Irgendwann am Nachmittag hörte der Regen auf, und einige Stunden später fuhren wir im verbeulten blauen Ford einer örtlichen Mietwagenfirma über die Brooklyn Bridge zu unserem vierzehntägigen Abendessen mit John Trause. Seit meiner Heimkehr aus dem Krankenhaus trafen wir drei uns regelmäßig jeden zweiten Samstagabend zum Essen, und zwar abwechselnd bei uns zu Hause in Brooklyn (wo wir für John kochten) und zu ausgiebigen Fressorgien im Chez Pierre, einem teuren neuen Restaurant im West Village (wo John stets darauf bestand, die Rechnung zu übernehmen). Ursprünglich waren wir für halb acht in der Bar des Chez Pierre verabredet gewesen, aber Anfang der Woche hatte John angerufen und gesagt, mit seinem Bein sei etwas nicht in Ordnung, wir würden den Termin streichen müssen. Wie sich herausstellte, hatte er einen Anfall von Phlebitis (eine von einem Blutgerinnsel hervorgerufene Venenentzündung), aber am Freitagnachmittag hatte John noch einmal angerufen und uns mitgeteilt, es gehe ihm schon wieder etwas besser. Er dürfe zwar nicht gehen, sagte er, aber wenn wir nichts dagegen hätten, ihn in seiner Wohnung zu besuchen und uns Essen aus dem Chinarestaurant kommen zu lassen, bräuchte unser gemeinsamer Abend nicht auszufallen. «Ich würde dich und Gracie sehr gern sehen», sagte er. «Und da ich sowieso etwas essen muss, können wir das doch auch hier gemeinsam tun, oder? Solange ich das Bein hochlege, habe ich kaum noch Schmerzen.»4

4

John war der einzige Mensch auf der Welt, der sie immer noch Gracie nannte. Nicht einmal ihre Eltern taten das noch, und ich selbst, der ich seit über drei Jahren mit ihr zusammen war, hatte sie nicht ein einziges Mal mit diesem Kosenamen angesprochen. Aber John kannte sie schon sein Leben lang – buchstäblich seit dem Tag ihrer Geburt –, und im Lauf der Zeit hatte er eine Reihe besonderer Privilegien erworben, die ihn vom Rang eines Freundes der Familie in den eines inoffiziellen Blutsverwandten erhoben hatten. Er war gewissermaßen ihr Lieblingsonkel – oder, wenn man so will, der Pate ohne Geschäftsbereich.

John hatte Grace sehr gern, und sie ihn nicht minder, und da ich der Mann in Graces Leben war, hatte John mich im inneren Kreis der ihm Nahestehenden willkommen geheißen. In der Phase meines Zusammenbruchs hatte er viel Zeit und Energie geopfert, um Grace durch die Krise zu helfen, und als ich schließlich nach meinem Scharmützel mit dem Tod auf dem Weg der Besserung war, kam er jeden Nachmittag ins Krankenhaus, um mir am Bett Gesellschaft zu leisten – um mich (wie mir später klar wurde) im Diesseits zu halten. Als Grace und ich ihn an jenem Abend (des 18. September 1982) zum Essen besuchten, gab es in ganz New York zweifellos niemanden, der ihm so nahe stand wie wir beide. Ebenso wie uns niemand näher stand als John. Das erklärt wohl, warum unsere gemeinsamen Samstagabende ihm so viel bedeuteten und warum er trotz der Erkrankung seines Beins den Termin nicht hatte ausfallen lassen wollen. Er lebte allein, und da er sich selten in der Öffentlichkeit blicken ließ, waren unsere Treffen so ziemlich sein wichtigster gesellschaftlicher Umgang, seine einzige Chance, ein paar Stunden ungestörter Unterhaltung zu genießen.

Ich hatte Johns Wohnung für meine Geschichte in dem blauen Notizbuch requiriert, und als wir jetzt in der Barrow Street ankamen und er uns die Tür aufmachte, hatte ich das seltsame, durchaus nicht unangenehme Gefühl, einen imaginären Raum zu betreten, einen Raum, den es in Wirklichkeit gar nicht gab. Ich war schon unzählige Male in Trauses Wohnung gewesen, aber jetzt, nachdem ich in meiner eigenen Wohnung in Brooklyn stundenlang darüber nachgedacht und sie mit den erfundenen Gestalten meiner Geschichte bevölkert hatte, schien sie mir ebenso sehr der Welt der Phantasie wie der realen, mit soliden Gegenständen und lebendigen Menschen ausgestatteten Welt anzugehören. Wider meine Erwartung legte dieses Gefühl sich nicht. Wenn überhaupt, verstärkte es sich im Lauf des Abends noch, und als gegen halb neun das chinesische Essen gebracht wurde, war ich bereits dabei, mich in einen Zustand einzuleben, den ich (mangels eines besseren Ausdrucks) als doppeltes Bewusstsein bezeichnen muss. Ich war ein Teil dessen, was um mich herum vorging, und gleichzeitig war ich davon abgeschnitten, trieb in Gedanken frei umher und stellte mir vor, an meinem Schreibtisch in Brooklyn zu sitzen und über diese Wohnung in meinem blauen Notizbuch zu schreiben, während ich zur selben Zeit, fest in meinem Körper verankert, tatsächlich in eben dieser Wohnung im obersten Stock eines Hochhauses in Manhattan saß und mir anhörte, was John und Grace miteinander besprachen, und sogar selbst die eine oder andere Bemerkung dazu machte. Es ist nichts Ungewöhnliches, wenn jemand so konzentriert ist, dass er geistesabwesend wirkt – aber Letzteres war ich gerade nicht. Ich war anwesend, ich war da, gänzlich am Geschehen beteiligt, und doch war ich es auch nicht – denn das «da» war jetzt kein authentisches «da» mehr. Es war ein trügerischer Ort, der in meinem Kopf existierte, und dort war ich nun eben auch. An beiden Orten zur selben Zeit. In der Wohnung und in der Geschichte. In der Wohnung in der Geschichte, die ich im Kopf immer weiterschrieb.

