Als Grace nach Manhattan gefahren war, setzte ich mich an die Schreibmaschine und arbeitete an dem Filmtreatment für Bobby Hunter. Ich versuchte die Zusammenfassung auf vier Seiten zu beschränken, kam aber schließlich auf sechs. Gewisse Punkte mussten gründlicher behandelt werden, erkannte ich, und ich wollte auch keine Lücken in der Story. Zum einen: Wenn auf der Initiationsreise so viele Gefahren drohten und das Risiko einer so harten Strafe bestand – warum sollte dann überhaupt irgendjemand das Wagnis einer Reise in die Vergangenheit auf sich nehmen? Es musste, beschloss ich, jedem freigestellt sein, ob er die Reise antrat oder nicht, man machte sie aus freien Stücken, nicht unter Zwang. Zum anderen: Wie können die Menschen im zweiundzwanzigsten Jahrhundert erfahren, dass ein Reisender gegen die Regeln verstoßen hat? Ich erfand eine Sonderabteilung der Polizei, die sich darum kümmern musste. Zeitreiseagenten brüten in Bibliotheken über Büchern, Zeitschriften und Zeitungen, und wenn ein junger Reisender in die Handlungen eines Menschen in der Vergangenheit eingreift, verändern sich die Wörter in den Büchern. Zum Beispiel würde der Name Lee Harvey Oswald plötzlich aus allen Texten über die Ermordung Kennedys verschwinden. Als ich mir diese Szene ausmalte, ging mir auf, dass solche Veränderungen sich visuell sehr eindrucksvoll in Szene setzen ließen: Scharen von Wörtern, die auf bedruckten Seiten herumkrabbeln und sich neu zusammenstellen, die sich hin und her bewegen wie kleine durchgedrehte Insekten.
Ich tippte das Treatment sauber ab, las es noch einmal durch und korrigierte ein paar Tippfehler, dann ging ich durch den Flur in die Küche und rief die Agentur Sklarr an. Mary hatte gerade ein anderes Gespräch auf der Leitung, aber ich sagte ihrer Mitarbeiterin, in ein, zwei Stunden käme ich selbst im Büro vorbei, um das Manuskript abzugeben. «Das ging ja schnell», sagte sie.
«Ja, sieht so aus», antwortete ich, «aber Sie wissen ja, wie das ist, Angela. Wenn man durch die Zeit reist, hat man keine Sekunde zu verlieren.»
Angela lachte über meinen lahmen Scherz. «Gut», sagte sie, «ich sage Mary Bescheid, dass Sie unterwegs sind. Aber so eilig ist es eigentlich gar nicht. Sie könnten es auch mit der Post schicken und sich die Fahrt sparen.»
«Ich trau der Post nicht, Ma’am», sagte ich und näselte plötzlich wie ein Cowboy aus Oklahoma. «Hab ich nie, werd ich nie.»
Nachdem wir aufgelegt hatten, nahm ich den Hörer noch einmal von der Gabel und wählte Trauses Nummer. Marys Büro war in der Fifth Avenue zwischen der 12th und 13th Street, und da John ganz in der Nähe wohnte, kam ich auf die Idee, dass wir gemeinsam essen gehen könnten, vielleicht hatte er ja Lust. Außerdem wollte ich wissen, wie es seinem Bein ging. Wir hatten uns seit Samstagabend nicht mehr gesprochen, und jetzt war es Zeit, mich nach seinem Befinden zu erkundigen.
«Nichts Neues», sagte er. «Nicht schlechter, aber auch nicht besser. Der Arzt hat mir entzündungshemmende Pillen verschrieben, und als ich gestern die erste geschluckt habe, gab’s eine schlimme Reaktion. Erbrechen, Schwindelgefühl, alles. Ich fühle mich immer noch ziemlich geschlaucht.»
«Ich fahre gleich nach Manhattan, um mich mit Mary Sklarr zu treffen, und ich dachte, anschließend könnte ich bei dir vorbeikommen. Vielleicht könnten wir essen gehen oder so, aber daraus wird dann heute wohl nichts.»
«Komm doch morgen. Bis dahin geht’s mir wieder gut. Oder wenigstens verdammt viel besser.»
