Als ich ging, war ich überwältigt, sprachlos vor Dankbarkeit, und nicht einmal die kleine Unannehmlichkeit, mich unten von Régine verabschieden zu müssen, konnte mein Glück schmälern. Das Manuskript steckte in einem braunen Umschlag in einer Seitentasche meiner Sportjacke, und als ich zur Subway ging, hatte ich ständig die Hand darauf, am liebsten hätte ich gleich angefangen, es zu lesen. John hatte mich und meine Arbeit immer unterstützt, aber diesmal war mir bewusst, dass sein Geschenk mindestens ebenso viel mit Grace zu tun hatte wie mit mir. Ich war der schwächliche Krüppel, der die Verantwortung für ihr Wohlergehen trug, und wenn er irgendetwas dazu beitragen konnte, uns wieder auf die Beine zu helfen, war er bereit, es zu tun – selbst wenn es bedeutete, mir ein unveröffentlichtes Manuskript zur Verfügung zu stellen. Die Chance, dass sich aus seiner Idee etwas machen ließ, war äußerst klein, aber ob ich seine Geschichte nun zu einem Film verarbeiten konnte oder nicht, entscheidend war seine Bereitschaft, mehr als nur die üblichen Freundespflichten zu erfüllen und sich aktiv für uns zu engagieren. Uneigennützig, ohne irgendeinen Gedanken daran, selbst davon zu profitieren.
Es war nach siebzehn Uhr, als ich die Station West Fourth Street erreichte. Die Rush Hour war bereits in vollem Gang, und als ich, mich krampfhaft ans Geländer klammernd, um nicht zu stolpern, die zwei Absätze zum Bahnsteig F hinunterstieg, hatte ich keine Hoffnung, einen Sitzplatz zu bekommen. Die Bahn nach Brooklyn war garantiert brechend voll. Ich würde Johns Erzählung also im Stehen lesen müssen, und da das extrem schwierig wäre, machte ich mich darauf gefasst, notfalls um ein wenig zusätzlichen Raum zu kämpfen. Als die Türen des Zugs aufgingen, ließ ich jede Höflichkeit fahren und zwängte mich vor allen anderen Wartenden durchs Gewühl der aussteigenden Passagiere, aber das nützte mir auch nichts. Hinter mir drängte der Mob hinein. Ich wurde in die Mitte des Wagens geschoben, und als die Türen zugingen und der Zug abfuhr, stand ich zwischen so vielen Leuten eingeklemmt, dass mir die Arme an die Seiten gepresst waren und ich nicht einmal in die Tasche greifen konnte, um den Umschlag herauszunehmen. Ich konnte mich nur darauf konzentrieren, meine Mitpassagiere nicht allzu heftig anzurempeln, als wir schaukelnd und schlingernd durch den Tunnel fuhren. Einmal gelang es mir, eine Hand so weit frei zu machen, dass ich mit den Fingern einen Haltegriff zu fassen bekam, aber das war auch schon das Äußerste, was mir unter diesen Umständen an Bewegung möglich war. Nur wenige Leute stiegen an den nächsten Haltestellen aus, und für jeden von ihnen rückten zwei neue nach. Hunderte blieben auf den Bahnsteigen zurück und mussten auf den nächsten Zug warten, und ich hatte während der gesamten Fahrt nicht die geringste Chance, mir die Erzählung anzusehen. Als wir die Station Bergen Street erreichten, wollte ich meine Hand wieder auf den Umschlag legen, wurde aber von hinten gestoßen, von links und rechts bedrängt, und als ich mich, um als Erster aussteigen zu können, an der Mittelstange vorbeizwängte, hielt der Zug plötzlich an, die Türen gingen auf, und ich wurde auf den Bahnsteig gestoßen, bevor ich kontrollieren konnte, ob der Umschlag noch da war. War er nicht. Die Flut der Aussteigenden trug mich zwei, drei Meter weiter, und als ich mich umdrehte und wieder einsteigen wollte, waren die Türen schon zu, und der Zug hatte sich wieder in Bewegung gesetzt. Ich schlug mit der Faust an ein vorbeigleitendes Fenster, aber der Schaffner nahm keine Notiz von mir. Der Zug glitt aus dem Bahnhof, und ein paar Sekunden später war er verschwunden.
