15. Kapitel
2009, Moose Lake, Cedar Creek Lodge
Ondragon erwachte aus dem Traum, noch bevor sein Wecker klingelte. Es war seltsam. Warum träumte er mitten im Sommer von einem verschneiten Wald und einer Horde schmutziger Männer in antiquierten Uniformen? Er setzte sich auf. Das blass graue Licht des frühen Morgens fiel in sein Zimmer, und durch den Vorhangschlitz konnte er die tiefhängenden Wolken am Himmel erkennen. Es schien noch immer zu regnen. Toll!
Um 7.30 Uhr saß er allein an seinem Tisch beim Frühstück und um acht Uhr hatte er es beendet, gerade in dem Moment, als Sheila den Raum betrat und auf ihn zusteuerte.
„Mr. Ondragon, Deputy Hase wartet oben im zweiten Stock in Sprechzimmer drei auf Sie.“ Ohne seine Antwort abzuwarten, drehte sie sich um und verließ das Restaurant wieder.
„Herzlichen Dank, Sheila“, murmelte Ondragon und erhob sich. Auf dem Weg zur Tür bemerkte er, wie zwei Paar Augen ihn eingehend musterten. Norrfoss hatte sich zu Shamgood gesellt, und nun saßen die beiden da und steckten die Köpfe zusammen. Ondragon hörte sie tuscheln. Da hatten sich ja zwei gefunden!
Ohne die beiden Blondlöckchen weiter zu beachten, verließ er das Restaurant und begab sich nach oben. Zuerst in sein Zimmer, um die Tüte mit den Laufschuhen zu holen, und dann in den zweiten Stock.
Nachdem er geklopft hatte, öffnete Ondragon die Tür zu dem provisorischen Besprechungsraum und trat ein. Deputy Hase war noch nicht da, dafür stand ein grauhaariger Mann mit Halbglatze und randloser Brille am Fenster und hinter ihm eine Frau um die Sechzig in Outdoorbekleidung. An den Mienen der beiden konnte er erkennen, dass sie vor seinem Eintreten eine erhitzte Debatte geführt hatten. Der Mann löste sich zuerst aus seiner Starre und kam Ondragon mit ausgestreckter Hand entgegen: „Guten Morgen, ich bin Dr. Peter Schuyler, der zuständige Medical Examiner aus Hibbing.“
Ondragon stellte sich vor und schüttelte die Hand, dann wandte er sich an die Lady, die säuerlich dreinschaute.
„Dr. Jill Layton“, sagte sie mit tiefer Stimme, „ich arbeite als Verhaltensforscherin für die American Bear Association in Orr und wurde in diesem Fall als Bären-Expertin hinzugezogen. Ich soll klären, ob es sich tatsächlich um eine BärenAttacke handelt.“
„Und?“, fragte Ondragon neugierig.
Dr. Layton und Dr. Schuyler öffneten beide gleichzeitig den Mund, doch die Wissenschaftlerin ließ dem Medical Examiner schließlich resignierend den Vortritt.
„Ich habe die Bissspuren untersucht, und bin der festen Überzeugung, dass es sich dabei um Verletzungen handelt, die nur durch ein großes Gebiss mit vier langen Fangzähnen verursacht werden konnten, postmortal wie prämortal. Und da der Säbelzahntiger seit dem Pleistozän ausgestorben ist, kommt dafür in diesen Breiten nun einmal nur der Bär infrage.“ Dr. Schuyler warf einen Seitenblick auf Dr. Layton, die säuerlich die Nase rümpfte. „Ob es sich dabei allerdings um einen Schwarzbären oder einen Grizzly handelt, das muss unsere ‚Jane Goodall‘ hier klären. Ich bin nur für die forensischen Fakten zuständig und nicht für Zoologie.“ Er deutete mit dem Daumen auf die Bären-Expertin. Ihre gegenseitige Ablehnung war nicht zu übersehen.
„Verhaltensforschung, Dr. Schuyler, nicht Zoologie! Und ich werde erst ein Statement abgeben, wenn ich mir den Fundort angeschaut habe. Dies ist eine äußert brutale Attacke für einen Bären.“
Dr. Schuyler stieß ein Lachen aus. „Also, ich würde es immer als brutal bezeichnen, von einem Bären verspeist zu werden!“
„Ihre Vorurteile helfen uns auch nicht weiter! Nur weil Sie Bissspuren gefunden haben, muss es noch lange kein Bär gewesen sein! Die Tiere in dieser Gegend sind äußerst scheu. Zumindest ist es hier nicht so wie in den Nationalparks, wo sie von unwissenden Touristen gefüttert werden. Dort werden die Tiere dadurch konditioniert, sie nähern sich dem Menschen, weil sie etwas zu fressen von ihm erwarten. Und sie verhalten sich aggressiv, wenn sie es nicht bekommen, oder sie der Mensch in ihrem Revier stört! Nicht er dringt in unseren Lebensraum ein, sondern wir in den seinen. Bären gibt es schon viel länger auf diesem Planeten, als den Menschen. Wir sollten mehr Rücksicht auf diese Kreatur nehmen. Und ich kann meine Hand dafür ins Feuer legen, dass es kein Bär aus dieser Region war.“
Dr. Schuyler stieß belustigt Luft aus, doch Dr. Layton ließ sich nicht beirren. „Hier in den Wäldern von Minnesota, wo wir ausführliche Forschungen betreiben, stellen wir immer wieder fest, dass die meisten Bären den Menschen meiden, ja, sogar vor ihm fliehen.“
„Sie sagen es: die meisten, aber offenbar nicht alle.“ Der Medical Examiner hob einen Finger. „Für mich sprechen die Bissspuren eine deutliche Sprache. Und sind wir doch mal ehrlich, was soll es denn sonst gewesen sein? Etwa ein verrückter Kannibale, der sich Eisenkrallen überzieht und einsame Wanderer ermordet, um sie aufzufressen?“
„Zum Beispiel …“ Dr. Layton verschränkte die für ihr Alter erstaunlich muskulösen Arme vor der Brust.
