Am nächsten Morgen schlief ich lange, und als ich mich gegen halb elf aus dem Bett wälzte, war Grace schon lange fort. Ich ging in die Küche, nahm meine Tabletten und setzte Kaffee auf, und dann räumte ich in aller Ruhe die Sachen weg, die wir am Abend zuvor liegen gelassen hatten. Zehn Minuten nachdem ich den letzten Teller in den Schrank gestellt hatte, rief Mary Sklarr an. Sie hatte schlechte Neuigkeiten. Bobby Hunters Leute hatten mein Treatment gelesen und nicht für gut befunden.
«Tut mir Leid», sagte Mary, «aber ich werde nicht so tun, als sei ich schockiert.»
«Schon gut», sagte ich weniger gekränkt, als ich vermutet hätte. «Die ganze Idee war Mist. Ich bin froh, dass die’s nicht haben wollen.»
«Die fanden das Ganze zu intellektuell.»
«Ich staune, was für Wörter die kennen.»
«Freut mich, dass du dich nicht aufregst. Das wäre es auch nicht wert.»
«Ich wollte das Geld, sonst nichts. Ein Fall von reiner Habgier. Ich habe mich nicht mal besonders professionell verhalten, oder? Ohne Vertrag sollte man keine Zeile schreiben. Das ist die erste Regel in unserem Geschäft.»
«Na ja, es hat sie schon ziemlich verblüfft. Allein das Tempo. Einen solchen Übereifer sind die nicht gewohnt. Die wollen am liebsten erst mal lange mit Anwälten und Agenten debattieren. Dann haben sie das Gefühl, sie täten etwas Bedeutsames.»
«Ich verstehe immer noch nicht, wie die auf mich gekommen sind.»
«Irgendjemand dort mag deine Bücher. Vielleicht Bobby Hunter, vielleicht das Mädchen, das die Post sortiert. Wer weiß? Auf jeden Fall werden sie dir einen Scheck schicken. Als Zeichen ihres guten Willens. Du hast das ohne Vertrag geschrieben, aber sie wollen dich für den Zeitaufwand entschädigen.»
«Einen Scheck?»
«Bloß ein symbolischer Betrag.»
«Wie viel?»
«Tausend Dollar.»
«Na, das ist doch schon mal was. Das erste Geld, das ich seit langer Zeit verdient habe.»
«Du vergisst Portugal.»
«Ah, Portugal. Wie habe ich Portugal nur vergessen können?»
«Gibt’s was Neues über den Roman, den du schreiben oder auch nicht schreiben willst?»
«Nicht viel. Ein Teil davon lässt sich vielleicht noch verwerten, aber ich bin mir nicht sicher. Ein Roman innerhalb des Romans. Ich denke ständig darüber nach, das könnte immerhin ein gutes Zeichen sein.»
«Gib mir fünfzig Seiten, und ich besorge dir einen Vertrag, Sid.»
«Ich bin noch nie für ein Buch bezahlt worden, das noch nicht fertig war. Was ist, wenn ich Seite einundfünfzig nicht schreiben kann?»
«Wir leben in schlimmen Zeiten, mein Lieber. Wenn du Geld brauchst, versuche ich dir welches zu besorgen. Das ist mein Job.»
«Lass mich drüber nachdenken.»
«Du denkst nach, und ich warte. Wenn du mich anrufen willst, ich bin hier.»
Nachdem wir aufgelegt hatten, ging ich ins Schlafzimmer, um meinen Mantel aus dem Schrank zu holen. Die Zeitmaschine war offiziell für tot erklärt, also musste ich mir was Neues ausdenken, und ich fand, ein Spaziergang in der kühlen Luft würde mir dabei vielleicht helfen. Gerade als ich aus der Wohnung gehen wollte, läutete jedoch schon wieder das Telefon. Ich war versucht, nicht ranzugehen, entschied mich dann anders und nahm in der Hoffnung, es sei Grace, beim vierten Klingeln ab. Es war aber Trause, so ziemlich der letzte Mensch auf der Welt, mit dem ich jetzt sprechen wollte. Ich hatte ihm noch nicht erzählt, dass ich sein Manuskript verloren hatte, und als ich mich darauf vorbereitete, mit dem seit zwei Tagen hinausgeschobenen Geständnis rauszurücken, war ich so mit meinen eigenen Gedanken beschäftigt, dass ich ihm kaum folgen konnte. Eleanor und ihr Mann haben Jacob gefunden, sagte er. Sie hätten ihn bereits in eine Entzugsklinik gebracht – Smithers in der Upper East Side.