John schien mehr Schmerzen zu haben, als er zugeben wollte. Als er uns die Tür aufmachte, stützte er sich auf eine Krücke, und als ich ihn die Treppe hochhumpeln und dann zu seinem Platz auf dem Sofa hinken sah – einem riesigen, durchgesessenen Ding mit einem Berg aus Kissen und Decken für sein Bein –, zuckte er bei jedem Schritt merklich zusammen. Aber John war nicht der Typ, davon großes Aufhebens zu machen. Er hatte am Ende des Zweiten Weltkriegs als Achtzehnjähriger im Pazifik gekämpft, und er gehörte der Generation von Männern an, für die es Ehrensache war, niemals Selbstmitleid zu haben, und die jede Hilfe oder Anteilnahme verächtlich von sich wiesen. Von ein paar Witzen über Richard Nixon abgesehen, der dem Wort Phlebitis während seiner Amtszeit zu einem gewissen komischen Beigeschmack verholfen hatte, weigerte John sich standhaft, sein Gebrechen zum Thema zu machen. Nein, das ist nicht ganz richtig. Nachdem wir in das obere Zimmer getreten waren, erlaubte er Grace, ihm aufs Sofa zu helfen und die Kissen und Decken wieder herzurichten, wobei er für seine «schwachsinnige Klapprigkeit» um Verzeihung bat. Als er dann saß, wandte er sich zu mir und sagte: «Wir sind schon ein Pärchen, was, Sid? Du mit deinem Tatterich und Nasenbluten, und ich jetzt mit diesem Bein. Verdammt, wir sind die Krüppel des Universums.»

Trause hatte nie sonderlich auf sein Äußeres geachtet, aber an diesem Abend erschien er mir besonders ungepflegt, und aus dem zerknitterten Zustand seiner Jeans und des Baumwollsweaters – ganz zu schweigen von der grauen Tönung, die sich auf den Sohlen seiner weißen Socken ausgebreitet hatte –, musste ich schließen, dass er diese Sachen schon einige Tage lang angehabt hatte. Dazu passte sein zerzaustes Haar, das, nachdem er in der vergangenen Woche so viele Stunden auf dem Sofa gelegen hatte, am Hinterkopf ganz steif und platt gedrückt war. Und er sah abgemagert aus, beträchtlich älter, als er je zuvor auf mich gewirkt hatte, aber wenn ein Mann Schmerzen hat und diese Schmerzen ihn um viele Stunden Schlaf bringen, kann man wohl kaum erwarten, dass er wie das blühende Leben aussieht. Mich beunruhigte sein Anblick jedenfalls nicht, aber Grace, sonst der unerschütterlichste Mensch, den ich kenne, schien Johns Zustand ganz aus der Fassung zu bringen. Ehe wir endlich das Essen bestellen konnten, quetschte sie ihn geschlagene zehn Minuten lang nach Ärzten, Medikamenten und Prognosen aus, und als er ihr versichert hatte, dass er nicht sterben werde, ging sie zu praktischen Fragen über: Einkaufen von Lebensmitteln, Kochen, Müll runterbringen, Wäsche, der ganze Alltagskram. Madame Dumas habe das alles unter Kontrolle, sagte John; er meinte die Frau aus Martinique, die seit zwei Jahren seine Wohnung sauber machte und, wenn sie selbst nicht kommen konnte, ihre Tochter schickte. «Zwanzig Jahre alt», fügte er hinzu, «und sehr intelligent. Übrigens auch hübsch anzusehen. Sie geht nicht, sie schwebt durchs Zimmer, so als würden ihre Füße den Boden gar nicht berühren. Das gibt mir die Möglichkeit, meine Französischkenntnisse anzuwenden.»

Lässt man die Sache mit seinem Bein einmal beiseite, schien er froh, uns zu sehen, und sprach mehr als sonst bei unseren Zusammenkünften, ja, er plauderte ohne Unterbrechung fast den ganzen Abend lang. Ganz sicher bin ich mir nicht, aber ich glaube, der Schmerz hat ihm die Zunge gelöst. Das Reden muss ihn von dem Tumult in seinem Bein abgelenkt, ihm eine hektische Art von Erleichterung verschafft haben. Das, und dazu die ungeheuren Mengen Alkohol, die er zu sich nahm. Bei jeder neuen Weinflasche, die wir entkorkten, hielt John als Erster sein Glas hin, und von den drei Flaschen, die wir an diesem Abend tranken, floss etwa die Hälfte in seinen Organismus. Das macht anderthalb Flaschen Wein, auf die er gegen Ende noch zwei Gläser Scotch kippte. Ich hatte in der Vergangenheit schon ein paar Mal erlebt, dass John so viel trank, aber so viel er auch intus haben mochte, er machte nie einen betrunkenen Eindruck. Kein Genuschel, kein glasiger Blick. Er war ein großer, schwerer Mensch – knapp einsneunzig, gut neunzig Kilo – und konnte was vertragen.

