45. Kapitel
2009, Moose Lake, Cedar Creek Lodge
Als Ondragon am nächsten Morgen - oder besser gesagt am Mittag, denn er hatte lang geschlafen - in den Spiegel schaute, stöhnte er entsetzt auf. Die Furchen in der Topografie seines Gesichtes waren noch tiefer geworden, und eine ungesunde Blässe hatte diese Schluchten wie eine Schicht Schnee überzogen. In beiden Augen waren Adern geplatzt und hatten das Weiße rot gefärbt. Er sah aus wie ein Zombie! Und er hatte auch den Hunger eines solchen.
Er besah sich die rot geränderte Wunde an der Stirn. Sie pochte nicht mehr ganz so schlimm, und auch der Kopfschmerz hatte sich verflüchtigt, dafür taten ihm die Füße weh, als sei er den Ironman von Minnesota gelaufen. Wahrscheinlich steckte ihm noch der Gewaltmarsch von gestern Vormittag in den Gliedern. Leider schien auch das Fieber noch da zu sein. Zumindest drang ihm noch immer die Hitze aus allen Poren.
Der Fluch des Wendigo!, murmelte es beinahe hämisch in seinem Unterbewusstsein. Doch Ondragon schob diesen Gedanken mit Gewalt beiseite. Es gab keinen Wendigo und damit basta!
Da heute sein großer Tag werden sollte, stellte er sich zunächst ausgiebig unter die Dusche und rasierte sich danach ordentlich. Auch wenn sein Aufenthalt hier umsonst gewesen war und ihn an den Rand seiner Selbstbeherrschung gebracht hatte, so war er doch immer noch ein Mann mit Stil und gutem Benehmen. Und man trat seinem Widersacher stets mit eleganter Überlegenheit gegenüber, alles andere wäre geschmacklos gewesen.
Nachdem er sich in seinen guten grauen Anzug gekleidet hatte, die Pistole natürlich im Halfter unter dem Jackett verborgen, fühlte er sich schon viel besser. Nur gegen die roten Augen konnte er nichts tun. Sie waren nun einmal da. Sein Blick fiel auf die Plastiktüte mit dem Buch darin, sie lag auf dem Stuhl am Fenster. Sollte er es Dr. Arthur zurückgeben? Doch allein der Gedanke daran, es wieder anfassen zu müssen, ließ den alten Ekel wieder aufkommen, und es schüttelte ihn. Er würde es einfach hier liegen lassen. Wenn er mit Dr. Arthur fertig war, spielte das Buch eh keine Rolle mehr. Dann nahm er sein iPhone und ging in die Mailbox. Tatsächlich war da einen Nachricht von Charlize. Er öffnete sie.
Als er sie gelesen hatte, wählte er ihre Nummer.
„Ohayô gozaimasu, Chef, wie geht’s?“
„Ging schon mal besser, Charlize.“
„Sorry, dass es so lange gedauert hat, aber das lag nicht an mir. Die Bewohner von Orr sind nämlich nicht gerade das, was man als aufgeschlossen bezeichnen könnte. Verdammte Stinkstiefel! Ich wollte dir das, was ich herausgefunden habe, nicht alles in die Mail schreiben. Die wäre sonst ein halber Roman geworden. Außerdem habe ich mir gedacht, dass du es bestimmt gern persönlich hören willst.“
„Na, dann schieß mal los.“
„Also, ich habe die Vermieterin von Bates ausfindig gemacht, Mrs. Perkins, und ihr das Foto von ihm gezeigt. Sie sagte mir - dies ist mir allerdings erst nach langem Hin und Her gelungen -, dass der Mann sich als Bill Murray ausgegeben habe und in der Cedar Creek Lodge angestellt gewesen sei, deshalb habe er auch nicht über seine Arbeit sprechen dürfen, denn die Regeln in der Lodge seien strikt.“
„Bill Murray? Und das ist ihr nicht irgendwie merkwürdig vorgekommen?“
„Nö. Was erwartest du von diesen Hinterwäldlern? Jedenfalls sagte Mrs. Perkins, Murray/ Bates sei ein ruhiger und unauffälliger Mieter gewesen. Drei Monate habe er bei ihr gewohnt und sei dann von einen Tag auf den anderen verschwunden.“
„Wann war das?“
„Irgendwann im März dieses Jahres, warte Mal.“
Ondragon hörte, wie seine Assistentin in ihrem Notizheft blätterte.