«Hast du gehört?», fragte John. «Sie haben ihn für ein Achtundzwanzig-Tage-Programm angemeldet. Das wird wahrscheinlich nicht reichen, aber immerhin ist es ein Anfang.»
«Oh», sagte ich mit schwacher Stimme. «Wann haben sie ihn denn gefunden?»
«Mittwochabend, nicht lange nachdem du gegangen bist. Sie mussten ein bisschen schummeln, um ihn da reinzukriegen. Aber zum Glück kennt Don einen, der einen kennt, und am Ende haben sie es geschafft, die Bürokratie zu überlisten.»
«Don?»
«Eleanors Mann.»
«Ja, natürlich. Eleanors Mann.»
«Geht’s dir nicht gut, Sid? Du hörst dich total daneben an.»
«Nein, nein, alles in Ordnung. Don. Eleanors neuer Mann.»
«Ich rufe an, weil ich dich um einen Gefallen bitten will. Ich hoffe, das ist dir recht.»
«Sicher, immer. Schieß los, ich bin dabei.»
«Morgen ist Samstag, da haben sie in der Klinik Besuchszeit von Mittag bis fünf. Ich dachte, vielleicht könntest du für mich mal hingehen und ihn dir ansehen. Du brauchst nicht lange zu bleiben. Eleanor und Don schaffen das nicht. Die sind schon wieder in Long Island, und sie haben sowieso schon genug getan. Ich möchte nur wissen, ob es ihm gut geht. Die Türen sind dort nicht abgeschlossen. Das ist ein freiwilliges Programm, und ich will sicher sein, dass er es sich nicht anders überlegt hat. Nach allem, was wir durchgemacht haben, wäre es ein Jammer, wenn er da weglaufen würde.»
«Meinst du nicht, du solltest selber hinfahren? Immerhin bist du sein Vater. Ich kenne den Jungen doch kaum.»
«Er redet nicht mehr mit mir. Und wenn er mal vergisst, dass er nicht mehr mit mir redet, tischt er mir bloß Lügen auf. Wenn ich wüsste, das bringt was, würde ich auf meiner Krücke hinhumpeln und ihn besuchen. Aber es bringt nichts.»
«Und wie kommst du darauf, dass er mit mir reden wird?»
«Er mag dich. Frag mich nicht warum, aber er findet dich cool. Das ist ein wörtliches Zitat. ‹Sid ist cool.› Vielleicht weil du so jung aussiehst. Was weiß ich. Vielleicht weil du mal mit ihm über eine Rockband gesprochen hast, für die er sich interessiert.»
«The Bean Spasms, eine Punkband aus Chicago. Ein alter Freund hat mir mal ein paar Songs von denen vorgespielt. Nicht besonders gut. Ich glaub, die gibt’s inzwischen nicht mehr.»
«Immerhin hast du gewusst, wer das ist.»
«Stimmt, aber das war auch schon die längste Unterhaltung, die ich je mit Jacob hatte. Ungefähr vier Minuten.»
«Na, vier Minuten ist nicht schlecht. Wenn du morgen vier Minuten aus ihm rausschlagen könntest, wäre das eine großartige Leistung.»
«Meinst du nicht, es wäre besser, wenn ich Grace mitnehmen würde? Sie kennt ihn viel länger als ich.»
«Ausgeschlossen.»
«Jacob kann sie nicht ausstehen. Ihre Gegenwart ist ihm unerträglich.»
«Kein Mensch kann Grace nicht ausstehen. Da müsste man schon geisteskrank sein.»
«Mein Sohn sieht das anders.»
«Davon hat sie mir nie was erzählt.»