Um halb zwölf verließ ich die Wohnung und ging zur Bergen Street, wo ich den F-Train nach Manhattan nahm. Unterwegs gab es einige unerklärliche Pannen – eine längere Fahrtunterbrechung in einem Tunnel; einen Stromausfall im Waggon, der sich über vier Haltestellen hinzog; eine ungewöhnlich langsame Überfahrt von der Station York Street auf die andere Seite des Flusses –, und als ich endlich in Marys Büro ankam, war sie schon zum Lunch gegangen. Ich übergab das Treatment Angela, ihrer pummeligen, kettenrauchenden Mitarbeiterin, die Telefonate entgegennahm und Päckchen versandte, und die, als ich wieder ging, zu meiner Überraschung von ihrem Schreibtisch aufstand und mich nach italienischer Art auf beide Wangen küsste. «Zu schade, dass Sie verheiratet sind», flüsterte sie. «Wir beide hätten wunderbar miteinander Musik machen können, Sid.»
Angela schäkerte gern so herum, und nach drei Jahren fleißigen Übens hatten wir eine ziemlich perfekte Nummer ausgearbeitet. Meine Rolle verlangte nun, ihr die Antwort zu geben, die sie erwartete. «Nichts ist ewig», sagte ich. «Harren Sie nur aus, Engelsgleiche, früher oder später werde ich frei sein.»
Ich hatte keinen Grund, direkt nach Brooklyn zurückzukehren, und konnte meinen Mittagsspaziergang ebenso gut im Village machen, den Ausflug irgendwo mit einem Imbiss beschließen und erst dann mit der Subway nach Hause fahren. Ich wandte mich von der Fifth Avenue nach Westen, schlenderte die 12th Street mit ihren schönen Brownstonehäusern und den kleinen, sorgfältig gepflegten Bäumen entlang, und als ich an der New School vorbei war und mich der Sixth Avenue näherte, war ich bereits in Gedanken versunken. Bowen war immer noch in dem Kellerraum eingesperrt, und jetzt, da mir Graces beunruhigender Traum im Kopf herumspukte, kamen mir einige neue Ideen zum Fortgang der Erzählung. Von da an bekam ich kaum noch mit, wo ich war, und in den nächsten dreißig, vierzig Minuten nahm ich von meiner Umgebung so gut wie nichts mehr wahr und wanderte, mehr in diesem unterirdischen Raum in Kansas City als in Manhattan, wie ein Blinder durch die Straßen. Erst als ich mich auf der Hudson Street wiederfand, auf Höhe der Fensterfront der White Horse Tavern, hielten meine Füße endlich an. Ich war auf einmal sehr hungrig, stellte ich fest, und als mir das ins Bewusstsein gestiegen war, verlagerte sich der Schwerpunkt meiner Aufmerksamkeit vom Kopf in den Magen. Nun konnte ich mich hinsetzen und eine Mahlzeit zu mir nehmen.10
Ich war nicht wirklich vorangekommen, wusste jetzt aber, dass ich Bowens Lage ein wenig verbessern konnte, ohne die Hauptstoßrichtung der Erzählung zu ändern. Die Deckenlampe ist durchgebrannt, aber es schien mir nicht notwendig, Nick in absoluter Finsternis zu lassen. In Eds gut ausgestattetem Strahlenschutzkeller konnte es auch noch andere Lichtquellen geben. Streichhölzer und Kerzen, zum Beispiel, eine Taschenlampe, eine Tischlampe – irgendetwas, was in Nick nicht das Gefühl aufkommen ließ, lebendig begraben zu sein. Das würde jeden Mann um den Verstand bringen, und ich wollte aus Bowens misslicher Lage auf gar keinen Fall eine Studie zum Thema Angst und Wahnsinn machen. Ich hatte Hammett hinter mir gelassen, aber das bedeutete nicht, dass ich die Absicht hatte, die Flitcraft-Episode durch eine Neufassung von Poes Das vorzeitige Begräbnis zu ersetzen. Jedenfalls wollte ich Nick ein wenig Licht und damit einen Hoffnungsschimmer zugestehen. Und wenn die Streichhölzer und Kerzen und am Ende auch noch die Batterien in der Taschenlampe aufgebraucht sind, kann er immer noch die Kühlschranktür aufmachen und den Raum mit der kleinen Glühbirne beleuchten, die im Innern des weiß emaillierten Kastens brennt.