Ich hatte mich seit der Entlassung aus dem Krankenhaus schon ähnlicher Fehlleistungen schuldig gemacht, aber keine war schlimmer oder schmerzlicher als diese. Statt den Umschlag in der Hand zu behalten, hatte ich ihn wie ein Idiot in eine Tasche gesteckt, die zu klein dafür war, und jetzt lag Johns Manuskript auf dem Boden einer U-Bahn nach Coney Island, und die halbe Einwohnerschaft Brooklyns trampelte mit ihren Schuhen darauf herum. Ein unverzeihlicher Fehler. John hatte mir das einzige Exemplar eines unveröffentlichten Manuskripts anvertraut, und wenn man allein an das wissenschaftliche Interesse an seinem Werk dachte, konnte man davon ausgehen, dass ein solches Manuskript mehrere hundert Dollar wert war, wenn nicht Tausende. Was sollte ich ihm antworten, wenn er mich fragte, was ich davon hielt? Er hatte gesagt, ich solle es in den Müll werfen, wenn es mir nicht gefiele, aber das war nur eine übertriebene Art, seinen Text herabzusetzen, ein Scherz. Natürlich würde er das Manuskript zurückhaben wollen – ob es mir gefiel oder nicht. Ich hatte keine Ahnung, wie ich das wieder gutmachen könnte. Wenn mir jemand angetan hätte, was ich soeben Trause angetan hatte, ich glaube, ich hätte den Betreffenden vor Wut erwürgen können.
Der Verlust hatte mich sehr niedergeschlagen, aber wie sich herausstellen sollte, fing damit ein langer, schwieriger Abend gerade erst an. Als ich nach Hause kam und die drei Treppen zur Wohnung hochstieg, sah ich, dass die Tür offen stand – nicht bloß angelehnt, sondern bis zum Anschlag aufgestoßen. Mein erster Gedanke war, Grace sei früher zurückgekommen, habe vielleicht einen Arm voll Pakete und Einkaufstüten hineingetragen und dann vergessen, die Tür zuzumachen. Nach einem Blick ins Wohnzimmer war mir jedoch klar, dass Grace nichts damit zu tun hatte. Jemand war in die Wohnung eingebrochen, sehr wahrscheinlich über die Feuertreppe, und hatte das Küchenfenster aufgehebelt. Bücher lagen auf dem Boden verstreut, unser kleiner Schwarzweißfernseher war weg, und ein Foto von Grace, das auf dem Kaminsims gestanden hatte, lag zerrissen auf dem Sofa. Letzteres empfand ich als besonders bösartig, geradezu als persönlichen Angriff. Als ich zum Bücherregal ging, um mir den Schaden anzusehen, bemerkte ich, dass nur die wertvollsten Stücke fehlten: signierte Exemplare der Romane von Trause und einigen anderen befreundeten Schriftstellern, ein halbes Dutzend Erstausgaben, die mir im Lauf der Jahre geschenkt worden waren. Hawthorne, Dickens, Henry James, Fitzgerald, Wallace Stevens, Emerson. Wer auch immer uns bestohlen hatte, war kein gewöhnlicher Dieb. Er kannte sich mit Literatur aus, und er hatte sich auf die wenigen Schätze beschränkt, die wir besaßen.