„Das ich nicht lache, Dr. Layton …“
Während sich die beiden Akademiker weiterstritten, läuteten bei Ondragon gleich mehrere Glocken. Hatte Miss Wolfe nicht gestern erst von einem menschenfressenden Monster gesprochen? Ihrer Beschreibung nach war der Wendigo ein Mensch, der sich in eine Art Kannibalenwerwolf verwandelte. Zum Glück war das bloß ein Märchen - wenn auch ein gutes, musste er zugeben. Aber da war noch etwas anderes, das im Zusammenhang mit Kannibalismus gestanden hatte. Nur, was war das gewesen? Ondragon wollte es nicht einfallen.
Unterdessen stänkerte Dr. Schuyler weiter: „Ich glaube, Sie wollen der Wahrheit nicht ins Gesicht blicken, Dr. Layton! Denn dann müssten Sie zugeben, dass Ihre Kuschelbären, gar nicht so kuschelig sind, sondern reißende Bestien!“
„Nun machen Sie aber mal halblang! Wenn hier gleich jemand zur Bestie wird, dann bin ich das, weil ich mir Ihr unsachliches Gelaber nicht mehr länger anhören kann!“ Die Verhaltensforscherin zeigte ihrem Kontrahenten ihre kräftigen Zähne, doch bevor der Pathologe auf die Beleidigung kontern konnte, ging die Tür auf und Deputy Hase kam herein. Die Diskussion verstummte.
„Guten Morgen“, brummelte der Hilfssheriff und gab Ondragon nur widerstrebend die Hand.
Heute schien sein Gesicht noch wunder zu sein von dem Bestreben, die wenigen Haarstoppeln zu rasieren, die aus seiner rosigen Haut sprossen. 25 Jahre, nicht älter schätzte er ihn. Und vor so einem Bauerntölpel sollte er Respekt haben?
„So, dann wollen wir mal hören, was unser … Zeuge hier zu sagen hat“, ergriff Hase das Wort und gab Ondragon ein Zeichen, zu sprechen.
Als dieser anschließend die Erlebnisse von seiner Joggingrunde berichtete, beobachtete er aufmerksam die Reaktionen auf den Gesichtern der Anwesenden. Dr. Schuylers Miene wirkte immer zufriedener, während Dr. Laytons Ausdruck von belustigt zu ungläubig wechselte.
„Sehen Sie, das ist der Beweis!“, rief die Verhaltensforscherin aus, nachdem Ondragon seinen Bericht beendet hatte. „Das war kein Bär!“
„Und weshalb nicht?“, stichelte Dr. Schuyler.
„Weil ein Bär niemals einen Menschen verfolgen würde, der jede Menge Lärm macht! Das passt nicht in sein natürliches Verhalten.“
„Aha.“ Schuyler lachte amüsiert. Das Licht der Deckenlampen wurde von seinen Brillengläsern reflektiert, als er sich an Ondragon richtete. „Und, was sagen Sie dazu?“
„Ich? Tja, ich habe weder Ahnung von Bären noch von Spurensicherung.“ Das Erste stimmte, das Zweite nicht, aber das mussten diese beiden Streithähne nicht wissen, genauso wenig, dass am Tatort ein Netz über den Weg gespannt gewesen war. „Und ich habe das Tier nicht gesehen, das mich verfolgt hat, deshalb möchte ich mich dazu nicht äußern. Ich hoffe, Sie haben dafür Verständnis.“
„Wie diplomatisch von Ihnen, Mr. Ondragon.“ Deputy Hase lächelte dünn. „Aber da wäre noch etwas, das uns bereits gestern aufgefallen ist, als Dr. Schuyler und ich den Tatort untersucht haben. Das Gestrüpp, in dem wir die Leiche gefunden haben und durch das Sie gemäß Ihren Angaben hindurchgerannt sind, ist ziemlich hoch und befindet sich wie eine dichte Wand aus Ästen zu beiden Seiten des Weges.“
Ondragon nickte. Er wusste nicht, worauf der Deputy hinaus wollte.