Von größerem Gewicht war die Sache mit Graces Traum. Als ich ihr am Morgen zugehört hatte, war ich von den Parallelen zu meiner Erzählung so verblüfft, dass ich von den zahlreichen Unterschieden gar nichts mitbekommen hatte. Ihr Zimmer war eine Zuflucht zweier Menschen, ein kleines erotisches Paradies. Mein Zimmer war eine kahle Zelle, bewohnt von einem einzigen Mann, der nur den Wunsch hat, dort hinauszukommen. Was aber, wenn es mir gelänge, Rosa Leightman zu ihm reinzubringen? Nick ist bereits in sie verliebt, und wenn die beiden für längere Zeit in dem Raum eingesperrt wären, würde sie seine Gefühle womöglich irgendwann erwidern. Rosa war das physische und geistige Double von Grace, also hatte sie auch dieselben sexuellen Gelüste wie Grace – dieselbe Härte, dieselbe Hemmungslosigkeit. Nick und Rosa konnten sich die Zeit vertreiben, indem sie einander Kapitel aus Nacht des Orakels vorlasen, sie konnten sich gegenseitig ihr Herz öffnen und miteinander ins Bett steigen. Solange sie genug zu essen hatten, gab es keinen Grund, den Raum verlassen zu wollen.
Das war die kleine Phantasie, die ich mit mir herumtrug, als ich durch die Straßen des Village ging. Aber schon während ich die Sache im Kopf durchspielte, war mir klar, dass ich schwer auf dem Holzweg war. Grace hatte mich mit ihrem erotischen Traum erregt, aber so verführerisch er sein mochte, führte auch er nur in eine Sackgasse. Wenn Rosa in den Raum hineinkann, dann kann Nick auch heraus, und er würde nicht zögern, die Gelegenheit, wenn sie sich ihm bietet, zur Flucht zu nutzen. Es geht aber gerade darum, dass er nicht fliehen kann. Ich hatte ihm etwas Licht spendiert, aber er war immer noch in dieser grausigen Kammer eingeschlossen, und ohne geeignetes Werkzeug, sich einen Weg ins Freie zu graben, würde er schließlich da unten sterben müssen.
Früher war ich oft im White Horse gewesen, nun aber seit einigen Jahren nicht mehr; zu meiner Freude sah ich, sobald ich die Tür aufstieß, dass sich dort nichts verändert hatte. Es war dieselbe verräucherte, holzgetäfelte Kneipe wie eh und je, dieselben verschrammten Tische und wackligen Stühle, dasselbe Sägemehl auf dem Fußboden, dieselbe große Uhr an der Nordwand. Alle Tische waren besetzt, aber an der Theke waren noch ein paar Plätze frei. Ich schob mich auf einen Hocker und bestellte einen Hamburger und ein Glas Bier. Tagsüber trank ich nur selten, aber das White Horse hatte mich in nostalgische Stimmung versetzt (in Erinnerung an die unzähligen Stunden, die ich als junger Mann dort verbracht hatte), und plötzlich war mir danach, eins auf die alten Zeiten zu trinken. Erst als ich mit dem Barkeeper gesprochen hatte, sah ich mir den Mann an, der rechts neben mir saß. Ich hatte ihn, als ich in die Kneipe trat, nur von hinten gesehen, einen dünnen Mann, der in seinem braunen Pullover über einem Drink kauerte, und etwas an seiner Haltung hatte es in meinem Kopf leise klingeln lassen. Noch ahnte ich nicht, warum. Vielleicht hatte ich ihn schon mal gesehen. Oder noch unbedeutender: vielleicht erinnerte er mich an einen anderen Mann in einem braunen Pullover, der hier vor Jahren einmal in derselben Haltung gesessen hatte, ein winziges Fragment aus uralten Zeiten. Dieser Mann hielt den Kopf gesenkt und starrte in sein Glas, das halb mit Scotch oder Bourbon gefüllt war. Ich konnte nur sein Profil sehen, teilweise verdeckt von seiner linken Hand, aber kein Zweifel, dieses Gesicht gehörte einem Menschen, von dem ich nicht gedacht hätte, dass ich ihn je wieder sehen würde. M. R. Chang.