Mein Arbeitszimmer schien unberührt, aber das Schlafzimmer war systematisch und gründlich durchwühlt worden. Jede Schublade aus der Kommode gezogen, die Matratze umgedreht. Und die Lithographie von Bram van Velde, die Grace Anfang der siebziger Jahre in der Pariser Galerie Maeght gekauft hatte, hing nicht mehr an der Wand über unserem Bett. Eine Untersuchung der Schubladen ergab, dass auch Graces Schmuckschatulle verschwunden war. Sie besaß nicht viel, aber sie hatte ein Paar Mondstein-Ohrringe, die sie von ihrer Großmutter geerbt hatte, in dieser Schachtel aufbewahrt, außerdem ein Armband mit einem Amulett aus ihrer Kindheit und eine silberne Halskette, die ich ihr zu ihrem letzten Geburtstag geschenkt hatte. Jetzt war irgendein Fremder mit diesen Sachen abgezogen, und das kam mir so grausam und sinnlos vor wie eine Vergewaltigung, eine brutale Plünderung unserer kleinen Welt.
Wir hatten keine Diebstahl- oder Hausratversicherung, und ich hatte wenig Lust, die Polizei zu rufen und den Einbruch anzuzeigen. Einbrecher wurden nie gefasst, und ich sah keinen Grund, etwas zu verfolgen, was mir aussichtslos schien; doch ehe ich eine Entscheidung traf, musste ich herausfinden, ob sonst noch jemand im Haus bestohlen worden war. Es gab in dem Gebäude drei weitere Wohnungen – eine über uns und zwei unter uns –, und als Erstes ging ich nach unten ins Parterre und sprach mit Mrs. Caramello, die zusammen mit ihrem Mann, einem ehemaligen Friseur, der die meiste Zeit vor dem Fernseher saß oder im Wettbüro auf Football-Spiele setzte, die Hausverwalterstelle innehatte. Bei ihnen war nichts passiert, aber immerhin beunruhigte sie mein Bericht so sehr, dass sie ihren Mann herbeirief, der in Pantoffeln zur Tür geschlurft kam und die Nachricht bloß mit einem Ächzen quittierte. «Wahrscheinlich so ein verdammter Junkie», sagte er. «Sie sollten sich Gitter vor die Fenster machen, Sid. Anders kann man sich dieses Gesocks nicht vom Leib halten.»
Die anderen zwei Mieter waren ebenfalls verschont worden. Anscheinend waren wir die einzigen, die keine Gitter vor den Fenstern hatten, und daher war es nur logisch, dass es uns erwischt hatte – vertrauensselige Trottel, die es nicht für nötig hielten, geeignete Vorsichtsmaßregeln zu treffen. Alle bedauerten uns, gaben aber indirekt zu verstehen, dass wir es nicht anders verdient hatten.
Als ich wieder in die Wohnung kam und das Chaos in etwas ruhigerer Verfassung besichtigen konnte, war mein Schrecken noch größer. Eins nach dem andern sprangen mir Details, die ich zuvor übersehen hatte, in die Augen und verstärkten das Gefühl der Bedrohung. Eine Stehlampe links neben dem Sofa lag umgestürzt und kaputt am Boden, eine Blumenvase in Scherben auf dem Teppich, und selbst unser kläglicher Neunzehn-Dollar-Toaster stand nicht mehr an seinem Platz in der Küche. Ich rief Grace im Büro an, um sie auf den Schock vorzubereiten, aber dort nahm niemand ab, was mir darauf hinzudeuten schien, dass sie bereits gegangen und auf dem Heimweg war. Da ich sonst nichts mit mir anzufangen wusste, begann ich die Wohnung aufzuräumen. Das muss gegen halb sieben gewesen sein; ich rechnete damit, dass Grace jeden Augenblick zur Tür hereinkäme, und arbeitete über eine Stunde lang, fegte Scherben zusammen, stellte Bücher ins Regal zurück, legte die Matratze wieder richtig ins Bett und brachte die Kommode in Ordnung. Anfangs war ich froh, dass ich so rasche Fortschritte machte, während Grace noch nicht da war. Je besser ich die Wohnung wiederherstellen konnte, desto geringer ihr Schrecken, wenn sie kam. Dann aber war ich fertig mit dem, was ich mir vorgenommen hatte, und sie war immer noch nicht da. Inzwischen war es viertel vor acht, weit über die Zeit hinaus, da man eine Störung im Betrieb der Subway dafür verantwortlich machen konnte, dass sie es noch nicht nach Brooklyn geschafft hatte. Gewiss, gelegentlich machte sie Überstunden, aber dann rief sie jedes Mal an und sagte Bescheid, wann sie das Büro verlassen werde; aber auf dem Anrufbeantworter war keine Nachricht von ihr. Zur Sicherheit wählte ich noch einmal ihre Nummer bei Holst & McDermott, aber wieder nahm dort niemand ab. Sie war nicht im Büro, und sie war nicht nach Hause gekommen, und plötzlich schien mir der Einbruch nur noch nebensächlich, eine unbedeutende Störung in ferner Vergangenheit. Grace war verschwunden, und als es auf acht Uhr zuging, befand ich mich bereits in einem Zustand fieberhafter, grenzenloser Panik.