«Eine Woche bevor die Sache mit dem Bein losging», sagte er, «rief mich Tinas Bruder Richard an.5 Ich hatte lange nichts mehr von ihm gehört. Genau genommen seit der Beerdigung, das heißt also seit acht Jahren – seit mehr als acht Jahren. Ich hatte schon während unserer Ehe nicht viel mit ihrer Familie zu tun gehabt, und als sie dann gestorben war, hatte ich mir nicht die Mühe gemacht, mit ihnen in Kontakt zu bleiben. Sie mit mir übrigens auch nicht – nicht dass mir das etwas ausgemacht hätte. Diese Ostrow-Brüder mit ihrem schäbigen Möbelladen an der Springfield Avenue und ihren langweiligen Frauen und mittelmäßigen Kindern. Tina hatte acht oder neun Vettern und Cousinen ersten Grades, aber sie war die Einzige, die so etwas wie Esprit besaß, die Einzige, die den Mut hatte, aus dieser kleinen New-Jersey-Welt auszubrechen und ihren eigenen Weg zu gehen. Daher überraschte es mich, als Richard neulich anrief. Er lebe neuerdings in Florida, erzählte er, und sei gerade geschäftlich in New York. Ob ich Lust habe, mit ihm essen zu gehen? Irgendein nettes Restaurant, sagte er, du bist eingeladen. Da ich nichts anderes vorhatte, nahm ich an. Ich weiß nicht, warum ich das getan habe, aber es gab keinen zwingenden Grund, das Angebot abzulehnen; jedenfalls verabredeten wir uns für den nächsten Abend um acht Uhr.

5

Tina war Johns zweite Frau. Seine erste Ehe hatte zehn Jahre gehalten (von 1954 bis 1964) und mit der Scheidung geendet. In meiner Gegenwart sprach er nie davon, aber von Grace wusste ich, dass Eleanor in ihrer Familie nicht sonderlich beliebt gewesen war. Für die Tebbetts war sie hochnäsig und kalt wie ein Fisch, eine typische Bryn-Mawr-Absolventin aus einem alten Aristokratengeschlecht aus Massachusetts, die auf Johns Arbeiterklassen-Familie aus Paterson in New Jersey nur von oben herabsah. Belanglos, dass Eleanor eine angesehene Malerin war, deren Ruf dem von John kaum nachstand. Niemand wunderte sich, als die Ehe aufgelöst wurde, und niemand bedauerte, dass Eleanor ging. Schade sei nur, hatte Grace gesagt, dass John gezwungen gewesen sei, in Kontakt mit ihr zu bleiben. Nicht weil ihm danach gewesen sei, sondern wegen der ständigen Eskapaden ihres ungebärdigen, äußerst labilen Sohnes Jacob.

Dann hatte er die Ballettchoreographin Tina Ostrow kennen gelernt; sie war zwölf Jahre jünger als er, und als er sie 1966 heiratete, lobten die Tebbetts seine Entscheidung. Sie waren zuversichtlich, dass John endlich die Frau gefunden hatte, die er verdiente, und die Zeit gab ihnen Recht. Tina, klein und voller Energie, war eine entzückende Person, hatte Gracie gesagt, und liebte John (in Graces Worten) «bis zur Anbetung». Das einzige Problem mit dieser Ehe war, dass Tina nicht einmal das siebenunddreißigste Lebensjahr erreichte. Achtzehn Monate währte ihr Kampf gegen den Gebärmutterkrebs, ehe sie ihm erlag; und nachdem John sie begraben hatte, zog er sich für lange Zeit zurück, «erstarrte einfach und hörte sozusagen auf zu atmen», sagte Grace. Er ging für ein Jahr nach Paris, dann nach Rom, dann in ein kleines Küstendorf im Norden Portugals. Als er 1978 nach New York zurückkehrte und die Wohnung in der Barrow Street bezog, war es genau drei Jahre her, seit er seinen letzten Roman veröffentlicht hatte, und man munkelte, Trause habe seit Tinas Tod kein einziges Wort mehr geschrieben. Seitdem waren vier weitere Jahre vergangen, und noch immer hatte er nichts hervorgebracht – zumindest nichts, was er irgendjemandem hätte zeigen wollen. Aber er arbeitete. Ich wusste, dass er arbeitete. Das hatte er mir selbst gesagt, aber um was für eine Arbeit es sich handelte, wusste ich nicht, einfach weil ich nicht den Mut gehabt hatte, ihn danach zu fragen.