„Warum sind Sie nicht einfach auf dem Weg geblieben, als sie vor dem Bären geflüchtet sind? Warum sind Sie mitten durch das unwegsame Gestrüpp, wo Sie doch leicht über den Weg hätten entkommen können?“
Der Provinz-Bulle war nicht auf den Kopf gefallen. Aber dieser Art von Bauernschläue war er allemal gewachsen. Ondragon räusperte sich und spielte den Verlegenen. „Tja, es ist so, ich komme aus der Großstadt und mit Natur habe ich normalerweise nichts am Hut. Bevor ich um den See gejoggt bin, habe ich den Gärtner Frank getroffen, und der hat mir erzählt, es gebe hier Bären und ich solle vorsichtig sein. Außerdem ist da noch ein Schild, auf dem bear‘s den steht. Als ich dann die Geräusche hinter mir hörte, dachte ich, es wäre ein Bär, und ich geriet in Panik. Ich habe mich in das Gestrüpp geschlagen in der Hoffnung, dass der Bär mich dort nicht findet. Das war natürlich naiv von mir, aber“, er hob beide Hände, „das war meine erste Begegnung mit der hiesigen Tierwelt.“ Er lachte beschämt.
Dr. Layton nickte mit strenger Miene, aber sie schien ihm seinen unqualifizierten Verdacht gegen ihre geliebten zu groß geratenen Teddybären zu verzeihen. „Der bear‘s den“, erklärte sie, „ist eine Höhle zwei Meilen östlich des Moose Lake. Ich kenne sie. Sie wird von den Indianern als Kultstätte benutzt. Aber Bären hausen dort schon lange nicht mehr.“ Sie strich sich das weißblonde Haar zurück und lächelte großmütterlich. „Wollen Sie wissen, was ich glaube, Mr. Ondragon?“
„Zu gern.“ Aus den Augenwinkeln sah er, wie Dr. Schuyler mit den Augen rollte.
„Ich glaube, da hat Sie jemand reingelegt. Da wollte Ihnen jemand Angst einjagen, hat sich dort versteckt und komische Geräusche von sich gegeben, als Sie vorbeigelaufen sind. Es ist purer Zufall, dass an diesem Ort auch die Leiche lag. Vielleicht war der, der Ihnen den Streich gespielt hat, sogar der junge Typ, der die Leiche gefunden hat …“
„Pete? Das kann ich mir nur schwer vorstellen.“
Dr. Layton zuckte mit den Schultern. „Wie auch immer. Die Spuren am Tatort werden jedenfalls belegen, dass es kein Bär gewesen ist.“ Damit sah sie Dr. Schuyler an.
Der wollte zu einer Entgegnung ansetzten, doch Deputy Hase kam ihm zuvor: „Keine Sorge, Dr. Schuyler, wir werden den Fall schon lösen, ob mit oder ohne Bär. Aber vorher bringen Sie Dr. Layton zum Fundort und geben ihr die Möglichkeit, ihre Untersuchungen durchzuführen, während ich die Befragung der restlichen Gäste und Angestellten der Lodge in die Wege leite.“ Der Ton war sachlich, trotzdem spürte Ondragon, dass er sich mit dem Wort Gäste schwertat. Wahrscheinlich hatte Dr. Arthur ihn zuvor bezüglich der erlesenen Klientel der CC Lodge ausführlich informiert. „Das war’s auch für Sie, Mr. Ondragon. Ihre Schuhe werden wir so lange behalten, bis die Untersuchungen der Kriminaltechniker abgeschlossen sind. Danach bekommen Sie sie wieder.“
„Oh, bitte, behalten Sie die Dinger, ich will sie nicht zurückhaben.“ Die Vorstellung, damit im Brustkorb einer verwesten Leiche festgesteckt zu haben, regte nicht gerade dazu an, sie je im Leben noch einmal anzuziehen, auch wenn sie so gut wie neu waren. Er würde sich heute bei amazon neue Laufschuhe bestellen, vorausgesetzt, der Laden lieferte auch hier in die Einöde.
„Ihre Entscheidung.“ Deputy Hase rückte seinen khakifarbenen Hut zurecht und wies auf die Tür. „Halten Sie sich bitte zur Verfügung, Mr. Ondragon, falls wir noch weitere Fragen haben sollten. Guten Tag noch.“ Damit scheuchte er ihn aus dem Raum.
Da es noch keinen Sinn hatte, nach einer Nachricht von Rudee zu sehen, begab sich Ondragon in den Spabereich, um sich zuerst an den Fitnessgeräten auszupowern und danach etwas zu entspannen. Aufgrund des schlechten Wetters war er leider nicht der einzige mit dieser Idee, aber die meisten Gäste hockten glücklicherweise in dem orientalischen Dampfbad nebenan und niemand in der guten alten Sauna. Umso besser, dann beschwerte sich wenigstens niemand über seine glühend heißen, schwedischen Aufgüsse!
Auf der obersten Holzbank lang ausgestreckt genoss Ondragon das Zischen der Steine und den Schweiß, der über seine Haut perlte. Es erinnerte ihn an seine Kindheit, an die wenigen Wochen, die er jedes Jahr im Winter allein mit seiner Mutter in Schweden verbracht hatte, damit sie für ihren Langlaufsport trainieren konnte. Denn Teheran, Nairobi, Kairo, Bangkok, Tokio, all die Städte, in denen er mit seinen Eltern gelebt hatte, waren nicht gerade ein Mekka des Wintersports gewesen. Aber sein Vater hatte Ava Birgitta Ondragon keinen Wunsch abgesprochen. Er hatte ihr immer alles gegönnt, ihren Sport, ihren Erfolg und auch, dass sie über Weihnachten ihren Sohn für vier Wochen mit sich in ihre Heimat nahm. Warum war sein Vater nicht auch zu ihm so gewesen?
