Am Tag darauf wurde Trauses Asche auf einer Wiese im Central Park verstreut. Es mögen an diesem Morgen dreißig oder vierzig von uns gewesen sein, eine Versammlung von Freunden, Verwandten und Schriftstellerkollegen; Vertreter irgendeiner Religion waren nicht anwesend, und das Wort Gott kam keinem der Redner über die Lippen. Grace wusste nicht, dass John gestorben war, und ihre Eltern und ich hatten beschlossen, die Mitteilung so lange wie möglich hinauszuschieben. Bill begleitete mich zu der Feierlichkeit, während Sally bei Grace im Krankenhaus blieb – man hatte Grace gesagt, ich bringe ihren Vater zum Flughafen, weil er nach Virginia zurückmüsse. Ihre Genesung machte zwar Fortschritte, aber einen Schlag dieser Größenordnung konnte sie noch nicht verkraften. Zwei Tragödien auf einmal sind zu viel, erklärte ich ihren Eltern; eine genügt erst mal. Wie die einzelnen Tropfen, die aus dem Plastikbeutel in den an Graces Arm befestigten Schlauch fielen, würde die bittere Arznei in kleinen Dosen verabreicht werden müssen. Der Verlust des Kindes war fürs Erste mehr als genug. John konnte warten, bis sie so weit bei Kräften war, dass sie es mit dem nächsten Trauerfall aufnehmen konnte.
Jacob wurde bei der Feier nicht erwähnt, aber in meinen Gedanken war er anwesend, als ich im strahlenden Licht dieses Herbstmorgens stand und mir die Lobesreden von Johns Bruder und Bill und einigen anderen Freunden anhörte. Schrecklich, zu sterben, bevor man die Chance hat, alt zu werden, sagte ich mir; bitter, sich vorzustellen, was er noch alles hätte schreiben können. Aber wenn John jetzt hatte sterben müssen, dachte ich, dann war es sicher besser, dass er am Montag gestorben war, nicht am Dienstag oder Mittwoch. Hätte er noch vierundzwanzig Stunden länger gelebt, dann hätte er erfahren, was Jacob Grace angetan hatte, und daran wäre er garantiert zugrunde gegangen. So aber würde er sich nie der Tatsache stellen müssen, dass er ein Monstrum gezeugt hatte, nie mit der Bürde des Verbrechens leben müssen, das sein Sohn an der Frau begangen hatte, die er über alles in der Welt geliebt hatte. Jacob war zum Tabu geworden, aber mein Hass auf ihn war grenzenlos, und ich freute mich nur auf den Moment, wenn die Polizei ihn endlich geschnappt haben würde und ich vor Gericht gegen ihn aussagen konnte. Zu meinem unendlichen Bedauern ist es nie dazu gekommen. Als wir im Central Park seinen Vater betrauerten, war Jacob schon tot. Keiner von uns konnte das zu diesem Zeitpunkt gewusst haben, denn es vergingen noch zwei Monate, ehe seine verwesende Leiche gefunden wurde – in eine schwarze Plastikplane gewickelt, in einem Müllcontainer auf einer verlassenen Baustelle nicht weit vom Harlem River in der Bronx. Er hatte zwei Kugeln im Kopf. Richie und Phil waren keine Phantome gewesen, und als sie ein Jahr später vor Gericht standen und der Obduktionsbericht verlesen wurde, kam heraus, dass die zwei Kugeln aus zwei verschiedenen Waffen abgefeuert worden waren.
Am selben Tag (1. Oktober) erreichte der von Madame Dumas in Manhattan eingeworfene Brief sein Ziel in Brooklyn. Ich fand ihn in meinem Briefkasten, als ich aus dem Central Park nach Hause kam (wo ich mich umziehen wollte, um dann wieder ins Krankenhaus zu fahren), und da auf dem Umschlag kein Absender stand, erfuhr ich erst, als ich ihn nach oben getragen und geöffnet hatte, von wem er war. Trause hatte den Brief mit der Hand geschrieben, und die Schrift war so zerklüftet, so hektisch hingeworfen, dass ich sie nur mit Mühe entziffern konnte. Ich musste den Text mehrmals durchgehen, bis es mir gelang, die Rätsel dieser unleserlichen Schleifen und Striche zu knacken, aber als ich dann die Zeichen in Worte übertrug, begann ich Johns Stimme zu hören – eine lebendige Stimme, die von der anderen Seite des Todes, von der anderen Seite des Nichts zu mir sprach. Als ich im Umschlag den Scheck entdeckte, traten mir Tränen in die Augen. Ich sah Johns Asche im Park aus der Urne rieseln. Ich sah Grace in ihrem Krankenhausbett liegen. Ich sah mich die Seiten des blauen Notizbuchs zerreißen, und dann nahm ich – mit den Worten von Johns Schwager Richard – mein Gesicht in die Hände und schluchzte mir die Seele aus dem Leib. Ich weiß nicht, wie lange ich geweint habe, aber schon als mir die Tränen aus den Augen strömten, war ich glücklich, glücklicher als je zuvor, am Leben zu sein. Und dieses Glücksgefühl war jenseits von Trost, jenseits von Elend, jenseits alles Hässlichen und Schönen auf der Welt. Schließlich versiegten die Tränen, und ich ging ins Schlafzimmer und zog mir frische Sachen an. Zehn Minuten später war ich wieder auf der Straße, unterwegs zum Krankenhaus, auf dem Weg zu Grace.