Zu Richard muss ich noch was sagen. Er war mir immer als Leichtgewicht erschienen, ein substanzloser Mensch. Er war ein Jahr jünger als Tina, also ist er jetzt dreiundvierzig, und abgesehen von ein paar ruhmreichen Momenten als Basketballspieler an der Highschool ist er praktisch immer nur durchs Leben gestolpert, von zwei oder drei Colleges geflogen, von einem miesen Job in den nächsten geschlittert, nie verheiratet, nie richtig erwachsen geworden. Ein freundliches Wesen, das wohl schon, aber seicht und ohne Schwung, und sein blödes Gefasel ist mir immer auf die Nerven gegangen. So ziemlich das Einzige, was mir je an ihm gefallen hat, war seine innige Zuneigung zu Tina. Er hat sie genauso sehr geliebt wie ich – das steht fest, ganz unbestritten –, und ich kann und will nicht leugnen, dass er ihr ein guter Bruder, ein beispielhafter Bruder war. Du warst ja bei der Beerdigung, Gracie. Du weißt, was da passiert ist. Hunderte von Leuten waren gekommen, und jeder Einzelne in der Kapelle hat geschluchzt, gestöhnt, vor Entsetzen gejammert. Eine Flut gemeinsamer Trauer, Schmerz in einem Ausmaß, wie ich es noch nie erlebt hatte. Aber wer in diesem Raum am meisten getrauert hat, das war Richard. Er und ich zusammen in der ersten Bank. Als er am Ende des Gottesdienstes aufstehen wollte, wurde er beinahe ohnmächtig. Ich musste meine ganze Kraft aufbieten, um ihn festzuhalten. Ich musste ihm buchstäblich unter die Arme greifen, damit er nicht zu Boden fiel.

Aber das ist Jahre her. Wir durchlebten dieses Trauma gemeinsam, und dann verlor ich ihn aus den Augen. Als ich mich jetzt von ihm zum Essen einladen ließ, dachte ich, das liefe auf einen langweiligen Abend hinaus, ich würde zwei Stunden peinliche Unterhaltung über mich ergehen lassen und mich dann schleunigst auf den Heimweg machen. Aber ich habe mich geirrt. Ich sage gern, dass ich mich geirrt habe. Ich finde es immer belebend, neue Beispiele für meine Voreingenommenheit und Dummheit zu entdecken, mir bewusst zu werden, dass ich nicht halb so viel weiß, wie ich mir einbilde.

Es begann schon mit der Freude, sein Gesicht zu sehen. Ich hatte vergessen, wie sehr er seiner Schwester ähnlich sah, wie viele Züge sie gemeinsam hatten. Form und Stellung der Augen, das runde Kinn, der elegante Mund, der Nasenrücken – das war Tina, im Körper eines Mannes, oder jedenfalls blitzte sie gelegentlich in ihm auf. Es überwältigte mich, auf diese Weise wieder mit ihr zusammen zu sein, wieder ihre Gegenwart zu spüren, zu spüren, dass ein Teil von ihr in ihrem Bruder weitergelebt hatte. Wie Richard sich umdrehte, wie er gestikulierte, wie er gewisse Bewegungen mit den Augen machte, das berührte mich so sehr, dass ich mich am liebsten über den Tisch gebeugt und ihn geküsst hätte. Mitten auf den Mund – einen dicken Schmatzer. Ihr werdet vielleicht lachen, aber ich bedaure wirklich, dass ich es nicht getan habe.

Richard war immer noch Richard, genau der Richard von einst – nur dass er sich irgendwie wohler fühlte in seiner Haut. Er ist verheiratet und hat zwei kleine Töchter. Vielleicht hat ihm das geholfen. Vielleicht hat es ihm auch geholfen, acht Jahre älter zu werden, keine Ahnung. Er plagt sich immer noch mit irgendeinem seiner erbärmlichen Jobs herum – Vertreter für Computerersatzteile, Rationalisierungsberater, ich hab’s vergessen –, und er verbringt noch immer jeden Abend vor dem Fernseher. Football, Sitcoms, Krimis, Natursendungen – er schwärmt für alles, was aus dem Kasten kommt. Aber er liest nicht, geht nicht wählen, tut erst gar nicht so, als habe er eine Meinung zu dem, was in der Welt vorgeht. Er kennt mich seit sechzehn Jahren, und in dieser ganzen Zeit hat er sich nicht ein einziges Mal die Mühe gemacht, eins meiner Bücher aufzuschlagen. Das ist mir natürlich egal, ich erwähne es nur, um zu zeigen, wie träge er ist, wie gründlich es ihm an Neugier mangelt. Und doch habe ich diesen Abend mit ihm genossen. Ich habe es genossen, ihn über seine Lieblingssendungen reden zu hören, über seine Frau und die zwei Töchter, über sein Tennis, das immer besser werde, über die Vorteile des Lebens in Florida im Vergleich zu New Jersey. Besseres Klima, ihr versteht schon. Keine Schneestürme und eiskalten Winter mehr; das ganze Jahr über Sommer. So gewöhnlich, Kinder, so beschissen selbstgefällig, und doch – wie soll ich sagen? – absolut in Frieden mit sich selbst, so zufrieden mit seinem Leben, dass ich ihn fast dafür beneidet habe.

Da saßen wir also in einem wenig bemerkenswerten Restaurant, nahmen eine wenig bemerkenswerte Mahlzeit zu uns und sprachen von nichts sonderlich Wichtigem, als Richard plötzlich von seinem Teller aufblickte und mir eine Geschichte zu erzählen begann. Deswegen habe ich euch diesen ganzen Vorspann aufgetischt – um zu Richards Geschichte zu gelangen. Ich weiß nicht, ob ihr mir zustimmen werdet, aber für mich war das so ziemlich das Interessanteste, was ich seit langer Zeit gehört habe.

