11. Kapitel

 

2009, Moose Lake, Cedar Creek Lodge

 

„Eine Leiche?“, sagten Ondragon und Dr. Arthur gleichzeitig.

„Ja, am See.“ Sheila klang immer noch, als hätte sie die Leiche gefunden und nicht Pete.

„Und wer ist es?“, fragte Dr. Arthur beunruhigt.

„Das weiß ich nicht, aber es kann bestimmt keiner aus der CC Lodge sein. Pete sagt, dafür ist die Leiche zu alt, und außerdem ist uns ja in letzter Zeit kein Patient abhanden gekommen.“

Dr. Arthur blickte Sheila tadelnd an, die wiederum einen kurzen Blick zu Ondragon hinüber warf.

„Oh, entschuldigen Sie bitte.“ Verlegen knetete sie ihre Hände. „Und, ähm, die Polizei ist auch schon unterwegs.“

„Die Polizei?“ Die Falten auf Dr. Arthurs Stirn vertieften sich.

Sheila nickte. „Ich habe sie angerufen, als Pete völlig verstört hier ankam und mir von der Leiche erzählte.“

„Wo ist er?“, erkundigte sich Dr. Arthur besorgt. Doch Ondragon hatte eher das Gefühl, der Arzt wolle mit seiner Sorge um den Kofferjungen einen gewissen Unmut darüber verbergen, dass Sheila die Polizei mit ins Spiel gebracht hatte.

„Pete ist unten im Büro an der Rezeption. Er ist immer noch total fertig. Ich glaube, es wäre gut, wenn Sie mit ihm sprechen würden, Dr. Arthur.“

„Wer weiß noch von der Leiche?“

„Bisher nur Pete und ich.“

„Gut, ich komme mit.“ Dr. Arthur wandte sich an Ondragon. „Bitte entschuldigen Sie dieses abrupte Ende unserer Sitzung. Das wird nicht wieder vorkommen. Ich hoffe, Sie verstehen, dass ich mich jetzt um diese Angelegenheit kümmern muss.“ An Sheila gerichtet sagte er. „Informieren sie bitte Schwester Marsha, sie möchte den Patienten mitteilen, dass ihre Sitzungen auf den Nachmittag verschoben werden.“

„Mach ich, Dr. Arthur.“

Alle drei verließen das Sitzungszimmer und stiegen die Treppe nach unten. Zu gerne wäre Ondragon mit zur Rezeption gegangen und hätte sich angehört, was Pete zu sagen hatte, doch es war klar, dass seine Anwesenheit nicht erwünscht war. Deshalb begab er sich in sein Zimmer, nutzte aber zuvor die Gelegenheit und lauschte kurz an Zimmer Nr. 20.

Nichts.

Ondragon zuckte mit den Schultern. Irgendwann würde der seltsame Gast sich schon zeigen.

Und Pete würde er sich etwas später schnappen und ihn ausquetschen. Jetzt wartete Dr. Arthurs Liste mit den Angestellten der CC Lodge darauf, von ihm begutachtet zu werden.

 