Nach dem dritten Gang gönnte Ondragon sich etwas Ruhe auf einer bequemen Liege im gedimmten Vorraum und döste vor sich hin. Geweckt wurde er erst vom Zufallen einer Holztür; jemand war in die Sauna gegangen. Träge erhob er sich und versuchte sein Glück bei den Massagen. Tatsächlich war einer der Masseure gerade frei und lud ihn ein, sich auf die Pritsche zu legen.
„Mein Name ist Vernon, wo zwickt‘s denn?“
„Paul.“ Ondragon reichte dem schwarzen Hünen, der aussah wie ein Double von Shaquille O`Neal, die Hand. „Zuerst den Rücken und dann vielleicht noch die Beine.“
„Kein Thema, Mann. Cooles Tattoo übrigens!“ Vernon zeigte mit Fingern, die einem Kürbiskopf das Licht ausdrücken konnten, auf Ondragons Brust, wo sich vom linken Schlüsselbein bis zur Brustwarze ein Drache im japanischen Stil schlängelte. In seiner rechten Klaue hielt er die japanischen Schriftzeichen für das Wort Rätsel und in der anderen ein O.
Ondragon blickte kurz an sich herunter und nickte. „Danke, war ‘ne kleine Jungendsünde. Hab ich mir mit achtzehn in Japan stechen lassen, auf traditionelle Weise mit Bambusnadeln. Kann ich wirklich niemandem empfehlen, hat höllisch wehgetan! Aber es erinnert mich stets an etwas, und deshalb konnte ich mich noch nicht davon trennen.“
Vernons Babygesicht verzog sich zu einem Lächeln. Er krempelte seinen linken Ärmel hoch und entblößte stolz einen Anker und zwei Schwalben auf seinem Ballon-Bizeps. Ein Klassiker.
„Aus Hamburg, bin mal zur See gefahren, bevor ich umgeschult habe.“
„Na, dann sind Sie ja schon viel rumgekommen.“ Ondragon legte sich mit dem Bauch auf die Pritsche, und Vernon begann fachmännisch sein Werk. „Finden Sie das dann nicht ein bisschen zu langweilig hier mitten im Nirgendwo?“, fragte er den Masseur und spürte mehr als dass er es sah, wie Vernon mit den massigen Schultern zuckte.
„Ich hab mich, wie sagt man, ganz ordentlich ausgetobt in meiner Vergangenheit.“ Er lachte, und Ondragon konnte sich gut vorstellen, was er meinte. „Aber irgendwann hat man jeden Hafen gesehen und stellt fest, dass der beste Kai immer noch zu Hause ist.“
Das war weise.
„Ich komme aus Minneapolis und die See hat mich gelehrt, dass ein Mensch nur schwer zu entwurzeln ist. Deshalb bin ich zurückgekommen und, hey, ich hab eine süße Lady kennengelernt und sie geheiratet. Wir haben zwei Kinder.“
Beneidenswert. Ondragon fragte sich, wo er selbst seine Wurzeln hatte. In Schweden? Oder in Deutschland? Thailand? Japan?
„Und wie sieht es mit Ihnen aus, Paul? Haben Sie Kinder?“
Ondragon überlegte, was er erzählen sollte. Er hatte nicht einmal eine feste Freundin, weil das, was er tat, zu gefährlich war, um es mit Frau und Kindern zu vereinbaren. Für ihn war es besser, ohne zu sein. Eine Familie machte ihn erpressbar. Sicher, auch Mafiabosse hatten eine Familie, meistens sogar eine ziemlich große, obwohl sie viele Feinde hatten. Vielleicht war es aber auch so, dass er sich noch nicht bereit dazu fühlte, diese Verantwortung zu übernehmen. Er drehte den Kopf, um den dunkelhäutigen Riesen ins Blickfeld zu bekommen. Dessen Hände walkten und kneteten seinen Rücken als sei er Brotteig.
„Nein, ich habe keine Kinder. Ich glaube, ich habe einfach noch nicht die richtige Frau gefunden.“
„Das ist schade, Mann. Kinder sind das Salz des Lebens. Es gibt nichts Schöneres, als sie aufwachsen zu sehen.“
„Darf ich Sie fragen, wo Ihre Familie lebt? Doch sicher nicht hier auf dem Gelände der Lodge, oder?“
„Sie wohnen in Cook, das liegt dreißig Meilen südlich von Orr. Dort hat meine Frau einen Job und die Kids können zur Schule gehen. Ich fahre Doppelwochen-Schichten. Das heißt: zwei Wochen arbeiten, zwei frei. Das ist ganz okay und wir können gut davon leben. Ich bin nicht so anspruchsvoll, Hauptsache der Familie geht‘s gut.“
Aha, also gehörte Vernon zu den Wenigen, die nicht dauerhaft hier wohnten. Ondragon beschloss, die Entspannung als netten Nebeneffekt anzusehen und verlagerte sich darauf, Vernon geschickte Fragen zu stellen, um sich mehr Einblick in die Abläufe der Lodge zu verschaffen.