Vor drei oder vier Monaten ging Richard in seine Garage, um etwas zu suchen, und in irgendeiner Pappschachtel stieß er auf einen alten 3-D-Betrachter. Er entsann sich dunkel, dass seine Eltern das Ding gekauft hatten, als er noch ein Kind war, konnte sich aber an das Wozu und Weshalb nicht mehr erinnern. Falls er das Erlebnis nicht aus seinem Gedächtnis gelöscht hatte, war er sich ziemlich sicher, dass er nie in dieses Kästchen hineingeblickt, ja, es überhaupt noch nie in der Hand gehabt hatte. Als er es aus der Schachtel nahm, um es genauer zu betrachten, stellte er fest, dass es sich nicht um so ein billiges, leichtes Ding handelte, mit dem man vorfabrizierte Bilder von Sehenswürdigkeiten und Landschaften anschauen kann. Es war ein gediegenes, solide gebautes Instrument, ein erstklassiges Relikt aus der Zeit der 3-D-Begeisterung Anfang der Fünfziger. Die Mode war bald verebbt, jedenfalls ging es darum, mit einer Spezialkamera 3-D-Bilder zu fotografieren, sie als Dias entwickeln zu lassen und sich dann in dem Betrachter anzusehen, der praktisch als dreidimensionales Fotoalbum diente. Die Kamera war nicht mehr da, aber Richard fand eine Schachtel mit Dias. Es waren nur zwölf, sagte er, woraus man schließen könnte, dass seine Eltern mit ihrer Modekamera nur einen einzigen Film voll geknipst hatten – und sie dann irgendwo verstaut und schließlich vergessen hatten.

Ohne zu wissen, was ihn erwartete, schob Richard ein Dia in den Betrachter, drückte auf den Knopf für die Hintergrundbeleuchtung und sah hinein. In einem einzigen Augenblick, sagte er, waren dreißig Jahre seines Lebens weggewischt. Es war 1953, und er stand im Wohnzimmer seines elterlichen Hauses in West Orange, New Jersey, zwischen den Gästen auf der Party zu Tinas sechzehntem Geburtstag. Alles kam ihm ins Gedächtnis zurück: das Geburtstagsständchen, die Lieferanten, die in der Küche das Essen auspackten und Sektgläser auf der Anrichte aufreihten, das Klingeln an der Tür, die Musik, das Stimmengewirr, Tinas Chignonfrisur, das Rauschen ihres langen gelben Kleids. Eins nach dem andern schob er die Dias in den Betrachter, alle zwölf. Alle waren sie da, sagte er. Seine Mutter und sein Vater, seine Cousinen und Vettern, seine Tanten und Onkel, seine Schwester, die Freundinnen seiner Schwester, und auch er selbst, ein dünner Vierzehnjähriger mit spitzem Adamsapfel, kurz geschorenem Haar und roter Ansteckfliege. Das war anders als normale Fotos, erklärte er. Es war auch anders als Heimkino – die verwackelten Szenen und ausgebleichten Farben vermitteln ja immer den enttäuschenden Eindruck einer weit zurückliegenden Vergangenheit. Die 3-D-Bilder hingegen waren unglaublich gut erhalten und übernatürlich scharf. Sämtliche Personen darauf wirkten lebendig, überschäumend vor Energie, ganz gegenwärtig; sie gehörten zu einem ewigen Jetzt, das seit knapp dreißig Jahren unaufhörlich fortexistiert hatte. Intensive Farben, die winzigsten Details in äußerster Klarheit, und dazu die Illusion von Raum und Tiefe. Je länger er die Dias betrachtete, sagte Richard, desto stärker wurde das Gefühl, er könne die Gestalten atmen sehen, und jedes Mal wenn er aufhörte und das nächste nahm, schien es ihm, dass sie, wenn er nur ein wenig länger hinsähe – nur noch eine Sekunde –, tatsächlich anfangen würden, sich zu bewegen.

Nachdem er sich jedes Dia einmal angesehen hatte, sah er sich alle ein zweites Mal an, und jetzt wurde ihm nach und nach bewusst, dass die meisten Leute auf diesen Bildern inzwischen tot waren. Sein Vater, 1969 an einem Herzinfarkt gestorben. Seine Mutter, 1972 an Nierenversagen gestorben. Tina, 1974 an Krebs gestorben. Und von seinen sechs Tanten und Onkeln, die an jenem Tag dabei gewesen waren, hatten ebenfalls bereits vier das Zeitliche gesegnet. Auf einem Bild stand er mit seinen Eltern und Tina im Vorgarten. Nur sie vier – untergehakt, aneinander gelehnt, eine Reihe von vier lächelnden Gesichtern, albern und ausgelassen, für die Kamera Grimassen schneidend –, und als Richard das zum zweiten Mal in den Betrachter schob, traten ihm Tränen in die Augen. Das war das Bild, das ihn fertig machte, sagte er, das Bild, das ihm den Rest gab. Er stand dort auf dem Rasen mit drei Gespenstern, begriff er, er war der einzige Überlebende dieses Nachmittags vor dreißig Jahren, und als die Tränen einmal liefen, konnte er sie einfach nicht wieder zum Versiegen bringen. Er legte den Betrachter weg, nahm die Hände vors Gesicht und begann zu schluchzen. Er selbst hat dieses Wort benutzt, als er mir die Geschichte erzählte: schluchzen. ‹Ich habe mir die Seele aus dem Leib geschluchzt›, sagte er. ‹Ich war vollkommen fix und fertig.›