Ich rief ein paar Leute an – Freunde, Mitarbeiter, sogar ihre Cousine in Connecticut –, aber erst der letzte meiner Gesprächspartner hatte mir etwas mitzuteilen. Greg Fitzgerald war Leiter der Kunstabteilung von Holst & McDermott, und ihm zufolge hatte Grace ihn am Morgen um kurz nach neun im Büro angerufen und gesagt, sie könne an diesem Tag nicht zur Arbeit kommen. Es tue ihr sehr Leid, aber es habe sich etwas Dringendes ergeben, um das sie sich unverzüglich kümmern müsse. Worum es da ging, habe sie nicht gesagt, aber als Greg sie fragte, ob mit ihr alles in Ordnung sei, habe sie erst nach einigem Zögern geantwortet. «Ich glaube schon», habe sie schließlich gesagt, und Greg, der sie seit Jahren kannte und ihr außerordentlich zugetan war (ein Schwuler, halb verliebt in seine hübscheste Kollegin), fand diese Antwort verwirrend. «Das passt nicht zu ihr», war der Ausdruck, den er benutzte, glaube ich, doch als er die wachsende Verzweiflung in meiner Stimme vernahm, versuchte er mich mit der Bemerkung zu beschwichtigen, am Ende des Gesprächs habe Grace noch gesagt, morgen früh käme sie wieder ins Büro. «Machen Sie sich keine Sorgen, Sidney», fuhr Greg fort. «Wenn Grace sagt, sie tut etwas, dann tut sie es auch. Ich arbeite seit fünf Jahren mit ihr zusammen, und sie hat mich noch kein einziges Mal im Stich gelassen.»
Ich blieb die ganze Nacht auf und wartete auf sie, halb von Sinnen vor Angst und Verwirrung. Ehe ich mit Fitzgerald gesprochen hatte, war ich zu der Überzeugung gelangt, dass Grace irgendetwas Schlimmes zugestoßen sein musste – sie war überfallen, belästigt, von einem Lastwagen oder Taxi überfahren worden, ein Opfer der zahllosen Brutalitäten, die einer Frau auf den Straßen von New York zustoßen können. Jetzt schien mir das unwahrscheinlich, aber wenn sie nicht tot oder in Gefahr war – was war dann los mit ihr, und warum hatte sie mich nicht angerufen und mir gesagt, wo sie war? Immer wieder spielte ich unsere Unterhaltung am Morgen auf dem Weg zur Subway durch, versuchte aus ihren eigenartig emotionsgeladenen Bemerkungen zum Thema Vertrauen schlau zu werden, erinnerte mich an die Küsse, die sie mir gegeben hatte, und wie sie sich dann ganz unvermittelt von mir losgerissen hatte und davongelaufen war, ohne sich noch einmal umzudrehen und zu winken, bevor sie die Treppe hinunter verschwand. So verhielt sich eine, die spontan zu einem Entschluss gekommen war, die plötzlich eine Entscheidung getroffen hatte, aber immer noch von erheblichen Zweifeln gequält wurde, die immer noch so schwankend in ihrem Entschluss war, dass sie es nicht gewagt hatte, auch nur ein einziges Mal zurückzublicken, aus Furcht, jeder weitere Blick zu mir könnte ihre Entschlossenheit zerstören, zu tun, was auch immer sie sich vorgenommen hatte. So viel glaubte ich zu begreifen, aber darüber hinaus verstand ich gar nichts. Grace war mir ein unlösbares Rätsel geworden, und jeder Gedanke, der mir in dieser Nacht kam, wuchs sich jäh zu einer Geschichte aus, einem grauenhaften kleinen Drama, das sich aus meinen tiefsten Ängsten für unsere gemeinsame Zukunft speiste – die sich rapide in Luft aufzulösen schien.