„Na klar kenne ich Jeremy Bates“, dröhnte Vernon wenig später, und Ondragon lächelte still in sich hinein. Wie die Leute doch zu reden begannen, wenn man auf die richtigen Knöpfe drückte. Der Matrosen-Masseur schien sogar richtig froh zu sein, ihm diese Geschichte präsentieren zu können. „Ich bin damals für Bates eingesprungen“, erzählte er munter weiter. „Deshalb habe ich auch den ganzen Wirbel um seine Entlassung mitbekommen.“
„Entlassung?“, fragte Ondragon.
„Oh ja, das war letzten Winter“, entfuhr es Vernon. Und während der Masseur so richtig in Fahrt kam, erfuhr Ondragon, dass Jeremy Bates in der gegenläufigen Schicht gearbeitet hatte, weshalb sich die beiden Männer zumeist nur bei den Wechseln begegnet waren. Manchmal sogar nicht mal dann. Nachdem Bates entlassen worden war, so erzählte Vernon, hatte er ihn nicht wiedergesehen. Angeblich wohnte er noch immer in Orr, aber keiner hätte so richtig Kontakt zu ihm gehabt.
„Weshalb musste er die Lodge denn verlassen?“
„Bates hat gegen die Regeln verstoßen. Er hat einem Gast das Auto hierher in den Wald gefahren und versteckt, damit dieser heimlich kleine Spritztouren machen konnte. Die ganze Sache ist überhaupt nur aufgeflogen, weil der gewisse Gast, dem Bates diesen Gefallen getan hat, eines Tages spurlos verschwunden ist. Wir haben nach ihm gesucht und dabei die Reifenspuren von seinem Auto entdeckt.“
Soweit deckte sich Vernons Geschichte mit der von Kateri Wolfe, dachte Ondragon. Doch was der Masseur danach erzählte, war neu … und äußerst … fabulös.
„Natürlich ist es nur ein Gerücht, aber alle hier in der Lodge kennen es.“ Vernon klatschte mit beiden Händen auf Ondragons Rücken. „Ich habe es auch nur von jemandem gehört. Angeblich soll Jeremy Bates zwei Tage vor dem Vorfall gegen Abend hinten zum Spabereich nach draußen gegangen sein, um eine zu rauchen. Dabei soll er seltsame Spuren im Schnee gefunden und sie aus Neugierde bis in den Wald hinein verfolgt haben. Ein Geräusch hat ihn auf eine Gestalt aufmerksam werden lassen, die sich in einiger Entfernung durch das verschneite Gestrüpp schlich. Bates verbarg sich hinter einem Baumstamm und beobachtete die Gestalt. Sie soll ein zotteliges Fell gehabt haben und doppelt so groß gewesen sein wie er selbst!“
„Ein Bär!“
„Nein, kein Bär!“ Vernon machte eine bedeutungsvolle Pause, um die Dramatik seiner Erzählung zu erhöhen. Und Ondragon fragte sich derweil, ob er hier gerade einen besonders dicken Vertreter der Familie Ursidae aufgebunden bekam, aber er ließ Vernon weiterplaudern.
„Bates bemerkte wohl, wie die unheimliche Gestalt etwas in den Schnee fallen ließ. Er wartete und ging, nachdem das Wesen verschwunden war, zu der Stelle und grub es aus.“ Hier lachte Vernon amüsiert auf. „Wahrscheinlich wünscht er sich noch heute, er hätte es besser nicht getan!“ Sein Lachen erstarb, und seine Stimme senkte sich geheimnisvoll, so als erzähle er seinen Kindern eine Gruselgeschichte. In der Tat war er kein schlechter Märchenonkel. Aufmerksam lauschte Ondragon. „Was Bates fand, war wohl nicht gerade appetitlich, wissen Sie? Man erzählt sich, er hätte sich später auf seinem Zimmer immer wieder übergeben.“ Wieder eine Pause. „Raten Sie doch mal, was im Schnee gelegen hat, Paul?“
Ondragon zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung.“
„Bates soll einen menschlichen Arm gefunden haben! Eine blutige Frauenhand mit lackierten Nägeln!“
Ondragon fragte sich, woher Vernon das so genau wusste, wenn er doch nicht dabei gewesen war, oder warum damals niemand die Polizei eingeschaltet hatte. Er ließ dem Masseur die Freude an seinem fantastischen Schauermärchen und hörte sich bereitwillig auch noch das Ende an. Natürlich war der Arm verschwunden und sämtliche Spuren verwischt gewesen, als Bates wenig später gemeinsam mit dem Kollegen die besagte Stelle aufgesucht hatte. Aber Bates hatte immer wieder von der Gestalt erzählt und behauptet, es sei der Wendigo gewesen.
Na klar, dachte Ondragon. Jetzt begegnete er diesem Märchenwesen schon zum zweiten Mal.