Während sich der Leiter der Klinik im Erdgeschoss der Lodge um die „Angelegenheit“ kümmerte, machte Ondragon indirekt Bekanntschaft mit sämtlichen Angestellten des Therapiezentrums. Es erfreute ihn dabei sehr, dass Dr. Arthur äußerst freigiebig mit den Informationen gewesen war, denn zu jeder Person fand er einen Eintrag über Geburtsdatum, Beruf, Familienstand, Versicherungsnummer (was er eigentlich gar nicht brauchte) und wie lange der Betreffende schon in der CC Lodge beschäftigt war. Insgesamt gab es inklusive der Ärzte fünfundvierzig Festangestellte und vier saisonale Kräfte, die wahrscheinlich im Sommer für Hof und Garten verantwortlich waren und im Winter die Wege freihielten. Auffällig war das ausgewogene Verhältnis zwischen Frauen und Männern, das wahrscheinlich Absicht war und für ein gesundes Betriebsklima sorgen sollte. Es war schließlich nicht einfach, Menschen dazu zu motivieren, das ganze Jahr in dieser Abgeschiedenheit zu leben und zu arbeiten, das erforderte schon ein gewisses Maß an zur Verfügung stehender Zerstreuung und gute Gehaltsaussichten. Zudem war die gesamte Belegschaft relativ jung, im Schnitt 35 Jahre. Dr. Arthur stach da mit seinen 53 Jahren heraus, genau wie Frank, der Gärtner, mit 55. Neben dem medizinischen Personal fand Ondragon noch eine Verwaltungsangestellte, einen IT-Mann, der wahrscheinlich das Computernetzwerk der Ärzte pflegte, Putzkräfte, Küchenhilfen, einen Yogalehrer, einen Tennis-und Fitnesstrainer und vier Angestellte in der Wäscherei. Nichts Ungewöhnliches, eine Struktur, wie sie am ehesten mit einem Wellnesshotel vergleichbar war.

Nach einer Weile konnte sich Ondragon nicht mehr konzentrieren. Ständig schweiften seine Gedanken zu dem, was da unten im Büro der Rezeption gerade vor sich ging. Er fragte sich, wie lange die Polizei wohl noch brauchen würde, bis sie hier war. Aus Spaß googelte er mit seinem iPhone nach der nächsten Polizeistation. Sie war in Nett Lake, 54 Meilen entfernt. Mit einem Geländewagen konnte man diese Strecke in eineinhalb Stunden schaffen. Er blickte auf die Uhr. Lange konnte es nicht mehr dauern, bis der verantwortliche Deputy hier auftauchte. Rasch stand er von dem Ledersessel am Fenster auf, steckte sich seinen Notizblock in die Hosentasche, verschloss alles andere im Tresor und ging hinunter ins Erdgeschoss. Unauffällig lugte er in den Eingangsbereich. Die Tür zum Büro war verschlossen, und er konnte gedämpfte Stimmen dahinter hören.

Da öffnete sich die Eingangstür und Frank, der Gärtner, kam herein. Er sah besorgt aus.

„Wo sind denn alle?“, fragte er brummig und sah sich um.

Ondragon deutete auf die Bürotür. „Dr. Arthur ist auch da drin.“

Frank zog verwundert die Stirn in Falten und legte die Hand auf die Türklinke.

„Das würde ich nicht tun!“

„Wieso?“

„Ich glaube, die da drin besprechen gerade etwas Wichtiges, und ich habe mitbekommen, dass sie nicht gestört werden wollen.“

„Aha.“ Frank musterte ihn von oben bis unten und schien ihn erst jetzt zu erkennen.

„Sie sind der Jogger von gestern - Paul.“

„Ja.“

„Und?“

„Und was?“

„War’s gut?“

„Der Wald ist ziemlich dicht, besonders an der Spitze des Sees.“

„Sie waren an der Spitze?“

Ondragon meinte, eine leichte Änderung in Franks Stimme wahrzunehmen.

„Ich bin um den ganzen See herumgelaufen.“

Frank sah ihn einen Moment lang an.

„Na, dann“, sagte er gleichgültig. „Ich wollte eigentlich nur fragen, ob hier jemand meinen Hund gesehen hat.“

„Ist er weg? Gestern war er doch noch bei Ihnen. Rumsfeld, richtig?“

„Er ist nachts immer draußen in seiner Hütte. Heute Morgen war er allerdings verschwunden. Rumsfeld geht schon mal seine eigenen Wege, aber morgens kommt er immer zu mir. Denn dann bekommt er sein Fressen.“

„Vielleicht hat er was Leckeres im Wald gefunden und hat sich den Bauch vollgeschlagen“, scherzte Ondragon. Doch dann dachte er an die Leiche und musste schlucken. „Er kommt bestimmt bald wieder.“

„Wenn Sie das sagen.“ Mit mürrischer Miene verschwand Frank wieder nach draußen. Seine Stiefel hatten feuchte Erdkrumen auf dem grünen Teppich hinterlassen. Ondragon dachte an Sheila mit einem Staubsauger und verließ schnell den Eingangsbereich, bevor man ihn deswegen noch verdächtigen konnte.