Wenige Minuten nach sieben kam sie nach Hause, gut zwei Stunden nachdem ich mich damit abgefunden hatte, dass ich sie nie mehr wieder sehen würde. Sie trug andere Sachen als die, die sie am Morgen zuvor angehabt hatte, und gut sah sie aus, frisch geschminkt mit hellrotem Lippenstift, elegantem Augen-Make-up und einem Hauch Rouge auf den Wangen. Ich saß auf dem Sofa im Wohnzimmer, und als ich sie hereinkommen sah, war ich so verblüfft, dass ich buchstäblich kein Wort herausbrachte. Grace lächelte mich an – ruhig, strahlend, ganz sie selbst –, kam dann zu mir herüber und gab mir einen Kuss auf die Lippen.
«Ich weiß, ich habe dich auf eine sehr harte Probe gestellt», sagte sie, «aber das musste sein. Es wird nie wieder vorkommen, Sidney. Ehrenwort.»
Sie setzte sich neben mich und küsste mich noch einmal, aber ich brachte es nicht fertig, die Arme um sie zu legen. «Du musst mir sagen, wo du warst», fing ich an und erschrak über die Wut und Verbitterung in meiner Stimme. «Schluss mit Schweigen, Grace. Du musst reden.»
«Ich kann nicht», sagte sie.
«Doch, du kannst. Du musst.»
«Gestern früh hast du gesagt, du vertraust mir. Vertrau mir weiter, Sid. Um mehr bitte ich nicht.»
«Wenn Leute so etwas sagen, heißt das, sie haben etwas zu verbergen. Immer. Das ist wie ein mathematisches Gesetz, Grace. Also, was hast du? Was verschweigst du mir?»
«Nichts. Ich musste gestern nur mal allein sein, das ist alles. Ich habe Zeit zum Nachdenken gebraucht.»
«Gut. Tu das und denk nach. Dass du nicht angerufen hast, mir nicht gesagt hast, wo du steckst, das war die reine Folter für mich.»
«Ich wollte ja, aber ich konnte nicht. Ich weiß nicht warum. Es war, als müsste ich mir vormachen, dass ich dich gar nicht kenne. Nur für ganz kurze Zeit. Das war gemein, aber es hat mir geholfen, es hat mir wirklich geholfen.»
«Wo hast du die Nacht verbracht?»
«So war das nicht, glaub mir. Ich war allein. Ich habe mir ein Zimmer im Gramercy Park Hotel genommen.»
«Welche Etage? Wie war die Zimmernummer?»
«Bitte, Sid, lass das. Das ist nicht fair.»
«Ich könnte da anrufen und das nachprüfen, oder?»
«Natürlich könntest du das. Aber das würde bedeuten, dass du mir nicht glaubst. Und dann hätten wir ein Problem. Aber wir haben kein Problem. Genau darum geht es. Es geht uns gut, und dass ich hier bin, ist der Beweis dafür.»
«Ich nehme an, du hast über das Kind nachgedacht …»
«Unter anderem, ja.»
«Und? Gibt’s was Neues?»
«Ich bin immer noch unschlüssig. Ich weiß immer noch nicht, was ich tun soll.»