„Haben Sie schon mal vom Wendigo gehört, Paul?“, fragte Vernon.
„Ja, das ist so doch ein indianisches Waldmonster, das Menschen frisst, oder?“
„Genau. Ganz schön spooky, was?“ Vernon klopfte Ondragon erneut auf den Rücken. „So, Sie können sich jetzt umdrehen, dann nehme ich mir mal Ihre Beine vor.“
Ondragon legte sich auf den Rücken. „Nette Story. Aber was hat Bates dann gemacht?“
Vernon hob die gewaltigen Achseln. „Er ist durchgedreht. Hat immer wieder diese Geschichte erzählt. Zwei Tage später war weg.“
Ondragon schürzte nachdenklich die Lippen. War dies nun einfach eine Gruselgeschichte, die sich die Angestellten zusammenfabuliert hatten? Lange, einsame Winternächte machten ja bekanntlich schwermütig … aber auch erfinderisch. Das würde jeder Skandinavier sofort unterschreiben. In der Bates-Sache gab es allerdings zu viele Unstimmigkeiten, als dass nicht doch ein Fünkchen Wahrheit dran sein könnte, zumindest an seinem psychotischen Verhalten.
„Machen Sie sich keine Sorgen, Paul. Es gibt keinen Wendigo. Das ist alles bloß erfunden. Bates war eine Nervensäge, es wurde viel über ihn geredet. Er war eben ein komischer Kauz und hat allen ständig mit diesen dämlichen Gesundheitsschuhen in den Ohren gelegen, war wohl nebenbei noch im Vertrieb für diese Dinger tätig. Wissen Sie, welche ich meine? Diese komischen, sauteuren Barfuß-Schuhe mit der abgerundeten Sohle. Die sind gerade der neueste Schrei. Bates trug selbst immer welche. Außerdem wusste jeder, dass er sich hier nie wohlgefühlt und immer Angst vor der Wildnis gehabt hatte.“ Vernon lachte, als sei dies das Abwegigste von der Welt. „Er ist einfach nicht klargekommen und durchgedreht. Und der verschwundene Gast ist ja schließlich auch wieder aufgetaucht, er hatte die Behandlung auf eigenen Wunsch abgebrochen und war, ohne Bescheid zu sagen, nach Hause gefahren. So einfach ist das!“
Ondragon nickte, während er sich fragte, was der verschwundene Oliver Orchid wohl über seinen Therapieabbruch zu berichten hätte.
„Machen Sie viel Sport, Paul?“, wechselte Vernon das Thema. „Ihr Körper ist gut durchtrainiert, das merkt man auch beim Massieren. Kleine Verspannungen hier und da, aber ansonsten eine gute Muskulatur.“
„Ja, ich versuche jeden zweiten Tag etwas zu machen, Joggen, Kampfsport, Basketball …“
„Basketball? Hey, das trifft sich gut, dann können wir ja mal ‘ne Runde spielen, wenn Sie Lust haben und das Wetter wieder besser ist. Neben dem Tennisplatz gibt es einen Korb, und ich habe einen guten Lederball. Den hab ich immer dabei, sogar damals auf dem Schiff.“ Vernon lachte sein angenehm tiefes Lachen, wie es nur entspannte Afroamerikaner haben konnten.
„Warum nicht, ist eine gute Alternative zum Joggen. Aber es geht erst, wenn ich neue Sportschuhe habe. Meine sind nämlich heute von der Polizei konfisziert worden.“
„Ach, Sie sind derjenige, der in die Leiche getreten ist! Ganz schön ekelig!“
Na prima, dachte Ondragon, das hatte sich also auch schon herumgesprochen. Es war unfassbar, wie schnell das hier ging.
Vernon zog die Nase kraus. „Yacky. Also wer ist denn jetzt der Tote? Weiß man schon Näheres?“
Ondragon hatte Deputy Hase erzählen hören, dass die Polizei alle Vermisstenfälle aus dem letzten halben Jahr durchging. Das konnte nur bedeuten, man glaubte, dass es niemand aus der Lodge war. „Der Medical Examiner muss die Leiche erst untersuchen“, entgegnete er und verschwieg vorsichtshalber den hauptverdächtigen Bären. Dabei fiel ihm auf, dass Kateri im Gegensatz zu allen anderen hier dichtgehalten haben musste, denn über die vermeintliche Bärenattacke wusste Vernon offenbar nichts. „Vielleicht war es wirklich nur ein Wanderer, der einen Unfall hatte.“
„Tja, ich will hoffen, dass es tatsächlich so war.“ Der Tonfall des Masseurs war merkwürdig, so als habe er eine schlechte Ahnung im Hinterkopf. Ondragon hätte ihn am liebsten danach gefragt, doch er wollte sich nicht als zu neugierig aufdrängen. Sein Interesse musste unauffällig bleiben. Deshalb bedankte er sich bei Vernon für die hervorragende Massage und erhob sich von der Pritsche.