 

Beim Mittagessen herrschte das gewohnte Bild: Gouverneur mit dicker Filmdiva, Charlie Bloom mit Models, Hatchet und sein Burger, sowie Norrfoss, Shamgood und Victory. Bisher schien noch keiner von ihnen von der Leiche erfahren zu haben. Da Miss Wolfe noch nicht an ihrem Tisch war, setzte sich Ondragon an seinen eigenen, fing dabei aber leider ein anzügliches Lächeln von Mr. Shamgood auf. Offenbar hatte dieser wiederum seinen suchenden Blick nach Miss Wolfe aufgefangen und verspürte jetzt Schadenfreude darüber, dass sie nicht da war. Unangenehmer Typ! Was wollte der bloß?

Sei nicht naiv, Paul, du weißt es doch. Shamgood ist sauer, weil er bei dir abgeblitzt ist. Die Auswahl an Gleichgesinnten hier ist nicht gerade groß und da hat er es auf gut Glück einfach mal bei dir probiert.

Ondragon bestellte bei Carlos eines der angeschlagenen Menüs: Blumenkohlsuppe mit Parmesan und Pinienkernen und einen Veggiwrap ohne Nachtisch.

Als sein Essen kam, betrat Miss Wolfe das Restaurant und sah sich um. Als sie Ondragon erblickte, lächelte sie. Er bot ihr einen Stuhl an, und sie setzte sich.

„Oh, das sieht gut aus. Ist das vegetarisch?“ Sie zeigte auf seinen Wrap.

Ondragon nickte.

„Dann nehme ich auch einen. Ich bin nämlich Vegetarierin.“

„Aus Überzeugung, oder gibt es einen bestimmten Grund?“

„Ich kann den Geschmack von Fleisch nicht ertragen.“

„Ach. Etwa, seitdem Sie als kleines Mädchen das Kaninchen …“

„Nein, das kam später.“ Ihr Lächeln verschwand, als hätte es jemand ausgeknipst. Sie wich seinem Blick aus und faltete die Serviette auseinander. Sie sprach erst wieder mit ihm, nachdem sie bei Carlos ihr Essen bestellt hatte.

„Wissen Sie, warum die Polizei da ist?“

„Polizei?“ Ondragon hob die Brauen. Waren sie also schon eingetroffen.

„Ich habe das Auto kommen sehen und wie die Deputies mit Dr. Arthur, Pete und Sheila nach oben verschwunden sind.“

Ondragon überlegte, ob er ihr von der Leiche erzählen sollte. Bald wüssten es sowieso alle. So etwas ließ sich nicht verheimlichen.

„Die Polizei ist hier, weil Pete beim Pilzesammeln eine Leiche im Wald gefunden hat. Aber behalten Sie das vorerst für sich. Ich bin bisher der einzige, der es weiß, denn ich war zufällig dabei, als Sheila Dr. Arthur benachrichtigt hat.“

„Und weiß man schon, wer es ist? Etwa jemand aus dem Haus?“ Sie blickte sich in der Runde um.

„Sheila behauptet, dass es keiner von uns sein kann, da in letzter Zeit kein Patient verschwunden ist.“ Keiner von uns - wie sich das anhörte!

„Das stimmt nicht ganz. Vor fünf Monaten im März ist ein Gast verschwunden. Ich war zu der Zeit gerade hier.“

„Ach ja, das klingt interessant. Erzählen Sie.“ Plötzlich fand Ondragon die ganze Sache mehr als nur unterhaltsam. Sein Instinkt für Rätsel und Ungereimtheiten war geweckt.