Bedenkt bitte, ich erzähle von Richard – einem Mann, der keine poetische Ader hat, einem Mann mit dem Feingefühl einer Türklinke –, und doch konnte er, kaum dass er diese Bilder entdeckt hatte, an nichts anderes mehr denken. Der Betrachter wurde für ihn zu einer Laterna magica, die es ihm ermöglichte, Zeitreisen zu unternehmen und die Toten zu besuchen. Er sah sich die Bilder morgens an, bevor er zur Arbeit fuhr, und er sah sie sich abends an, wenn er wieder zu Hause war. Immer in der Garage, immer allein, immer ohne Frau und Kinder – wie besessen kehrte er immer wieder zu jenem Nachmittag im Jahr 1953 zurück, er bekam einfach nicht genug davon. Zwei Monate hatte die Faszination schon gedauert, und dann kam Richard eines Morgens in die Garage, und der Betrachter funktionierte nicht mehr. Etwas hatte sich verklemmt, der Lichtknopf ließ sich nicht mehr betätigen. Er habe das Ding wohl überstrapaziert, sagte er, und da er es nicht reparieren konnte, musste er annehmen, dass das Abenteuer vorbei war, dass seine wunderbare Entdeckung ihm für immer genommen worden war. Ein katastrophaler, ein überaus grausamer Verlust. Die Dias ans Licht zu halten und so zu betrachten, war nicht möglich. 3-D-Bilder sind keine gewöhnlichen Fotos, man braucht den Betrachter, um sie in zusammenhängende Bilder zu übersetzen. Kein Betrachter, kein Bild. Kein Bild, keine Zeitreisen in die Vergangenheit mehr. Keine Zeitreisen mehr, keine Freude mehr. Und noch einmal Kummer, noch einmal Trauer – als müsse er die Toten, nachdem er sie ins Leben zurückgeholt hatte, noch einmal begraben.

So sah es aus, als ich ihn vor zwei Wochen traf. Der Apparat war kaputt, und Richard war noch immer dabei zu verarbeiten, was ihm da passiert war. Ich kann euch nicht sagen, wie sehr mich seine Geschichte gerührt hat. Die Verwandlung dieses etwas täppischen, gewöhnlichen Menschen in einen philosophischen Träumer, eine gequälte Seele, die sich nach dem Unerreichbaren sehnt. Ich bot ihm meine uneingeschränkte Hilfe an. Wir sind hier in New York, sagte ich, und da in New York schlechthin alles zu finden ist, gibt es hier garantiert jemanden, der das reparieren kann. Mein Enthusiasmus war Richard ein bisschen peinlich, aber er dankte mir für das Angebot, und dabei beließen wir es. Am nächsten Morgen machte ich mich ans Werk. Ich telefonierte herum, stellte Nachforschungen an, und nach zwei Tagen hatte ich den Inhaber eines Fotogeschäfts in der West Thirty-first Street ausfindig gemacht, der meinte, die Reparatur durchführen zu können. Richard war inzwischen wieder in Florida, und als ich am Abend anrief, um ihm die Neuigkeit zu verkünden, glaubte ich, er würde begeistert sein, und wir würden sofort besprechen, wie er den Betrachter einpacken und nach New York schicken könnte. Aber am anderen Ende der Leitung gab es erst einmal ein langes Schweigen. ‹Ich weiß nicht, John›, sagte Richard schließlich. ‹Ich habe seit unserem Treffen lange darüber nachgedacht, und vielleicht ist es doch gar nicht so gut, wenn ich mir dauernd diese Bilder ansehe. Arlene war schon richtig wütend, und um die Mädchen habe ich mich auch nicht mehr gekümmert. Vielleicht ist es besser so. Man muss doch in der Gegenwart leben, oder? Die Vergangenheit ist vergangen, und egal, wie viel Zeit ich mit diesen Bildern verbringe, ich werde sie nie mehr zurückholen können.›»

Das war das Ende der Geschichte. Ein enttäuschendes Ende, fand John, aber Grace widersprach ihm. Nach zwei Monaten des Umgangs mit den Toten sei Richard in eine gefährliche Lage geraten, sagte sie, daraus hätte sich womöglich eine schwere Depression entwickeln können. Ich wollte auch etwas dazu sagen, aber gerade als ich den Mund aufmachte, um meine Meinung kundzutun, bekam ich wieder einmal mein grässliches Nasenbluten. Angefangen hatte das ein oder zwei Monate, bevor ich ins Krankenhaus gekommen war; die anderen Symptome waren inzwischen fast alle verschwunden, aber das Nasenbluten war geblieben – es schlug, wie mir schien, stets zu den ungelegensten Zeiten zu und brachte mich regelmäßig in größte Verlegenheit. Ich hasste es, mich nicht unter Kontrolle zu haben, zum Beispiel wie an diesem Abend in einem Zimmer zu sitzen und an einem Gespräch teilzunehmen, und dann plötzlich zu merken, dass ich heftig blutete, mir Hemd und Hose bekleckerte und nichts, aber auch gar nichts dagegen machen konnte. Die Ärzte hatten mich beruhigt – das sei gesundheitlich unbedenklich, es gebe keine Hinweise auf drohendes Ungemach –, aber das änderte nichts an meinem Gefühl der Hilflosigkeit und Scham. Jedes Mal, wenn Blut aus meiner Nase schoss, kam ich mir vor wie ein kleiner Junge, der sich in die Hose gemacht hatte.