«Mr. Chang», sagte ich. «Wie geht es Ihnen?»
Als Chang seinen Namen hörte, drehte er sich um; er wirkte niedergeschlagen und vielleicht ein wenig betrunken. Erst schien er sich nicht an mich zu erinnern, dann aber leuchtete seine Miene langsam auf. «Ah», sagte er. «Mr. Sidney. Mr. Sidney O. Netter Mann.»
«Ich wollte gestern wieder Ihr Geschäft aufsuchen», sagte ich, «aber da war alles weg. Was ist passiert?»
«Große Probleme», antwortete Chang; er nahm kopfschüttelnd einen Schluck und schien kurz davor, in Tränen auszubrechen. «Hausbesitzer erhöht meine Miete. Ich sag ihm, ich hab Vertrag, aber er lacht und sagt, er beschlagnahmt meine Waren mit Polizeichef, wenn Geld nicht am Montagmorgen in seiner Faust. Also pack ich am Samstagabend meinen Laden ein und geh. Alles Mafia in der Gegend da. Die erschießen einen, wenn man nicht mitmacht.»
«Sie sollten sich einen Anwalt nehmen und mit der Sache vor Gericht gehen.»
«Kein Anwalt. Zu viel Kosten. Morgen such ich neuen Laden. Vielleicht in Queens oder Manhattan. Brooklyn nicht mehr. Paper Palace ein Reinfall. Große amerikanische Traum ein Reinfall.»
Ich hätte der Anwandlung von Mitleid nicht nachgeben sollen, aber als Chang mir einen Drink spendieren wollte, brachte ich es nicht übers Herz, ihm einen Korb zu geben. Die Einnahme von Scotch, mittags um halb zwei, gehörte nicht zu dem, was mir der Arzt verschrieben hatte. Schlimmer noch, jetzt, da Chang und ich Freunde geworden und miteinander ins Gespräch gekommen waren, sah ich mich gezwungen, ihm meinerseits einen auszugeben und die nächste Runde zu bestellen. Das machte innerhalb einer Stunde ein Bier und zwei doppelte Scotch. Das reichte noch nicht für einen Vollrausch, aber ich schwamm doch bereits ganz angenehm; dies wiederum ließ meine sonst übliche Zurückhaltung immer weiter schwinden, und schließlich stellte ich Chang eine Reihe persönlicher Fragen zu seinem Leben in China und wie er nach Amerika gekommen sei – was ich ohne die Drinks niemals getan hätte. Viele seiner Antworten verwirrten mich nur. Seine Fähigkeit, sich auf Englisch auszudrücken, nahm mit der aufgenommenen Alkoholmenge allmählich ab, aber aus der Flut von Geschichten über seine Kindheit in Peking, die Kulturrevolution und seine riskante Flucht, die ihn über Hongkong aus dem Land geführt hatte, trat eine ganz besonders hervor, zweifellos weil er sie ziemlich zu Anfang unseres Gesprächs erzählte.