«Das hat schon angefangen, als die beiden sich zum ersten Mal gesehen haben. Grace war dreizehn, und Jacob war drei. Eleanor und ich hatten uns gerade scheiden lassen, und Bill Tebbetts hatte mich für ein paar Wochen zu seiner Familie in sein Landhaus in Virginia eingeladen. Es war Sommer, und ich hatte Jacob mitgenommen. Mit den anderen Kindern der Tebbetts schien er sich zu vertragen, aber jedes Mal wenn Grace ins Zimmer kam, schlug er sie oder warf mit Sachen nach ihr. Einmal hat er ihr ein Spielzeugauto ans Knie gehauen. Die Kleine hat geblutet wie verrückt. Wir sind mit ihr zum Arzt gefahren, und der hat die Wunde mit zehn Stichen genäht.»
«Die Narbe kenne ich. Grace hat mir mal davon erzählt, aber Jacob nicht erwähnt. Sie hat nur gesagt, das war irgendein kleiner Junge, sonst nichts.»
«Anscheinend hat er sie von Anfang an gehasst, von der allerersten Begegnung an.»
«Wahrscheinlich hatte er den Eindruck, du magst sie zu sehr. Er hat sie als Rivalin gesehen. Dreijährige sind ja ziemlich irrationale Wesen. Sie können sich noch nicht richtig mit Worten ausdrücken, und wenn sie wütend werden, können sie nur ihre Fäuste sprechen lassen.»
«Mag sein. Aber er ist dabei geblieben, auch als er älter wurde. Am schlimmsten war es in Portugal, ungefähr zwei Jahre nachdem Tina gestorben war. Ich hatte mir erst kurz zuvor das kleine Haus an der Küste im Norden gekauft, und Eleanor hatte ihn für einen Monat zu mir rübergeschickt. Da war er vierzehn und konnte sich mit Worten genauso gut ausdrücken wie ich. Als er kam, war Grace zufällig auch gerade da. Sie war mit dem College fertig und sollte im September bei Holst & McDermott anfangen. Im Juli kam sie nach Europa, um sich Bilder anzusehen – zuerst in Amsterdam, dann in Paris, dann in Madrid. Danach fuhr sie mit dem Zug nach Portugal. Ich hatte sie seit über zwei Jahren nicht mehr gesehen, und wir hatten einiges nachzuholen, aber als Jacob dann eintraf, wollte er sie nicht in seiner Nähe haben. Dauernd stieß er, wenn auch leise, Beleidigungen gegen sie aus, stellte sich taub, wenn sie ihn was fragte, und ein paar Mal gelang es ihm sogar, sie mit Essen zu bekleckern. Ich ermahnte ihn immer wieder, damit aufzuhören. Noch eine solche Gehässigkeit, sagte ich, und ich schick dich zu deiner Mutter und deinem Stiefvater nach Amerika zurück. Und als er dann wieder mal so was getan hat, habe ich ihn ins Flugzeug gesetzt und nach Hause geschickt.»
«Was hat er da getan?»
«Ihr ins Gesicht gespuckt.»
«Du liebe Zeit.»
«Wir drei sitzen in der Küche und schneiden Gemüse fürs Abendessen. Grace macht irgendeine harmlose Bemerkung – was genau, habe ich vergessen –, und Jacob fühlt sich auf den Schlips getreten. Er fuchtelt mit seinem Messer vor ihr rum und nennt sie eine blöde Kuh, und da ist Grace endlich der Kragen geplatzt. Und dann hat er sie angespuckt. Wenn ich jetzt so daran denke, kann man wohl von Glück reden, dass er ihr nicht das Messer in die Brust gerammt hat.»
«Und du willst, dass ich morgen mit diesem Menschen rede? Dem sollte man eher einen ordentlichen Tritt in den Hintern geben.»
«Ich fürchte, genau das könnte passieren, wenn ich selbst zu ihm ginge. Es wäre für alle Beteiligten besser, wenn du das machen würdest.»
«Hat es seit Portugal noch andere solche Zwischenfälle gegeben?»
«Ich habe die beiden auseinander gehalten. Sie haben sich seit Jahren nicht mehr gesehen, und wenn du mich fragst, wird’s auf der Welt friedlicher zugehen, wenn das so bleibt.»13
Am Ende willigte ich ein, Jacob zu besuchen – allein. Ich war bereit, John diesen kleinen Dienst zu erweisen, aber was er mir über die Abneigung des Jungen gegen Grace erzählt hatte, entsetzte mich. Selbst wenn er Grund zur Eifersucht hatte (der vernachlässigte Sohn, verdrängt zugunsten der geliebten «Patentochter»), konnte ich kein Mitleid empfinden – nur Abscheu und Verachtung. Ich wollte seinem Vater zuliebe in die Klinik gehen, aber ich kann nicht sagen, dass ich mich auf die Zeit in der Gesellschaft seines Sohnes gefreut hätte.