„Ich hoffe, ich habe Sie mit meiner Schauergeschichte jetzt nicht verschreckt.“
„Nein, ganz und gar nicht. Im Gegenteil, Sie haben mich glänzend unterhalten, Vernon. Ich komme auf jeden Fall wieder. Und … sagen Sie mir Bescheid, wenn Sie Lust auf eine Partie Basketball haben.“
„Klar, Mann. Bis dann.“
Nachdem Ondragon sich in seinem Zimmer entsprechend angekleidet hatte, begab er sich zum Mittagessen, wo er an Kateri Wolfes Tisch Platz nahm.
„Na, haben Sie sich im Spa entspannt?“, fragte sie.
Er sah sie an. Gestern Abend war er ihr nicht auf ihr Zimmer gefolgt, was er durchaus hätte tun können, denn ihre Signale waren eindeutig gewesen. Etwas hatte ihn davon abgehalten. Keine Ahnung, was. Vernunftgefühl, gute Erziehung, Anstand? Was auch immer es gewesen sein mochte, es war der Grund, warum er ihr jetzt offen ins Gesicht blicken konnte, ohne peinlich berührt zu sein. Im Stillen dankte er seiner inneren Stimme dafür, ihn davon abgehalten zu haben. Nicht, dass er Miss Wolfe nicht äußerst attraktiv fand, aber er fühlte sich wesentlich wohler dabei, vorerst einen gewissen Abstand zu wahren; reiner Nervenkitzel. Das Rätsel um diese Frau wollte er sich noch ein wenig länger warmhalten.
„Woher wissen Sie, dass ich im Spa war?“, fragte er zurück.
„Ich bin gerade in die Sauna gegangen, als Sie davor ein Nickerchen gemacht haben.“
„Sie mögen also auch das Schwitzen?“
„Als Kind war ich mit meinen Eltern oft in einer Schwitzhütte, die wir hinten im Garten gebaut hatten. Für mich ist es aber eher eine spirituelle Angelegenheit. Beim Schwitzen öffnet sich der Geist für die anderen Welten, die wir sonst nicht wahrnehmen. Es verbindet einen mit den Elementen, dem Leben.“
Ondragon nickte. Auch für ihn war die Sauna eine Art Rückzugsort, ein sicherer Platz, an dem man in Ruhe nachdenken konnte. Aus den Augenwinkeln fielen ihm Shamgood und Norrfoss auf. Sie starrten zu ihnen hinüber. Er bemühte sich, sie zu ignorieren, und sah Kateri dabei zu, wie sie ihre Suppe löffelte. Hungrig, aber mit einem Ausdruck von Eleganz.
„Erzählen Sie mir mehr von sich?“, fragte sie, als sie aufgegessen hatte.
„Was denn?“
„Zum Beispiel, was dieser Schlüsselanhänger zu bedeuten hat.“ Sie zeigte auf seinen Talisman, der auf dem Tisch lag. Er hatte seinen Zimmerschlüssel daran gehängt, als Platzhalter für den Autoschlüssel.
Etwas verschämt legte er seine Hand über das emaillierte Bärchen auf dessen Bauch I love Berlin stand. „Unpassend, nicht wahr? Tja, … aber dazu gibt es eine Geschichte.“ Und die müsste eher heißen: I hate Berlin!
„Ist die geheim, oder dürfen Sie mir was davon erzählen?“ Miss Wolfe lächelte offen. Zum ersten Mal.
„Geheim ist sie nicht gerade … aber …“ Aber sie offenbarte das ständige Risiko, mit dem er lebte. Ondragon beschloss, Kateri eine Light-Version zu erzählen. „Nun gut, es ist eigentlich ganz einfach. Dieser dämliche Schlüsselanhänger hat mir einmal das Leben gerettet, und deshalb trage ich ihn stets bei mir. Dass es so ein kitschiges Teil ist, ist reiner Zufall. Es geschah vor vier Jahren, ich habe damals Station in Berlin gemacht, um meine Eltern zu besuchen.“ Einer von mehreren missglückten Versuchen, seinen Eltern zu begegnen nach alldem, was passiert war. Doch unverrichteter Dinge war er binnen kürzester Zeit wieder abgereist. Er konnte es nicht. Er konnte seinen Eltern einfach nicht gegenübertreten. „Ich ging in einen Laden am Bahnhof Zoo, um meiner Patentochter - Sie müssen wissen, ich habe einen guten Freund in L.A., dessen Tochter mein Patenkind ist, Sally heißt sie, und sie ist acht - ich wollte ihr also ein schönes Andenken aus Berlin mitbringen - der Stadt der Bären. Sie war ganz versessen darauf und dachte tatsächlich, dass in Berlin Bären wohnen.“ Er lachte leise bei der Erinnerung an diese Episode, die sich zum Teil genauso zugetragen hatte, sich aber kurz darauf leider in etwas sehr Bedrohliches verwandelt hatte. „Dabei fielen mir diese Schlüsselanhänger auf, die an der Kasse auf einem Ständer hingen. Ich wollte einen davon in die Hand nehmen, doch er rutschte mir aus den Fingern und fiel zu Boden. Genau in dem Moment, als ich mich danach bückte, zersplitterte die Fensterscheibe des Ladens, und da, wo ich zuvor noch gestanden hatte, schlug eine Kugel in die Zeitungsauslagen!“
Kateris Mund öffnete sich ungläubig. „Ein Überfall? Oder warum hat jemand auf den Laden geschossen?“
Na, weil ich da drinnen war! Ondragon blickte sie an. Das konnte er ihr beim besten Willen nicht erzählen, auch wenn er es gerne getan hätte. Denn tief in seinem verwaisten Innern sehnte er sich danach, jemandem sein Herz auszuschütten. Stattdessen zuckte er mit den Achseln und sagte: „Keine Ahnung. Aber der Bahnhof Zoo ist ein Umschlagplatz für Drogen. Vielleicht gab es Streit zwischen zwei Dealern.“ Tatsächlich hatte es mit einem Job zu tun gehabt, den er kurz zuvor in Indien erledigt hatte. Dort war er einem korrupten Unternehmer wohl zu nahe gekommen. Dessen Witwe hatte gleich darauf einen Auftragskiller angeheuert, um ihn auszuschalten. Eine etwas übertriebene Reaktion, wie er fand. Schließlich wurde nicht jeden Tag auf ihn geschossen, aber zumindest musste er stets damit rechnen.