„Nun, der Gast aus Nr. 20 war eines Morgens nicht mehr da. Seine Sachen waren alle noch in seinem Zimmer, nur der Typ war verschwunden, als hätte er sich in Luft aufgelöst. Dr. Arthur hat vorsichtshalber zuerst nur intern Alarm geschlagen, Sie wissen ja, wie das ist, da reagiert ein Patient über und sofort gibt es Gerede. Dr. Arthur hat Pete mit einigen anderen Männern losgeschickt, um die gesamte Umgebung abzusuchen. Aber leider hatte es in der Nacht geschneit, und nirgends waren Fußspuren zu sehen. Dr. Arthur ist ruhig geblieben, denn der Gast galt wohl nicht als suizidgefährdet. Warum er allerdings hier war, weiß ich auch nicht, ich habe nicht viel mit ihm gesprochen. Er sah unauffällig aus, mittelalt, mittelgroß, blonde Haare. Er hieß Oliver Orchid und kam aus Toronto.“

OO-6! Das erklärte das Kürzel, dachte Ondragon. Nur, warum war der Typ immer noch auf Zimmer 20 gelistet, wenn er doch schon seit fünf Monaten nicht mehr darin wohnte? Sollte hier etwas vertuscht werden?

„Es ist also möglich, dass der Kerl in den Wald hinaus und dort erfroren ist?“, hakte er nach.

„Nein, die ganze Sache hat sich wenig später aufgeklärt. Man fand frische Reifenabdrücke auf dem Parkplatz unten, wo der Wander-Trail zum Mount Witiko beginnt. Dort muss Mr. Orchid die ganze Zeit über seinen Pickup stehen gehabt haben, von dem jedoch keiner etwas gewusst hat, denn einen Schlüssel hatte er nie abgegeben.“

„Aber wie ist er denn hierher gekommen?“

„Er wurde ordnungsgemäß mit dem Shuttleservice in Orr abgeholt. Sein Auto hatte einer der Angestellten der Lodge für zweihundert Dollar heimlich hierher gebracht, und Mr. Orchid ist damit wohl des Öfteren unerlaubterweise nach Orr gefahren. Befragungen der Leute dort haben ergeben, dass er dort gesehen wurde. Den Angestellten hat Dr. Arthur daraufhin natürlich entlassen.“

„Also ging man davon aus, dass Mr. Orchid einen Koller bekommen, sich seinen Wagen geschnappt hat und abgehauen ist, bevor seine Zeit hier um war.“

„Nun, wann die Zeit für einen hier rum ist, kann jeder selbst entscheiden.“ Kateri lächelte vieldeutig.

„Und Sie sind sicher, dass es Oliver Orchid war, mit dem Sie damals gesprochen haben?“ Ondragon blieb hartnäckig. Die Geschichte hatte die Zentrifuge in wilde Rotation versetzt.

„Ja, er hat sich mir gegenüber mit diesem Namen vorgestellt.“

„Und sein Auto, der Pickup? Haben Sie den auch gesehen, oder die Reifenspuren?“

„Nein, aber es soll ein schwarzer Dodge Ram gewesen sein.“

„Hat es polizeiliche Untersuchungen gegeben?“

„Soweit ich weiß, nicht. Es hat sich ja alles aufgeklärt.“

„Und wie hat Dr. Arthur die anderen Gäste beruhigt? Das alles muss doch für helle Aufregung gesorgt haben.“

„Er hat natürlich nachgeforscht. Und tatsächlich ist Mr. Orchid drei Tage später bei sich zu Hause in Toronto aufgetaucht. Dr. Arthur hat mit ihm telefoniert. Orchid hat auf eigenen Wunsch die Behandlung abgebrochen.“

„Aha. Und mehr hat Dr. Arthur nicht erwähnt?“

„Warum sollte er?“ Kateri Wolfe blickte ihn an.