„Ah soooo, da hab ich es. Am 15.03.2009 stand plötzlich ein Mann vor der Haustür von Mrs. Perkins und sagte ihr, dass ihr Mieter von der Lodge gefeuert worden sei und nicht mehr wiederkomme.“
„Wie hat der Mann ausgesehen?“
„Blond, mittelgroß, sonst nichts Auffälliges.“
„Orchid?“
„Kann schon sein. Der Mann hat auch nach den Sachen von Murray/ Bates gefragt, die er in der Wohnung zurückgelassen hatte, doch Mrs. Perkins ist eine Hundertprozentige, sie hat nichts rausgegeben. Hat alles noch in einem Karton auf ihrem Dachboden.“
„Lass mich raten, dir wollte sie die Sachen auch nicht zeigen?“
„Hai. Aber sie hat einen sehr tiefen Schlaf.“
Ondragon musste grinsen. „Du bist bei ihr eingestiegen.“
„Ganz leise. War auch nicht schwer. Diese Landeier hier verschließen noch nicht einmal nachts ihre Türen.“ Jetzt war es Charlize, die am anderen Ende des Telefons lachte. Ondragon liebte dieses Lachen. Und es machte ihm deutlich, wie sehr er seine Arbeit und sein Büro in L.A. vermisste.
„Ich habe mir den Kram in der Kiste angesehen. Zuerst fand ich nichts Besonderes, nur Klamotten und Hygieneartikel und so’n Zeugs. Aber da waren auch ein dutzend Schuhkartons mit diesen Gesundheitsschuhen darin, weiß du, die mit der komischen runden Sohle.“
Bei diesem Wort klingelte es bei Ondragon. Verschwommen sah er ein Paar abgetragene Schuhe vor sich.
„Ich habe alles durchwühlt, auch die Kartons, und in einem bin ich fündig geworden. In einem der Schuhe war unter der Einlegesohle ein kleiner USB-Stick versteckt. Ich habe ihn mitgenommen und mit meinem Notebook ausgelesen. Und nun rate mal, was ich gefunden habe?“
„Dass Bates kein Physiotherapeut war?“
„Genau. Er war Privatdetektiv, angestellt bei einer kleinen Detektei in St. Louis und er hieß mit richtigem Namen Simon Ricks. Aber er arbeitete vermutlich auf eigene Rechnung. Das heißt, er war ganz allein einem Skandal auf der Spur, von dem er niemandem etwas erzählt hat, nicht einmal seinem Boss. Einem Skandal, der sich von London über Rochester in Minnesota, bis hier nach Orr, oder besser gesagt, bis zur Cedar Creek Lodge verfolgen lässt. Ricks hat viel Aufwand betrieben, seine Ermittlungen sind bis 2007 zurückdatiert, da hat er wohl seine Jagd begonnen, war sogar in England und hat dort recherchiert. Wenn die Informationen wasserdicht sind, dann sind sie ganz schön viel Geld wert, vorausgesetzt, er wollte die Person, die er im Visier hatte, damit erpressen.“
„Dr. Jonathan Aaron Arthur.“
„Wieder richtig! Du bist doch ganz gut drauf, Chef. Sicher ist, dass Ricks in einer Menge schmutziger Wäsche rumgewühlt hat, und es wäre kein Wunder, wenn man ihn deshalb aus dem Weg geräumt hätte. Das würde zumindest erklären, warum er verschwunden ist. Ich habe nämlich mit seinem Boss in St. Louis gesprochen. Der erzählte mir, dass Ricks schon länger zweigleisig gefahren ist, und man kurz davor gewesen sei, ihn rauszuschmeißen. Doch dann kam Ricks Kündigung per Fax. Er hat nicht mal seine Sachen aus dem Büro geholt. Das war Ende des letzten Jahres.“
„Da war für ihn wahrscheinlich klar, dass er den Jackpot geknackt hatte.“