Ich sprang aus dem Sessel, drückte mir ein Taschentuch ins Gesicht und rannte zum nächsten Badezimmer. Grace fragte, ob sie mir helfen könne, und ich muss ziemlich pampig geantwortet haben, aber was, das weiß ich nicht mehr. «Spar dir die Mühe», vielleicht, oder: «Lass mich in Ruhe.» Jedenfalls klang es so gereizt, dass John sich darüber amüsierte, denn ich erinnere mich deutlich, wie er lachte, als ich aus dem Zimmer stürzte. «Der große Geysir ist mal wieder ausgebrochen», sagte er. «Orrs menstruierender Zinken. Mach dir nichts draus, Sidney. Da weißt du wenigstens, dass du nicht schwanger bist.»

Es gab in der Wohnung zwei Badezimmer, eines auf jeder Ebene. Normalerweise hätten wir den Abend unten im Wohn- und Esszimmer verbracht, aber Johns phlebitisches Bein hatte uns auf die zweite Etage getrieben, denn dort hielt er sich jetzt die meiste Zeit auf. Der Raum oben war eine Art Ersatzwohnzimmer, eine gemütliche kleine Höhle mit großen Erkerfenstern, drei mit Regalen voll gestellten Wänden und eingebauten Nischen für den Fernseher und eine Stereoanlage – die ideale Enklave für einen Rekonvaleszenten. Das Bad auf dieser Etage ging von Johns Schlafzimmer ab, und um ins Schlafzimmer zu kommen, musste ich durch sein Arbeitszimmer gehen, den Ort, an dem er schrieb. Ich machte Licht, als ich dort eintrat, war aber so sehr mit meinem Nasenbluten beschäftigt, dass ich nicht weiter auf das Zimmer achtete. Eine geschlagene Viertelstunde lang stand ich im Bad, hielt mir die Nase zu und legte den Kopf zurück, und bis diese alten Hausmittel zu wirken begannen, strömte eine solche Menge Flüssigkeit aus mir heraus, dass ich mich fragte, ob ich nicht ins Krankenhaus fahren und mir eine Bluttransfusion geben lassen sollte. Wie rot das Blut auf dem Weiß des Waschbeckens aussieht, dachte ich. Welch lebhafter Phantasie diese Farbe entsprungen ist, welch ästhetischen Schock sie bewirkt. Verglichen damit sind die anderen Flüssigkeiten, die wir von uns geben, nichts als farblose, blasse Spritzer. Weißgrauer Speichel, milchiges Sperma, gelbe Pisse, grünbrauner Schleim. Wir scheiden Herbst- und Winterfarben aus, doch unsichtbar in unseren Adern, der Stoff, der uns am Leben erhält, strömt das knallige Rot eines wahnsinniges Künstlers – ein Rot, so leuchtend wie frische Farbe.

Als der Anfall vorbei war, blieb ich noch ein Weilchen am Waschbecken und tat mein Bestes, mich wieder präsentabel zu machen. Es war zu spät, die Flecken aus meinen Kleidern zu entfernen (sie waren zu kleinen rostroten Kreisen getrocknet, die beim Versuch, sie wegzuwischen, nur größer und unförmiger wurden), aber ich wusch mir gründlich Gesicht und Hände, klatschte mir Wasser in die Haare und kämmte mich mit Johns Kamm. Inzwischen tat ich mir etwas weniger Leid, fühlte mich etwas weniger angeschlagen. Hemd und Hose waren noch immer mit hässlichen Punkten verziert, aber der Strom war versiegt, und das Stechen in meiner Nase ließ zum Glück auch schon nach.

Als ich durch Johns Schlafzimmer in sein Arbeitszimmer kam, sah ich zu seinem Schreibtisch hinüber. Ich sah nicht wirklich hin, ließ nur auf dem Weg zur Tür den Blick durchs Zimmer schweifen, aber es war nicht zu übersehen, dort lag, umgeben von Federhaltern, Bleistiften und chaotischen Papierstapeln, ein blaues, fest eingebundenes Notizbuch – auffallend ähnlich dem, das ich mir am Morgen in Brooklyn gekauft hatte. Der Schreibtisch eines Schriftstellers ist ein heiliger Ort, das privateste Heiligtum der Welt, dem Fremde sich nicht ohne Erlaubnis nähern dürfen. Ich war noch nie in die Nähe von Johns Schreibtisch geraten, aber ich war so verblüfft, so neugierig herauszufinden, ob dieses Notizbuch tatsächlich das gleiche wie meines war, dass ich mein Taktgefühl vergaß und näher herantrat. Das Notizbuch lag geschlossen auf einem kleinen Wörterbuch, und als ich mich darüber beugte, um es mir genauer anzusehen, sah ich sofort, dass es ein exaktes Ebenbild dessen war, das bei mir zu Hause auf dem Schreibtisch lag. Aus Gründen, die mir noch immer unklar sind, geriet ich über diese Entdeckung in heftige Erregung. Was besagte es schon, was für ein Notizbuch John benutzte? Er hatte ein paar Jahre in Portugal gelebt, und zweifellos waren solche Notizbücher dort etwas ganz Gewöhnliches und in jedem Allerweltsladen zu haben. Warum sollte er nicht in ein blaues, fest eingebundenes Notizbuch schreiben, das in Portugal hergestellt worden war? Es gab keinen Grund, überhaupt keinen Grund, und doch empfand ich dies – angesichts der wundersam angenehmen Gefühle, die ich beim Kauf meines eigenen blauen Notizbuchs empfunden hatte, angesichts der produktiven Stunden, die ich an diesem Tag schreibenderweise damit verbracht hatte (meine ersten literarischen Bemühungen seit fast einem Jahr), und angesichts der Tatsache, dass ich den ganzen Abend bei John an eben diese meine Bemühungen gedacht hatte – als bestürzendes Zusammentreffen, als ein kleines Stück schwarzer Magie.