Ondragon lehnte sich in seinem Stuhl zurück und nippte an seinem Mineralwasser. Weiter konnte er nicht gehen. Schließlich wusste Miss Wolfe ja nicht, dass ihm bekannt war, wie oft sie hier in der CC Lodge schon Gast gewesen, und dass Dr. Arthur ihr Mentor war - was auch immer das heißen mochte. Bevor er sich weiter aus dem Fenster lehnte, würde er mehr über das Verhältnis zwischen Kateri Wolfe und dem Psychotherapeuten herausfinden müssen.

„Und wer war der Angestellte, der entlassen wurde?“, lenkte er das Gespräch in eine andere Richtung.

„Ein Mann namens Jeremy Bates. Er arbeitete erst wenige Monate als Masseur für die Lodge und war einer der Wenigen, die nicht hier, sondern in Orr wohnten.“

Ondragon verzog skeptisch die Mundwinkel. „Na, dann bin ich mal gespannt, wer da draußen im Wald liegt!“

„Vielleicht ein Wanderer, der allein unterwegs war.“ Kateri aß den letzten Happen ihres Wraps.

„Ja, vielleicht. Wir werden es erfahren, denke ich.“ Ondragon trank sein Glas leer. An der Sache war etwas faul, das spürt er. Sein innerer Wachhund wollte sich gar nicht mehr beruhigen. Er kläffte und jaulte.

OO-6. Dort würde er anfangen, nachzuforschen.

Bis zum Nachmittag blieb die Entourage der Polizei nebst Dr. Arthur und Pete im Wald verschwunden. Mittlerweile hatten sämtliche Gäste der Lodge mitbekommen, dass ein Streifenwagen auf dem Parkplatz stand und sich sogar noch die Autos des Medical Examiners und der Spurensicherung dazugesellt hatten. Aufgeregt wurde darüber diskutiert, was geschehen sein mochte, und die Sofas im Eingangsbereich waren bis auf den letzten Platz besetzt, weil man hoffte, hier als erster an die heißbegehrten Informationen zu gelangen. Selbst Dr. Reto und Dr. Zeo standen in einer Ecke. Ondragon nutzte die Gelegenheit, um sich mit einigen anderen Gästen und Angestellten zu unterhalten, und brachte zumindest in Erfahrung, wo das Haus von Petes Onkel lag, in dem der Hillbilly wohnte. Wenn es nötig sein sollte, würde er ihn dort aufsuchen, um ihn zu befragen.

Als Dr. Arthur schließlich mit einem der Polizisten zur Tür hineinkam, verstummten plötzlich sämtliche Gespräche, und alle sahen die beiden Männer an.

Ondragon lehnte im Türrahmen und wartete gespannt darauf, was jetzt kommen mochte.

Dr. Arthur machte in Anbetracht der Umstände einen erstaunlich entspannten Eindruck. Er hob eine Hand und kam dem Ansturm der Fragen zuvor.

„Ladies und Gentlemen, es verhält sich so: Draußen im Wald wurde eine Leiche gefunden und …“

„Wo?“, fragte eine Stimme, es war ein äußerst besorgter Mr. Shamgood.

Dr. Arthur blickte den Polizisten an, der nickte.

„Weit weg von hier. Auf der anderen Seite des Sees, an der Nordspitze.“

An der Spitze? Ondragon spürte, wie ihm heiß wurde. Da war er doch gestern gewesen! „Dieser Vorfall“, sprach Dr. Arthur weiter, „hat aber nicht das Geringste mit der Lodge zu tun. Bei der Leiche handelt es sich um niemanden von hier, so viel ist sicher.“

„Haben Sie den Toten identifiziert?“

„Nein.“

„Und wie können Sie dann sicher sein, dass es keiner von hier ist?“, beharrte Shamgood.

Ondragon blickte zu dem Modedesigner hinüber und wunderte sich über dessen erstaunlich folgerichtige Fragestellung.

Dr. Arthur seufzte hörbar.

„Nun, das klingt vielleicht etwas banal, aber wir sind ja noch alle vollzählig, oder?“ Der Psychotherapeut machte eine umfassende Geste, die alle Anwesenden mit einschloss, und schickte ein charmantes Lachen hinterher. Einige der Gäste lachten gleichfalls.

