, auch die Klauen und Geschlechtsteile waren abgeschnitten worden. Der Kadaver war gehäutet, und ein dichter Schwarm Fliegen saß auf dem silbrig glänzenden Körper aus rohem Fleisch. Ihr Summen erfüllte die Luft und verursachte ihm eine unterschwellige Übelkeit. Ondragon räusperte sich und schob sich einen Kaugummi zwischen die Zähne. Der Pfefferminzgeschmack war wie kühles Eis auf seiner Zunge und half ihm, die Kontrolle über seinen Magen zu behalten. Bewusst langsam kauend beobachtete er, wie Dr. Schuyler seinen Fotoapparat auspackte und einige Fotos schoss. Sein Blick folgte mehr unbewusst als neugierig den Bewegungen des Medical Examiners, der auf einmal die Augenbrauen zusammenzog und näher an die Tierleiche herantrat. Sein Finger strich über die glatte Sehnenhaut, in der die Muskeln verpackt waren, wanderte zur Hinterkeule und hob den Kadaver an, so dass er sich vom Stamm löste. Schuyler betrachtete das Rückgrat des Tieres und schloss mit einem langgezogenen „Hmmmm“ seine Untersuchung ab.

„Also, sicher bin ich mir nicht“, sagte er schließlich, „aber ein Reh oder Hirsch ist das nicht. Vielleicht ein Raubtier, ein Puma oder Wolf. Allerdings sind die geschützt.“

Der Deputy schien sich dafür jedoch nur wenig zu interessieren, er hatte sich mit vor der Brust verschränkten Armen vor Ondragon aufgebaut und starrte ihn an. Seine Polizeiabzeichen glänzten golden in der Sonne.

„Und deswegen sind wir hier zwei Stunden durch den Wald gekrochen?“ Er wies auf den Kadaver. „Also, wenn Sie mich fragen, sieht das eindeutig nach dem Werk eines Trophäenjägers aus. War wahrscheinlich scharf auf das Fell und die Zähne. Es gibt Leute, die dafür viel Geld bezahlen. Geschütztes Tier hin oder her.“

„Aber was ist dann mit Lyme?“, wandte Ondragon ein. „Wo ist er?“

„Hier jedenfalls nicht, wie Sie sehen können! Ich denke, Dr. Arthur wird sich um die Angelegenheit kümmern. Ich habe gehört, dass öfter mal Leute früher als geplant abreisen, ohne Bescheid zu sagen. Solch eine Psychotherapie verkraftet eben nicht jeder. Und in Ihrem Fall fürchte ich, dass Sie gestern wohl ein wenig überreagiert haben, Mr. Ondragon.“

Ondragon sah ihn zerstreut an. Konnte schon sein. Verstehen tat er es trotzdem nicht.

Der Deputy legte den Kopf schief und sprach mit einer falschen mitfühlenden Stimme weiter. „Aber das kann ja mal vorkommen, nicht? Besonders, wenn man …“

„… verrückt ist! Das wollten Sie doch sagen, oder nicht?“, fuhr Ondragon gereizt dazwischen. Er sprang von dem Felsen auf. „Hören Sie, Deputy. Ich habe gesehen, was ich gesehen habe, und das hier ist … ist … irgendwie falsch.“ Aufgewühlt fuhr er sich durchs Haar. „Ich habe mich noch nie geirrt!“

„Tja, dann ist es heute wohl das erste Mal! Eureka, Irren ist menschlich!“, sagte Hase mit einem sarkastischen Grinsen und wandte sich dann an seine Leute. „Schneidet den Kadaver vom Baum, sollen sich die Aasfresser um die Beseitigung kümmern. Und dann nichts wie weg von hier. Wir haben schon zu viel unserer wertvollen Zeit vertrödelt mit Mr. Ich-irre-mich-nie!“

„Seien Sie vorsichtig, was Sie sagen!“, protestierte Ondragon. Ihm reichte es. Dieser Bauerntölpel hatte doch keine Ahnung!

Doch Deputy Hase ließ sich dieses Mal nicht einschüchtern. Er beugte sich zu ihm vor und flüsterte ihm ins Ohr. „Nein, Sie werden vorsichtig sein, Mr. Ondragon! Sollten Sie uns noch einmal mit Ihren eingebildeten Hirngespinsten behelligen, lasse ich Sie nach Nett Lake für vierundzwanzig Stunden in Untersuchungshaft bringen! Und glauben Sie mir, Ihr Geld und Ihre ach so gewichtigen Kontakte werden Sie nicht davor schützen können. Verstanden?“

Ondragon schwieg mit zusammengepressten Lippen und vermied es, Kateri anzusehen, die ihn die ganze Zeit angesehen hatte. Sie dachte jetzt bestimmt, dass er komplett plemplem war! Welch schmachvolle Niederlage. Und dann ausgerechnet auch noch gegen diesen babygesichtigen Grünschnabel von einem Provinzbullen.