«Ich war gestern ein paar Stunden bei John, und er meint, du solltest es abtreiben lassen. Er besteht geradezu darauf.»
Grace machte ein überraschtes und verärgertes Gesicht. «John? Aber der weiß doch gar nicht, dass ich schwanger bin.»
«Ich hab’s ihm erzählt.»
«Oh, Sidney. Das hättest du nicht tun dürfen.»
«Warum nicht? Er ist doch unser Freund. Warum sollte er es nicht wissen dürfen?»
Sie zögerte einige Sekunden, bevor sie antwortete. «Weil es unser Geheimnis ist», sagte sie schließlich, «und wir noch nicht entschieden haben, was wir machen wollen. Ich habe das noch nicht mal meinen Eltern erzählt. Wenn John mit meinem Vater redet, könnte die Sache schrecklich kompliziert werden.»
«Das wird er nicht. Dazu macht er sich zu große Sorgen um dich.»
«Sorgen?»
«Ja, Sorgen. Genau so, wie ich mir Sorgen mache. Du hast ganz untypisch gehandelt, Grace. Da muss sich jeder Sorgen machen, der dich liebt.»
Im weiteren Verlauf unseres Gesprächs lockerte sich ihr Widerstand ein wenig, und ich war fest entschlossen, ihr so lange zuzusetzen, bis sie mir alles erzählt hatte, bis ich verstand, was sie zu ihrer rätselhaften vierundzwanzigstündigen Flucht getrieben hatte. Es stand so viel auf dem Spiel, dachte ich, und wenn sie nicht mit der Wahrheit herausrückte, wie sollte ich ihr dann noch trauen können? Vertrauen war das Einzige, was sie von mir verlangte, und doch war es mir seit ihrem merkwürdigen Ausbruch in dem Taxi am Samstagabend unmöglich geworden, nicht das Gefühl zu haben, dass etwas nicht stimmte, dass Grace unter einer Last, die sie nicht mit mir teilen wollte, in die Knie zu gehen drohte. Für kurze Zeit hatte mir die Schwangerschaft als Erklärung dafür eingeleuchtet, aber jetzt war ich mir da nicht mehr so sicher. Es war etwas anderes, zusätzlich zu dem Kind, und bevor ich mich mit Gedanken an andere Männer und heimliche Affären und finsteren Betrug herumquälte, wollte ich doch lieber von ihr erfahren, was da los war. Leider wurde die Unterhaltung an dieser Stelle plötzlich unterbrochen, und ich war nicht mehr in der Lage, meinen Gedankengang weiter zu verfolgen. Das geschah, kurz nachdem ich Grace erzählt hatte, wie sehr ich mich um sie gesorgt hatte. Ich nahm ihre Hand, und als ich sie zu mir heranzog, um sie auf die Wange zu küssen, bemerkte sie nun doch, dass die Stehlampe nicht mehr da war, wo sie sein sollte, dass der Raum links vom Sofa leer war. Ich musste ihr von dem Einbruch erzählen, und damit schlug natürlich die ganze Stimmung um, und statt mit ihr über diese eine Sache zu reden, musste ich nun von einer anderen anfangen.