„Aber … heißt das nicht trotzdem, dass hier ein Mörder herumläuft?“, rief erneut jemand dazwischen, und das Lachen verstummte.

Ondragon sah, wie sich allmählich Ungeduld in Dr. Arthurs Haltung schlich. Wieder warf er dem Polizisten einen Blick zu, der - rein optisch gesehen - ein typischer Vertreter der Gattung „Junger Hilfsscheriff vom Lande“ war. Khakifarbene Uniform, ein breites, vom Rasieren gerötetes Bauerngesicht, flackernder Blick und wichtigtuerische Haltung. Breitbeinig und mit in den Gürtel gehakten Daumen übernahm er das Wort.

„Ladies und Gentlemen, mein Name ist Deputy Hase und ich leite diese Untersuchung. Bis jetzt gibt es keinerlei Grund zur Unruhe. Der oder die Tote liegt schon etwas länger dort draußen, und deshalb ist es schwierig, die genaue Todesursache festzustellen.“

Schon etwas länger? Ondragon überlegte fieberhaft. Warum hatte er die Leiche dann nicht gesehen? Ihm kam der Gestank in den Sinn. Vielleicht war es Verwesungsgeruch gewesen, was da so übel die Luft verpestet hat, und der Bär war davon angelockt worden. Aber was hatte dann dieses merkwürdige Netz mit dem toten Vogel zu bedeuten? Hatte die Polizei das auch gefunden?

„Zurzeit macht der Medical Examiner noch einige Tests“, setzte Deputy Hase seine Erklärung fort, „aber alles scheint darauf hinzudeuten, dass es einen tragischen Unfall gegeben hat. Es läuft also kein Mörder da draußen herum, Sie können ganz unbesorgt sein. Ich will Sie aber dennoch darum ersuchen, heute das Haus nicht zu verlassen. Das ist lediglich eine Sicherheitsmaßnahme, die gewährleisten soll, dass die Arbeit der Polizei nicht gestört wird. Wir werden Sie informieren, wenn es etwas Neues gibt. Vorerst gilt also: Ruhe bewahren und abwarten.“ Der Deputy wandte sich an Dr. Arthur, der zuerst auf seine antike Taschenuhr sah und dann in die Runde.

„Leider fallen die restlichen Sitzungen für heute aus. Ich bitte Sie deswegen vielmals um Verzeihung, aber die Polizei muss ihren Job machen, und ich habe noch einige Fragen mit dem Deputy zu klären. Der Zeitplan morgen wird zugunsten der Benachteiligten von heute geändert. Sie werden von Sheila benachrichtigt, wann Ihre neuen Sitzungen stattfinden.“ Damit nickte Dr. Arthur Deputy Hase zu und schlug den Weg nach oben in sein Büro ein.

Ondragons Gedanken überschlugen sich, während er versuchte zu rekapitulieren, was er gestern an der Spitze des Sees erlebt hatte. Vielleicht sollte er sofort mit der Polizei sprechen und ihr sagen, was er gesehen hatte. Womöglich hatte er unbewusst Spuren am Leichenfundort hinterlassen, die ihm früher oder später zugeordnet werden würden. Außerdem wusste Frank, der Gärtner, dass er gestern dort gewesen war. Er hatte es ihm heute Vormittag ja selbst erzählt. Es würde nicht lange dauern, bis das herauskäme, und dann steckte er mitten in der Scheiße. Dabei hatte er nichts damit zu tun.

Immer noch an die Türfüllung gelehnt schaute er den anderen Gästen nach, wie sie sich murrend zerstreuten. Für sie war die Show vorbei. Sie würden sich gedulden müssen, bis es neues Futter für ihre Sensationslust gab. Er jedoch nicht!