Ondragon warf Hase einen tödlichen Blick zu, aber der Deputy ignorierte ihn lässig. Er stand etwas abseits und sprach leise in sein Funkgerät. Wenig später steckte er das Gerät wieder zurück in seine Gürteltasche, gab das Signal zum Aufbruch und übernahm zusammen mit Pete die Führung. Wütend sah Ondragon ihnen nach. Als sie in sicherer Entfernung waren, bückte er sich schnell, riss ein paar Grashalme aus, an denen noch das Blut klebte und steckte sie sich in die Hosentasche. Ein Labor würde feststellen können, ob es sich um menschliches oder tierisches Blut handelte.

Bevor jemand bemerkte, dass er zurückgeblieben war, schloss Ondragon ans Ende der Kolonne auf. Und während der nächsten anderthalb Stunden, die sie zur Lodge zurückwanderten, malte er sich in seinen fiebrigen Gedanken aus, wie er es dem Deputy heimzahlen würde. Lymes Ring und die Blutproben würden Hase schon davon überzeugen, dass er, Ondragon, nicht ganz verrückt war, und dass dem Makler tatsächlich etwas zugestoßen war. Denn warum sollte Lyme seinen Ring fernab der Lodge in einen Bach werfen?

 

Als sie endlich die Lodge erreichten, sprach er mit niemandem ein Wort und stürmte auf direktem Wege in sein Zimmer, um dem Ring zu holen. Er schloss die Tür auf und eilte zu dem Stuhl, auf dem die Hose hing. Seine Finger fuhren in die Tasche, doch sie fanden nichts. Sie durchsuchten die andere Tasche. Auch nichts. Verwirrt blickte Ondragon auf die Hose. Da waren die schwarzen Erdflecken an den Knien, die vom Schlamm des Bachufers stammten. Ja, diese Hose hatte er gestern angehabt, aber wo zum Teufel war der Ring? Alarmiert sah er sich im Zimmer um. Alles war an seinem Platz, genauso, wie er es hinterlassen hatte. Wenn jemand in seinem Zimmer gewesen war, dann war er sehr umsichtig gewesen. Aber wer konnte das gewesen sein? Es wusste doch keiner von dem Ring. Oder doch? Er überlegte. Dr. Arthur hatte er nichts davon erzählt, dafür war er gestern viel zu erschöpft gewesen. Er hatte es schlichtweg vergessen. Und Pete und dem Rest des Suchtrupps hatte er auch nichts davon gesagt, soweit konnte er sich noch entsinnen. Blieb nur noch Kateri. Und sie war schon einmal in sein Zimmer eingedrungen. Aber wann sollte sie es getan haben? Sie war doch bis eben mit im Wald gewesen.

Zerknirscht verließ er sein Zimmer und gestand dem Deputy, der unten im Eingangsbereich wartete, dass er den Ring nicht finden konnte. Das mitleidige Lächeln, das daraufhin über Hases Gesicht huschte, ließ erneut die Wut in Ondragon hochkochen. Doch bevor er sich die Blöße eines Ausbruchs geben konnte, wandte er sich schnell ab und verschwand wieder auf sein Zimmer. Er musste nachdenken. Wenn das mit diesen infernalischen Kopfschmerzen überhaupt möglich war. Ondragon warf sich aufs Bett. Er fühlte sich wie einmal verspeist, verdaut und wieder ausgekotzt! Und es kam ihm so vor, als verschwämmen die Grenzen zwischen Wahn und Wirklichkeit allmählich zu einem neu erschaffenen, realen Raum. In diesem Raum spazierten die Bäume durch den Wald, als hätten sie Füße statt Wurzeln; mitten unter ihnen stand sein eigenes kindliches Spiegelbild mit dem Schlüssel des Gedankenpolizisten in der Hand, oder war es Per? Ondragon wusste es nicht. In der Ferne lockte die barbusige Kateri als Göttin Diana mit Pfeil und Bogen, und an einem der schwankenden Äste über ihm hing ein gemarterter Harvey Lyme in seinen Gedärmen wie auf einer Schaukel und lachte ihn schallend aus.

Erschöpft warf Ondragon sich die Arme über das Gesicht und seufzte. Wenn er noch länger hierblieb, würde er am Ende tatsächlich noch verrückt werden. Erst wenn er wieder in der Stadt wäre und den heißen Asphalt unter seinen Füßen spürte, dann würde er sich wieder richtig wohlfühlen. Fast sehnte er sich schon nach dem dichten Verkehr der Rushhour auf dem Olympic Boulevard und der mitleidigen Stimme des Stauansagers von 90.1 KBPK aus dem Autoradio.

Mit diesem wohligen Gedanken und dem sanften Flüstern von drei Schmerztabletten im Blut nickte er ein. Die Anstrengungen der vergangenen vierundzwanzig Stunden forderten ihren Tribut. Aber eigentlich hatte er seinen Entschluss schon längst gefasst. Er würde noch tun, was er tun musste, und dann adios!

L.A. rief nach ihm. Mutter aus Stahl und Beton.

 

 

Anette Strohmeyer - Ondragon 01 - Menschenhunger
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