„Sieht so aus.“
„Ich werde Dr. Arthur noch heute zur Rede stellen. Dann ist es vorbei mit seiner kleinen Forschungsfarm hier.“
„Forschungsfarm?“
„Ja, er hält sich hier ein paar Kannibalen und beobachtet ihr Verhalten in situ sozusagen. Das heißt, er hält sie in keinster Weise davon ab, sich ihren Gelüsten hinzugeben. Genau das müsste Bates/ Ricks doch auch rausgefunden haben. Dr. Arthur hält sich die Kannibalen wie in einem Zoo und deckt ihre Verbrechen. Erst vorgestern …“
„Chef, es ist besser, wenn du Dr. Arthur nicht zu nahe kommst. Halt lieber die Füße still und komm nach Orr. Von hier aus können wir den Mistkerl genauso gut fertig machen. Mit den Beweisen von dem USB-Stick haben wir ihn in der Hand.“
„Ach, Charlize, mit dem Doc werde ich schon fertig, keine Sorge.“
„Chef, bitte! Der Typ ist noch verrückter als du!“
„Ach was. Sag lieber, dass du den USB-Stick von Ricks sicher verwahrt hast.“
„Hai, natürlich.“
„Gut, ich muss jetzt Schluss machen. Das Finale wartet.“
„Aber, Chef …“
Ondragon legte auf. Er hatte keine Lust, sich von Charlize belehren zu lassen. Mit Dr. Arthur würde er schon klarkommen. Es wäre ein Duell auf Augenhöhe, von Gentleman zu Gentleman sozusagen. Klare Regeln, klare Waffen. Doch zuerst ein gutes Frühstück und dann ein letztes Gespräch mit Kateri.
Als Ondragon das Zimmer verlassen wollte, klingelte sein Handy. Schnell stellte er es aus. Auch wenn es jetzt eigentlich egal war, musste ja trotzdem noch niemand von dem Telefon erfahren. Man konnte schließlich nicht genug Trümpfe im Ärmel haben. Er schloss die Tür hinter sich, trennte seinen Talisman vom Schlüssel und steckte beides in die Hosentasche.
Auf dem Flur vor dem Restaurant stieß er mit Shamgood und Norrfoss zusammen. Ausgerechnet! Die beiden blonden Giftterrier versperrten ihm den Weg und lächelten ihn scheinheilig an. Sie sahen aus, als seien sie an der Hüfte zusammengewachsen und sie bewegten sich beinahe so synchron wie siamesische Zwillinge. Wahrscheinlich lutschten sie sich auch gegenseitig synchron ihre Schwänze.
„Guten Tag, Mr. Ondragon. Wir haben uns lange nicht mehr gesehen. Oh, Sie sehen ja aus wie ein Karnickel nach dem Waldbrand! Hatten wohl eine schlimme Nacht, richtig? Oder sollte ich besser sagen, einen schlimmen Tag? War nicht gerade Ihre beste Vorstellung gestern, richtig? Ich habe gehört, dass der Deputy äußerst unflätig über sie geschimpft hat. Ist ja auch nicht schön, wegen nichts und wieder nichts stundenlang im Wald herumzurennen.“ Shamgood wandte sich an seine jüngere Kopie. „Ich glaube, der liebe Mr. Ondragon ist lädierter im Kopf, als wir geglaubt haben. Sieht schon Gespenster, wo keine sind.“
Der Zorn versetzte Ondragons Inneres in Schwingung. Er war wie ein Todespendel, das immer schneller schlug und wenn es erst die richtige Geschwindigkeit erreicht hätte, würde es die beiden Affen mit voller Wucht aus den Schuhen hauen. Apropos Schuhe, eigentlich hatte er viel Wichtigeres zu tun, als sich mit diesen aufgeplusterten Gockeln herumzuärgern. Ohne ein Wort umrundete Ondragon die beiden und ließ sie einfach stehen.