«Mein Vater war Mathelehrer», sagte er, «angestellt bei Pekinger Mittelschule Nummer elf. Dann die Kulturrevolution kommt, und plötzlich sagt man, er Mitglied von Schwarzer Bande, reaktionärer Bourgeois. Eines Tages befehlen Schüler von Roter Garde der Schwarzen Bande, alle Bücher aus Bücherei entfernen, die nicht geschrieben von Vorsitzender Mao. Sie schlagen mit Gürteln, damit sie das tun. Das schlechte Bücher, sagen sie. Verbreiten Kapitalismus und revisionistische Ideen, müssen verbrannt werden. Mein Vater und die anderen Lehrer von Schwarzer Bande tragen Bücher auf Sportplatz. Die Roten Garden schreien sie an und schlagen sie, damit sie das tun. Sie tragen eine Ladung nach der anderen, und dann sie haben großen Berg Bücher. Die Roten Garden stecken sie in Brand, und mein Vater muss weinen. Sie schlagen mit Gürteln, weil er das tut. Dann das Feuer wird groß und heiß, und die Roten Garden stoßen die Schwarze Bande dicht bis an Rand von Feuer. Da müssen sie Kopf senken und sich vorbeugen. Rote Garden sagen, sie werden geprüft von Flammen der Kulturrevolution. Es ist ein heißer Tag im August, Sonne schrecklich heiß. Mein Vater hat Blasen auf Gesicht und Armen, und ganzer Rücken wund von Schlägen. Zu Hause weint meine Mutter, als sie ihn sieht. Mein Vater weint. Wir alle weinen, Mr. Sidney. Nächste Woche mein Vater wird verhaftet, und wir alle auf Land geschickt und müssen als Bauern arbeiten. Da habe ich mein Land gehasst, mein China. Seit dem Tag träume ich von Amerika. Mein großer amerikanischer Traum, den habe ich aus China, aber es gibt keinen Traum in Amerika. Dieses Land ist auch schlecht. Überall dasselbe. Alle Leute schlecht und verdorben. Alle Länder schlecht und verdorben.»11
Als Chang mir vor zwanzig Jahren diese Geschichte erzählte, glaubte ich ihm jedes Wort. Er sprach so überzeugend, dass ich an seiner Aufrichtigkeit nicht zweifeln konnte. Vor einigen Monaten jedoch las ich, zur Vorbereitung auf ein anderes Projekt, eine Reihe von Büchern über China zur Zeit der Kulturrevolution. Und in einem davon stieß ich auf einen Bericht über jene Bücherverbrennung, erzählt von Liu Yan, der als Schüler an der Pekinger Mittelschule Nummer elf Augenzeuge dieses Vorfalls geworden war. Ein Lehrer namens Chang wird nicht erwähnt. Allerdings heißt es von einer Lehrerin namens Yu Changjiang, sie sei beim Anblick der brennenden Bücher weinend zusammengebrochen. «Ihre Tränen provozierten die Roten Garden, ihr einige Peitschenhiebe zusätzlich zu geben, und die Gürtel hinterließen schlimme Narben auf ihrer Haut.». (China’s Cultural Revolution, 1966 – 1969, herausgegeben von Michael Schoenhals; Armonk, New York: M. E. Sharp, 1996)
Ich behaupte nicht, damit sei bewiesen, dass Chang mich belogen hat; aber es lässt doch Zweifel an seiner Geschichte aufkommen. Möglicherweise haben bei jener Gelegenheit zwei Lehrer geweint, und Liu Yan hat es nur in dem einen Fall wahrgenommen. Zu beachten ist freilich, dass damals in Peking ausführlich über die Bücherverbrennung berichtet wurde; Liu Yan zufolge hat das Ereignis «in der ganzen Stadt für beträchtliches Aufsehen gesorgt». Chang hätte also davon erfahren, auch wenn sein Vater gar nicht dabei gewesen wäre. Vielleicht hat er die furchtbare Geschichte erzählt, um mich zu beeindrucken. Ich weiß es nicht. Andererseits war seine Version außerordentlich lebendig – lebendiger als die meisten Berichte aus zweiter Hand –, und das bringt mich auf die Frage, ob Chang womöglich selbst bei der Bücherverbrennung dabei gewesen war. Und falls ja, kann das nur bedeuten, dass er als Mitglied der Roten Garde daran teilgenommen hat. Denn sonst hätte er mir erzählt, dass er Schüler an dieser Schule war – aber das hat er nicht getan. Es ist sogar möglich (wenn auch reine Spekulation), dass er selbst es war, der die weinende Lehrerin ausgepeitscht hat.
Als ich meinen zweiten Cutty Sark ausgetrunken hatte, gab ich Chang die Hand und sagte, ich müsse jetzt gehen. Es sei halb drei, sagte ich, ich müsse nach Cobble Hill zurück und noch einiges fürs Abendessen einkaufen. Chang wirkte enttäuscht. Keine Ahnung, was er von mir erwartete, aber vielleicht hatte er gehofft, ich würde ihn auf einer ganztägigen Sauftour begleiten.