Soweit ich mich erinnerte, hatte ich ihn zuvor nur zweimal gesehen. Da ich von seiner Vergangenheit mit Grace nichts gewusst hatte, hatte ich mir auch nie die Frage gestellt, warum sie zu diesen Treffen nie mitgekommen war. Das erste Mal sahen wir uns an einem Freitagabend im Shea Stadium ein Spiel der Mets gegen die Cincinnati Reds an. Trause hatte von einem Bekannten, der ein Saison-Abo besaß, Tickets bekommen, und da er wusste, dass ich Baseballfan war, hatte er mich eingeladen. Das war im Mai 1979, nur wenige Monate nachdem ich mich in Grace verliebt hatte, und John und ich hatten uns auch erst ein paar Wochen zuvor kennen gelernt. Jacob war kurz vor seinem siebzehnten Geburtstag, und er und einer seiner Klassenkameraden vervollständigten das Quartett. Wir waren kaum im Stadium, als sich herausstellte, dass die beiden Jungen sich überhaupt nichts aus Baseball machten. Während der ersten drei Innings hockten sie mürrisch und gelangweilt auf ihren Plätzen, dann standen sie auf und gingen, um sich Hotdogs zu kaufen und «ein bisschen rumzulaufen», wie Jacob behauptete. Erst in der zweiten Hälfte des siebten kamen sie wieder – kichernd, mit glasigen Augen und sehr viel besserer Laune als vorher. Es war nicht schwer zu erraten, was sie getan hatten. Ich war damals noch Lehrer, und ich hatte genug bekiffte Jugendliche gesehen, um die Symptome zu erkennen. John konzentrierte sich auf das Spiel und schien nichts zu merken, und ich hielt es nicht für nötig, ihn darauf hinzuweisen. Ich kannte ihn damals ja noch kaum und fand, es gehe mich nichts an, was sich zwischen ihm und seinem Sohn abspielte. Von Hallo und Auf Wiedersehen einmal abgesehen, haben Jacob und ich an diesem ganzen Abend nicht mehr als acht oder zehn Worte gewechselt.
Unsere nächste Begegnung fand etwa sechs Monate später statt. Er war mitten im letzten Schuljahr der Highschool und drauf und dran, in allen Fächern durchzufallen, und John hatte mich kurzfristig auf einen Abend im Billardsalon eingeladen. Er und Jacob sprachen inzwischen kaum noch miteinander, und vermutlich wollte er mich als eine Art Puffer dabeihaben, als neutralen Dritten, der verhinderte, dass es zwischen den beiden in der Öffentlichkeit zu einer lautstarken Auseinandersetzung kam. Das war der Abend, an dem Jacob und ich über die Bean Spasms sprachen und ich mir den Ruf erwarb, cool zu sein. Er schien mir ein außerordentlich kluger und feindseliger Junge zu sein, der die feste Absicht hatte, sein Leben auf jede nur mögliche Weise zu verpfuschen. Ein Hoffnungsschimmer war allenfalls seine Entschlossenheit, seinen Vater beim Billard zu schlagen. Ich war ein miserabler Spieler und geriet bei jeder Partie schnell ins Hintertreffen, aber John beherrschte das Spiel und hatte es offensichtlich auch seinem Sohn beigebracht. Es weckte den Kampfgeist in ihnen beiden, und allein die Tatsache, dass Jacob sich auf etwas konzentrierte, erschien mir als ermutigendes Zeichen. Damals wusste ich noch nicht, dass John bei der Armee ein ausgebuffter Billardvirtuose geworden war. Wenn er gewollt hätte, hätte er Jacob vom Tisch gefegt, aber darauf verzichtete er. Er gab sich als Anfänger und ließ den Jungen gewinnen. Unter den damaligen Umständen war das wahrscheinlich richtig. Nicht dass es den beiden auf lange Sicht geholfen hätte, aber immerhin lächelte Jacob einmal, als sie fertig waren und er seinem Vater die Hand schüttelte. Soweit ich weiß, war es wohl das letzte Mal, dass das geschah.