„Mr. Lyme ist übrigens abgereist. Nein, nicht, was Sie jetzt denken. Er ist nicht ins selige Himmelreich aufgefahren, er ist zu Hause in New York. Nur, falls Sie das interessiert, Mr. Ondragon, er hat eine E-Mail an Dr. Arthur geschrieben, in der er den Abbruch seiner Therapie begründet hat. Der Ärmste hatte Heimweh nach seiner großen Stadt. Och, er ist genau so ein Stadtsöhnchen wie Sie!“
Ondragon wusste auch nicht, warum er es tat, verstieß es doch vollkommen gegen sein eigenes Gebot, immer die Ruhe zu bewahren. Er sah wie Shamgood in sein Gesichtsfeld rückte, seine Faust hob sich und schwebte in Zeitlupe auf die grinsende Visage des gelifteten Dolph Lundgren Doubles zu. Er hörte den Schrei und das Brechen der Nase. Blut schoss Blondie aus dem Gesicht, und er krümmte sich.
„Das werden Sie mir büßen!“, kreischte Shamgood, während er versuchte, mit einem rasch gezückten Spitzentaschentuch die Blutung zu stoppen.
„Kein Problem“, sagte Ondragon kühl. „Hier.“ Er schnippte dem hyperventilierenden Modedesigner eine seiner Visitenkarten entgegen. „Darauf finden Sie die Nummer meines Anwalts, reichen Sie ihre Klage wegen Körperverletzung bitte bei ihm ein. Und tun Sie mir einen Gefallen, bitte lassen Sie sich eine neue Nase machen, Ihre alte war so hässlich wie der Zinken von Barbara Streisand!“
Shamgood starrte ihn hasserfüllt an. „Ich werde Dr. Arthur von diesem Zwischenfall berichten. Er wird Sie noch heute rausschmeißen!“
„Sparen Sie sich die Mühe, Shamgood, ich bin sowieso so gut wie raus hier! Au revoir, oder besser nicht.“ Mit diesen Worten ließ Ondragon die beiden verdutzten H2O2-Faschisten stehen, betrat das Restaurant und suchte nach dem Gesicht, das ihn jetzt am meisten interessierte. Aber Kateri war nirgends zu sehen. Versteckte sie sich immer noch vor ihm?
Er setzte sich an seinen Tisch und ließ sich von Carlos die letzte Mahlzeit in diesem Hause servieren. Während er seine Hafergrütze aß, versuchte er die unerfreuliche Episode mit Shamgood zu vergessen und diesen Augenblick zu genießen, diesen so wunderbar erleuchtenden Moment kurz vor der Auflösung eines Rätsels. Trotz seiner Unpässlichkeit durch das Fieber und trotz des kleinen Vermögens, das er für die Therapie hier in den Sand gesetzt hatte, war er äußerst zufrieden. Gedankenvoll nippte er an seinem dreifachen Espresso und schaute zum Fenster hinaus. Das Sonnenlicht schimmerte auf dem See, und ein Schwarm Wasservögel dümpelte auf der glitzernden Oberfläche vorbei. Es war die Ruhe vor dem Sturm. Eine Blase mit aufgeladener Materie, in der alle Kraft sich sammelte und sich langsam zu einem einzigen machtvollen Schlag konzentrierte. Ondragon fühlte sich elektrisiert wie ein Rennpferd, das den Startschuss witterte. Ein erwartungsvolles Zittern bemächtigte sich seiner Glieder. Er stellte die leere Tasse ab. Es war soweit!