«Kein Problem», sagte er schließlich. «Ich fahre Sie nach Hause.»
«Sie haben ein Auto?»
«Natürlich. Jeder hat ein Auto. Sie nicht?»
«Nein. In New York braucht man eigentlich keins.»
«Ah, Mr. Sid. Sie heitern mich auf und machen mich wieder glücklich. Jetzt ich fahre Sie nach Hause.»
«Nein, vielen Dank. In Ihrem Zustand sollte man nicht fahren. Sie haben zu viel intus.»
«Intus?»
«Sie haben zu viel getrunken.»
«Unsinn. M. R. Chang ist nüchtern wie ein Richter.»
Ich lächelte, als ich diesen alten amerikanischen Ausdruck hörte, und als er meine Belustigung bemerkte, brach Chang plötzlich in Lachen aus. Wieder so eine abgehackte Salve, wie ich sie am Samstag in seinem Laden gehört hatte. Hahaha. Hahaha. Hahaha. Ich fand diese Art von Heiterkeit beunruhigend, irgendwie trocken und unbeseelt, es fehlte ihr an dem hellen, beschwingten Klang, den man gewöhnlich im Lachen eines Menschen wahrnimmt. Um seine Behauptung unter Beweis zu stellen, hüpfte Chang vom Barhocker und schritt mehrmals in der Kneipe auf und ab, womit er zeigen wollte, dass er noch das Gleichgewicht halten und eine gerade Linie gehen konnte. Gerechterweise musste ich zugeben, dass er den Test bestanden hatte. Seine Bewegungen waren gleichmäßig und ungezwungen, er schien seinen Körper vollständig zu beherrschen. Ich begriff, der Mann war nicht aufzuhalten, seine Entschlossenheit, mich nach Hause zu fahren, war ihm zu einem leidenschaftlichen, aufrichtigen Anliegen geworden, und so fügte ich mich widerwillig und nahm sein Angebot an.
Das Auto stand um die Ecke in der Perry Street, ein nagelneuer roter Pontiac mit Weißwandreifen und Schiebedach. Ich sagte Chang, ich fände, der Wagen sehe aus wie eine frische Jersey-Tomate, fragte aber nicht, wie ein angeblicher amerikanischer Reinfall sich einen so kostspieligen Schlitten leisten konnte. Mit offensichtlichem Stolz öffnete er als Erstes die Beifahrertür und ließ mich einsteigen. Dann ging er, die Motorhaube tätschelnd, vorne um den Wagen herum, trat auf den Bordstein und schloss die andere Tür auf. Als er hinterm Steuer saß, wandte er sich mir grinsend zu. «Solides Fabrikat», sagte er.
«Ja», antwortete ich. «Sehr beeindruckend.»
«Machen sich bequem, Mr. Sid. Liegesitze. Kippen Sie ihn ganz nach hinten.» Er beugte sich rüber und zeigte mir, welchen Knopf ich drücken musste, und tatsächlich, die Lehne senkte sich nach hinten und kam bei einem Winkel von fünfundvierzig Grad zum Stillstand. «So», sagte Chang. «Immer besser, gemütlich fahren.»
Da konnte ich ihm nicht widersprechen, und überhaupt war es mir in meinem leicht beschwipsten Zustand angenehm, mich nicht in senkrechter Haltung zu befinden. Chang ließ den Motor an, und ich schloss kurz die Augen und versuchte mir vorzustellen, was ich für Grace zum Abendessen machen sollte und was ich dafür einkaufen musste, wenn ich wieder in Brooklyn wäre. Das erwies sich als Fehler. Statt die Augen wieder aufzumachen und zu sehen, wo Chang mich hinfuhr, schlief ich einfach ein – wie jeder, der am helllichten Tag einen über den Durst getrunken hat.