Zunächst schien Grace die Neuigkeit gelassen hinzunehmen. Ich zeigte ihr die Lücke im Bücherregal, wo die Erstausgaben gestanden hatten, wies auf den Beistelltisch, der den kleinen Fernseher getragen hatte, führte sie dann in die Küche und teilte ihr mit, dass wir einen Toaster kaufen mussten. Grace zog die Schubladen unter der Anrichte auf (was ich noch nicht getan hatte) und entdeckte, dass unser bestes Silberbesteck, ein Geschenk ihrer Eltern zu unserem ersten Hochzeitstag, ebenfalls verschwunden war. Und jetzt packte sie die Wut. Sie trat die unterste Schublade mit dem rechten Fuß zu und begann zu fluchen. Grace wurde nur selten ordinär, aber an diesem Morgen war sie für ein paar Minuten außer sich und ließ einen Schwall Flüche vom Stapel, der alles übertraf, was ich je aus ihrem Mund gehört hatte. Dann gingen wir ins Schlafzimmer, und dort ergoss sich ihre Wut schließlich in Tränen. Als ich ihr von der Schmuckschachtel erzählte, bebte ihre Unterlippe, aber als sie sah, dass auch die Lithographie gestohlen worden war, setzte sie sich aufs Bett und begann zu weinen. Ich tat alles, um sie zu trösten, versprach, so schnell wie möglich einen anderen van Velde für sie aufzutreiben, wusste aber, dass der, den sie als Zwanzigjährige auf ihrer ersten Parisreise gekauft hatte, durch nichts zu ersetzen war: eine schwungvolle Formation verschiedener leuchtender Blautöne, in der Mitte aufgelockert durch einen runden weißen Fleck und einen gebrochenen roten Strich. Ich selbst hatte inzwischen Jahre mit dem Bild gelebt und war nie müde geworden, es anzusehen. Es war eins dieser Werke, die einem immer wieder etwas Neues gaben, die sich nie abzunutzen schienen.12
Grace hatte an der Rhode Island School of Design studiert und zwei Auslandssemester in Paris verbracht. Auf van Velde hatte Trause sie hingewiesen: er schrieb ihr in einem Brief, er habe van Velde in den fünfziger Jahren ein paar Mal gesehen, der Mann sei Samuel Becketts Lieblingskünstler gewesen. (Er legte ihr Becketts Dialog mit Georges Duthuit über van Velde bei. Ich behaupte, van Velde ist … der Erste, der eingestanden hat, dass Künstler sein Scheitern bedeutet, zu scheitern, wie niemand sonst es riskiert, Scheitern ist seine Welt.) Van Veldes Gemälde waren rar und teuer, aber seine graphischen Arbeiten aus den Sechzigern und frühen Siebzigern waren damals noch einigermaßen bezahlbar, und Grace hatte dieses Bild in Raten von ihrem eigenen Geld bezahlt, hatte am Essen und anderen Lebensbedürfnissen gespart, um im Rahmen des von ihrem Vater monatlich geschickten Taschengeldes zu bleiben. Die Lithographie war ein wichtiger Teil ihrer Jugend, ein Symbol ihrer zunehmenden Leidenschaft für die Kunst und ein Zeichen ihrer Selbständigkeit – eine Brücke zwischen den letzten Tagen ihrer Jugend und ihren ersten Tagen als Erwachsene –, und das Bild bedeutete ihr mehr als alles andere, was sie besaß.
Sie brauchte fünfzehn, zwanzig Minuten, bis sie sich wieder gefasst hatte, dann ging sie ins Bad, um sich die verschmierte Wimperntusche abzuwaschen und das Gesicht wieder in Ordnung zu bringen. Ich wartete so lange im Schlafzimmer, weil ich dachte, wir würden unser Gespräch dort fortsetzen können, aber als sie zurückkam, sagte sie nur, es sei schon spät, sie müsse jetzt zur Arbeit. Ich versuchte ihr das auszureden, aber sie blieb dabei. Sie habe Greg versprochen, heute Morgen pünktlich zu sein, sagte sie; es sei so freundlich von ihm gewesen, ihr den gestrigen Tag freizugeben, und sie wolle seine Freundschaft nicht noch weiter ausnutzen. Versprochen sei versprochen, sagte sie, worauf ich erwiderte, dass wir noch einiges zu bereden hätten. Schon möglich, antwortete sie, aber das könne warten, bis sie von der Arbeit nach Hause käme. Wie um ihre guten Absichten zu beweisen, setzte sie sich noch einmal aufs Bett, schlang die Arme um mich und hielt mich, wie mir schien, ziemlich lange an sich gedrückt. «Mach dir keine Sorgen um mich», sagte sie. «Mit mir ist jetzt wirklich alles in Ordnung. Gestern das hat mir sehr gut getan.»