Rasch stieß Ondragon sich vom Türrahmen ab und setzte sich in Bewegung. Er würde nicht hier herumsitzen und darauf warten, dass ihm die Informationen bröckchenweise vorgeworfen werden würden. Er war es gewohnt, die Initiative zu ergreifen. Er würde selbst herausfinden, was passiert war. Schließlich konnte man ihn nicht dazu zwingen, hier im Haus zu bleiben, auch wenn die Polizei das angeordnet hatte.

Doch zunächst musste er noch etwas anderes erledigen und begab sich auf sein Zimmer, wo er sein iPhone aus dem Tresor holte und es anschaltete. Sobald er ein Netz hatte, sah er kurz auf die Uhr und wählte eine Nummer in Thailand.

Sawadee khrap, Paul!“, meldete sich eine männliche Stimme nach dem vierten Klingeln.

„Hallo, Rudee. Sabai dee mai - wie geht’s?“

Sabai dee - gut. Nichts gehört von dir lange Zeit. Wooow!“

Ondragon musste lächeln, als er den lustigen Akzent hörte, der alle Vokale in die Länge zog. Und auf einmal bekam er Sehnsucht nach den smogblauen Straßen von Bangkok, dem Hupen der Tuktuk-Fahrer und einem eiskalten Singha Bier in einem Straßenlokal an der Sukumvit Road.

Vier Jahre seiner Jugend, genauer gesagt von zwölf bis 15, hatte er in der quirligen Hauptstadt Thailands verbracht, als sein Vater dort in der Botschaft arbeitete - und es war wahrscheinlich die glücklichste Zeit seines Lebens gewesen, bevor er sich mit seinem Vater endgültig überworfen hatte. Aber inmitten der gastfreundlichen Thai hatte er sich immer wohlgefühlt, obwohl er ein Farang und mit seinen in die Höhe schießenden Körpermaßen ein Riese gewesen war. Damals hatte er ein paar wirklich gute Freunde gewonnen, zu denen er auch heute noch Kontakt hatte. Dazu zählte Rudee.

Den cleveren, gleichaltrigen Thai hatte er in einem Computerclub kennengelernt und ihn nach der Gründung von Ondragon Consulting sofort als freien Mitarbeiter engagiert, denn Rudee konnte schon damals etwas, das Paul nicht konnte: Er war ein Cyberpirat der ersten Stunde und vermochte jeden Computer zu entern, den er wollte!

Von Bangkok aus erledigte Rudee seine Aufträge stets zuverlässig. Zwar auf eine sehr eigenwillige Art, aber dennoch erstaunlich effektiv. Ondragon dachte, dass es höchste Zeit war, seinen Freund mal wieder zu besuchen. Vielleicht konnte er sich eine Woche frei nehmen und nach Bangkok fliegen, nachdem er das alles hier hinter sich gebracht hatte.

„Ich habe etwas für dich, Rudee, und es ist wie immer dringend“, sagte er.

„Wooow, schieß los, ich bereit.“ Im Hintergrund hörte Ondragon das Klappern einer Tastatur. In Bangkok war es jetzt vier Uhr morgens, aber Rudee war ein Nachtmensch. Er schlief tagsüber und arbeitete nachts, wegen der Hitze, behauptete er. Ondragon vermutete eher, dass es daran lag, dass Rudee sich bevorzugt in Rechnern in den USA aufhielt. Meistens in mehreren gleichzeitig, denn er wollte stets „live“ dabei sein, wenn etwas Bedeutendes im Netz geschah.

„Ich brauche Informationen aus einem Computer, der sich hier in der Cedar Creek Lodge befindet“, sagte Ondragon. „Er gehört einem Dr. Jonathan Aaron Arthur, promovierter Arzt und Psychologe. Er hat einen Toshiba Satellite Pro, aber es gibt auch ein lokales Netzwerk, auf das die Mitarbeiter hier zugreifen, wahrscheinlich passwortgesichert. Außerdem sollen die Daten verschlüsselt sein. Der Internetzugriff ist nur via Satellit möglich, der Administrator heißt Kenny White, das ist zumindest der Computerfreak hier.“

„Willst du sagen, ich ein Freak?“

„Nein, Rudee, du bist ein Genie - wenn auch nur ein fünf Fuß großes!“ Unwillkürlich musste er an Nick Nack denken, den Zwerg aus James Bond „Der Mann mit dem goldenen Colt“, der zusammen mit Christopher Lee auf einer kleinen tropischen Felseninsel hauste.