Ich wachte erst auf, als das Auto hielt und Chang den Motor abstellte. In der Annahme, wir seien wieder in Cobble Hill, wollte ich ihm schon fürs Mitnehmen danken und die Tür aufmachen, als ich erkannte, dass ich irgendwo anders war: eine bevölkerte Einkaufsstraße in einer mir unbekannten Gegend, mit Sicherheit weit weg von meinem Wohnort. Ich richtete mich auf, um besser sehen zu können, und erblickte fast nur chinesische Ladenschilder.
«Flushing», sagte Chang. «Chinatown Nummer zwei.»
«Warum haben Sie mich hierher gebracht?»
«Beim Fahren hatte ich bessere Idee. Netter kleiner Club im nächsten Block, gut zum Entspannen. Sie sehen müde aus, Mr. Sid. Ich bring Sie hin, da geht’s Ihnen besser.»
«Was reden Sie da? Es ist viertel nach drei, und ich muss nach Hause.»
«Nur eine halbe Stunde. Wird Ihnen sehr gut tun, bestimmt. Dann ich fahre Sie nach Hause. Okay?»
«Lieber nicht. Sagen Sie mir nur, wo hier die nächste Subway ist, dann fahre ich nach Hause.»
«Bitte. Das ist sehr wichtig für mich. Vielleicht eine geschäftliche Gelegenheit, und ich brauche Rat von klugen Mann. Sie sehr klug, Mr. Sid. Ich kann Ihnen vertrauen.»
«Ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden. Erst soll ich mich entspannen. Jetzt soll ich Ihnen einen Rat geben. Was denn nun?»
«Beides. Alles auf einmal. Sie sehen Laden an, Sie entspannen, und dann Sie sagen, was Sie denken. Ganz einfach.»
«Eine halbe Stunde?»
«Keine große Sache. Alles geht auf mich, alles gratis. Dann ich fahre Sie nach Cobble Hill, Brooklyn. Abgemacht?»
Der Nachmittag entwickelte sich von Minute zu Minute seltsamer, aber ich ließ mich von ihm überreden, ihn zu begleiten. Warum, kann ich nicht erklären. Aus Neugier, vielleicht, es könnte aber auch das Gegenteil gewesen sein – absolute Gleichgültigkeit. Chang ging mir allmählich auf die Nerven, und ich konnte seine ewigen Beteuerungen nicht mehr ertragen, schon gar nicht, solange ich in diesem lächerlichen Wagen eingepfercht war. Wenn eine weitere halbe Stunde meiner Zeit ihn zufrieden stellen würde, schien es mir das wert, ihm den Gefallen zu tun. Also kletterte ich aus dem Pontiac und folgte ihm durch das dichte Gewühl, umweht von den stechenden Dämpfen und beißenden Gerüchen der Fischgeschäfte und Gemüsestände am Straßenrand. An der ersten Ecke wandten wir uns nach links, hundert Meter weiter ging es noch einmal nach links in eine schmale Gasse hinein, an deren Ende ein kleines Betongebäude stand, ein winziges eingeschossiges, fensterloses Haus mit Flachdach. Es war die klassische Szenerie für einen Raubüberfall, aber ich fühlte mich nicht im Geringsten bedroht. Chang war in viel zu aufgeräumter Stimmung und schien mit gewohnter Zielstrebigkeit wild entschlossen, unser Ziel zu erreichen.
Als wir vor dem gelb gestrichenen Betonbau ankamen, drückte Chang auf die Türklingel. Wenige Sekunden später öffnete sich die Tür einen Spalt weit, und ein Chinese in den Sechzigern schob seinen Kopf hindurch. Er nickte, als er Chang sah, sie tauschten ein paar Sätze auf Mandarin aus, und dann ließ er uns ein. Der angebliche Entspannungsclub erwies sich als eine kleine Fabrik. Zwanzig Chinesinnen saßen an Tischen und nähten mit Maschinen bunte Kleider aus billigen Synthetikstoffen zusammen. Nicht eine von ihnen blickte zu uns auf, als wir eintraten, und Chang huschte, so schnell er konnte, an ihnen vorbei, als seien sie gar nicht da. Wir gingen weiter, schoben uns um die Tische, bis wir zu einer Tür am hinteren Ende des Raums gelangten. Der alte Mann machte sie uns auf, und Chang und ich traten in einen Raum, der so finster war, so schwarz im Vergleich zu der von Neonlicht erhellten Werkstatt hinter uns, dass ich zunächst einmal gar nichts sah.