Ich hatte nicht vor, das zu erwähnen, als ich ins Wohnzimmer zurückkam. Irgendwie war es zu verrückt, zu ichbezogen und persönlich, und ich wollte John nicht den Eindruck vermitteln, als hätte ich die Angewohnheit, in seinen Privatsachen herumzuschnüffeln. Doch als ich ins Zimmer trat und ihn mit hochgelegtem Bein auf dem Sofa liegen und mit grimmigem, frustriertem Blick an die Decke starren sah, überlegte ich es mir plötzlich anders. Grace war unten in der Küche, wusch das Geschirr und räumte die Reste unseres Essens weg, und ich nahm in dem Sessel Platz, in dem sie vorher gesessen hatte und der zufällig rechts vom Sofa stand, nicht weit von Johns Kopf. Er fragte, ob es mir besser gehe. Ja, antwortete ich, viel besser, und dann beugte ich mich vor und sagte: «Mir ist heute etwas sehr Seltsames passiert. Auf meinem Morgenspaziergang habe ich ein Geschäft betreten und mir ein Notizbuch gekauft. Es war ein so vorzügliches Buch, ein so attraktives und reizendes kleines Ding, dass ich sofort wieder Lust zum Schreiben verspürte. Und sobald ich nach Hause kam, habe ich mich hingesetzt und volle zwei Stunden darin geschrieben.»

«Das hört man gern, Sidney», sagte John. «Du fängst wieder an zu arbeiten.»

«Die Flitcraft-Episode.»

«Ah, sogar noch besser.»

«Warten wir’s ab. Bis jetzt habe ich nur ein paar grobe Skizzen, nichts sonderlich Aufregendes. Aber das Notizbuch scheint mich zu beflügeln, ich kann es kaum erwarten, morgen weiterzuschreiben. Es ist dunkelblau, ein sehr angenehmes Dunkelblau, und hat einen festen Leineneinband. Hergestellt in Portugal.»

«Portugal?»

«In welcher Stadt, weiß ich nicht. Aber auf der hinteren Umschlagseite klebt ein kleines Etikett: MADE IN PORTUGAL.»

«Wie bist du denn bloß hier in der Stadt an so was geraten?»

«Bei mir in der Gegend gibt es einen neuen Laden. Paper Palace, der Inhaber heißt Chang. Er hatte vier davon vorrätig.»

«Ich habe mir diese Notizbücher immer auf meinen Reisen nach Lissabon gekauft. Die sind sehr gut, sehr stabil. Wenn man sie einmal benutzt hat, will man nie mehr in etwas anderes schreiben.»

«Dasselbe Gefühl hatte ich heute auch. Hoffentlich heißt das nicht, dass ich süchtig werde.»

«Sucht wäre vielleicht ein zu starkes Wort, aber außerordentlich verführerisch sind sie in der Tat. Sieh dich vor, Sid, ich benutze sie seit Jahren, ich weiß, wovon ich rede.»

«Das hört sich ja an, als seien die Dinger gefährlich.»

«Kommt drauf an, was du schreibst. Diese Notizbücher sind sehr freundlich, aber sie können auch grausam sein, und du musst aufpassen, dass du dich nicht in ihnen verlierst.»

«Für mich siehst du nicht verloren aus – und ich habe gerade eins auf deinem Schreibtisch gesehen, als ich aus dem Bad gekommen bin.»

«Ich habe mir einen großen Vorrat gekauft, bevor ich nach New York zurückgezogen bin. Leider ist das, was du gesehen hast, das letzte, das ich noch habe, und es ist schon fast voll. Ich habe nicht gewusst, dass man die in Amerika bekommen kann. Ich habe schon an den Hersteller schreiben und einige bestellen wollen.»

«Der Mann im Geschäft hat mir gesagt, die Firma existiert nicht mehr.»

«So ein Pech. Aber das wundert mich nicht. Offenbar gab es keine große Nachfrage danach.»

«Ich kann dir am Montag eins besorgen, wenn du willst.»

«Sind noch blaue da?»

«Schwarz, rot und braun. Ich habe das letzte blaue gekauft.»

«Schade. Blau ist die einzige Farbe, die ich mag. Wenn es die Firma nicht mehr gibt, werde ich mir ein paar neue Gewohnheiten zulegen müssen.»

«Das ist schon komisch, aber als ich mir den Stapel heute Morgen angesehen habe, habe ich mich gleich für das blaue entschieden. Es hat mich unwiderstehlich angezogen. Was hat das zu bedeuten?»

«Das hat gar nichts zu bedeuten, Sid. Nur dass du ein bisschen sonderbar bist. Und ich nicht weniger. Wir schreiben Bücher, stimmt’s? Was soll man von Leuten wie uns anderes erwarten?»