Rudee lachte. „Deshalb ich bevorzuge Napol_e.on als Nickname, der auch ein kleines Genie war!“

Ondragon grinste und übermittelte Rudee noch weitere Namen von Personen, die möglicherweise Zugang zum Netzwerk hatten, damit der Thai die IP-Adressen und Passwörter herausfinden konnte.

„Und nach was für Informationen du suchst genau?“

„Auf der Festplatte des Laptops oder dem internen Server müssen Daten über sämtliche Patienten der Cedar Creek Lodge liegen.“

„Patienten? Sag mal, wo du bist gerade?“

„Wie ich sagte, in der CC Lodge in Minnesota.“

„Ist das Job oder du machst Urlaub?“ Rudee kicherte.

Ondragon überlegte.

„Ein bisschen von Beidem.“ Ondragon beließ es dabei. Rudee würde es ohnehin herausfinden, wenn er an die Patientendaten herankam. Schließlich war auch seine eigene Akte dabei. „Im Besonderen benötige ich die Patientenakten von folgenden Personen: Kateri Meoquanee Wolfe und Oliver Orchid, das sind die Wichtigsten. Dann bräuchte ich noch Informationen über einen Mitarbeiter namens Jeremy Bates, der im März dieses Jahres gefeuert wurde. Sieh mal nach, ob du etwas über ihn findest, wahrscheinlich am Ehesten in der Personalabteilung. Im Anschluss an dieses Gespräch sende ich dir eine Mail mit den restlichen Patientennamen.“

„Gut, ich schicke Dateien via Mail auf Handy von dir.“

Kap khun khrap - vielen Dank, Rudee. Ich melde mich morgen wieder.“

Laa gon, Paul. Bis dann.“

Ondragon sendete die Mail mit der Liste und steckte das iPhone weg. Jetzt würde sich zeigen, wie sicher die sensible Datenspeicherung der CC Lodge tatsächlich war.

Er stand vom Bett auf, ging zum Kleiderschrank und sah hinein. Er brauchte unauffälligere Klamotten, wenn er draußen im Wald rumlaufen wollte. Also tauschte er Hemd, Jackett und Hose gegen Jeans, T-Shirt und Cowboystiefel. Nach einem Blick aus dem Fenster schnappte er sich noch seine Diesel-Jacke aus grauer Baumwolle und wollte den Tresor schließen, dabei fiel sein Blick auf seine Sig Sauer. Sollte er sie einstecken?

Er schüttelte den Kopf. Noch war er nicht paranoid genug, um hier mit einer Waffe herumzulaufen. In der Stadt war das etwas anderes, da war sie seine Lebensversicherung. Besser man hatte eine. Aber hier? Er dachte kurz an den Bären. Wenn es denn einer gewesen war, und nicht bloß ein schlechter Scherz seiner eigenen Überreiztheit, die ihn immer öfter heimsuchte. Ondragon seufzte. Er brauchte dringend eine Pause.

Aber anstatt sich hier in der reizarmen Stille der Natur zu erholen, manövrierte er sich schon wieder in die nächste zwanghafte Aufklärung eines zweifelhaften Geheimnisses.

Du bist ein hoffnungsloser Fall, Paul Eckbert! Gib es doch zu, du kannst einfach nicht anders! Du bist ein beschissener Freak!

Er schlug die Tresortür zu, tastete in seiner Jeanstasche nach seinem Talisman und verließ das Zimmer. Als erstes würde er Pete befragen, vorausgesetzt, er fand ihn.

 

 

Anette Strohmeyer - Ondragon 01 - Menschenhunger
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