„Hat man den Kerl geschnappt, der geschossen hat?“, wollte Kateri wissen.
„Nein, die Polizei hat zwar nach ihm gefahndet, aber ohne Erfolg. Zum Glück ist ja auch nicht viel passiert, bloß eine kaputte Schaufensterscheibe.“ In Wahrheit war er kurz nach dem Attentatsversuch aus dem Laden geflüchtet, um einer Befragung durch die Polizei entgehen. Nichts gegen die Polizei, aber die Jungs waren nicht immer eine gute Adresse, wenn es um Dinge ging, die eng mit der Unterwelt verknüpft waren. Dass er zwei Wochen nach dem Berlin-Zwischenfall den indischen Auftragskiller in der Nähe von Malibu auf einen Parkplatz des Topanga State Parks gelockt und dort umgelegt hatte, war natürlich auch nichts, womit man einer Dame imponieren sollte.
„Ich wusste gar nicht, dass Ihr Job als Consultant so gefährlich ist“, sagte Kateri scherzhaft.
Ondragon hob die Brauen. „Eigentlich ist er sogar recht langweilig. Papierkram und tonnenweise Akten. Wenn ich von Unternehmen oder auch Privatleuten engagiert werde, um ihre Probleme zu lösen, geht es hauptsächlich um Zahlen und Bilanzen. Die Leute wollen ihr Business optimiert und so kostenneutral wie möglich umstrukturiert haben, und ich helfe ihnen dabei, eine adäquate Lösung zu finden. So simpel ist das.“ Simpel war es auf der einen Seite wirklich: Die Menschen hatten Probleme, und er löste sie. Nur, der Weg dahin war nicht immer schön gerade und auch beileibe nicht kostenneutral. Im Gegenteil, sein Eingreifen war entsprechend teuer. Dafür trug er auch den Großteil des Risikos. Und mit Akten hatte er schon mal gar nichts zu tun.
„Wenn Sie so viel in Firmen unterwegs sind, dann verfügen Sie doch bestimmt über das ein oder andere Insiderwissen.“ Interessiert lehnte sich Kateri vor. „Sind Sie noch nie in Versuchung gekommen, daraus Profit zu schlagen, Paul?“
Bevor Ondragon darauf antworten konnte, hob Kateri plötzlich eine Hand.
„Sagen Sie nichts, dann muss ich hinterher nicht lügen, falls mich jemand danach fragt. Das ist allein Ihre Sache.“ Sie lächelte verschwörerisch. „Sagen Sie mir lieber, was wir mit diesem verregneten Tag anstellen sollen?“
„Ich muss leider gleich zu Dr. Arthurs Tafelrunde.“
Kateri lachte vergnügt auf. „Dann viel Vergnügen. Ich hoffe, die Therapie hilft Ihnen. Für mich ist Dr. Arthur jedenfalls ein Segen. Er war sehr gut mit meinen Eltern befreundet und kümmert sich jetzt um mich. Er ist ein großartiger Mensch, er hilft mir sehr. Ohne ihn wüsste ich nicht, was ich machen sollte.“
Ondragon nahm seinen Talisman vom Tisch und steckte ihn in seine Hosentasche. Die Blicke von Shamgood und Norrfoss brannten förmlich in seinem Nacken. „Nun, ich hoffe, dass er auch mir helfen kann.“ Er stand auf.
Kateri sah ihn an. „Sie haben vor irgendetwas Angst, nicht wahr?“
Ondragon verharrte unschlüssig neben ihr am Tisch.
„Es ist etwas, das tief in Ihnen steckt.“ Es klang mitfühlend, tröstlich. Zu schön, um war zu sein. Kateri lächelte milde, als verstünde sie genau, warum er zögerte.
Warum er schließlich nachgab, wusste er selbst nicht. Vielleicht wegen des ersehnten Gefühls der Vertrautheit, welches ihm diese Frau vermittelte.
„Sie haben Recht, Kateri, ich habe tatsächlich Angst.“
„Verraten Sie mir auch, was für eine Angst das ist?“, fragte sie mit gesenkter Stimme.
„Die Angst vor Büchern.“