Als meine Augen sich ein wenig an die Dunkelheit gewöhnt hatten, bemerkte ich, dass in dem Raum ein paar schwache Lampen verteilt waren. Jede mit einer Glühbirne in einer anderen Farbe – rot, gelb, violett, blau –, und ich musste kurz an die portugiesischen Notizbücher in Changs bankrottem Laden denken. Ich fragte mich, ob die, die ich am Samstag gesehen hatte, noch zu haben waren, und, falls ja, ob er sie mir verkaufen würde. Ich nahm mir vor, ihn danach zu fragen, bevor wir gingen.
Er führte mich zu einem hohen Stuhl oder Hocker, einem mit Leder oder Kunstleder bezogenen Sitzmöbel, das am Fuß drehbar und angenehm weich gepolstert war. Ich nahm Platz, und er setzte sich neben mich, und nun bemerkte ich, dass wir an einer Theke saßen – einer lackierten Theke, deren Oval die Mitte des Raums ausfüllte. Allmählich sah ich deutlicher. Ich erkannte uns gegenüber mehrere Leute, zwei Männer mit Anzug und Krawatte, einen Asiaten, der so etwas wie ein Hawaiihemd trug, und zwei oder drei Frauen, von denen keine mit irgendetwas bekleidet schien. Aha, sagte ich mir, so ist das also. Ich bin in einem Sexclub gelandet. Seltsamerweise nahm ich erst jetzt die Musik im Hintergrund wahr – ein ruhig wogendes Stück, das aus unsichtbaren Lautsprechern hereinwehte. Ich spitzte die Ohren, um den Song zu identifizieren, aber es war nichts zu machen. Die weich gespülte Version irgendeiner alten Rock’n’Roll-Nummer – vielleicht von den Beatles, dachte ich, oder auch nicht.
«Nun, Mr. Sid», sagte Chang, «was meinen Sie?»
Bevor ich ihm antworten konnte, tauchte vor uns ein Barkeeper auf und fragte, was wir trinken wollten. Womöglich war das der Alte, der uns zuvor die Tür geöffnet hatte, aber ich war mir nicht sicher. Es hätte auch sein Bruder sein können, oder vielleicht ein anderer Verwandter, der an dem Betrieb beteiligt war. Chang beugte sich vor und flüsterte mir ins Ohr: «Kein Alkohol», sagte er. «Falschbier, 7-Up, Cola. Zu riskant, in so ein Lokal Schnaps verkaufen. Keine Konzession.» Nachdem ich über die Auswahl informiert war, entschied ich mich für eine Cola. Chang ebenfalls.
«Ganz neues Lokal», fuhr der ehemalige Schreibwarenhändler fort. «Erst Samstag eröffnet. Noch nicht alles fertig, aber ich sehe große Möglichkeiten. Man hat mich gefragt, ob ich will einsteigen als Minderheitspartner.»
«Das ist ein Bordell», sagte ich. «Sind Sie sicher, dass Sie sich an einem illegalen Geschäft beteiligen wollen?»
«Kein Bordell. Entspannungsclub mit nackten Frauen. Hilft Arbeiter, sich besser fühlen.»
«Ich will ja keine Haarspalterei betreiben. Wenn Sie so wild drauf sind, tun Sie’s. Aber ich dachte, Sie sind pleite.»
«Geld nie Problem. Ich leihe. Wenn Profit von Investment mehr als Zins von Kredit, alles okay.»
«Ja, wenn.»
«Sehr kleine Wenn. Die holen tolle Mädchen, für hier arbeiten. Miss Universum, Marilyn Monroe, Playmate des Monats. Nur die schärfsten Frauen, sehr sexy. Kein Mann kann widerstehen. Passen Sie auf, ich zeige Ihnen.»
«Nein, danke. Ich bin verheiratet. Ich habe alles, was ich brauche, zu Hause.»
«Jeder Mann sagt das. Aber Schwanz immer stärker als Pflichtgefühl. Ich beweise Ihnen jetzt.»
Ehe ich ihn daran hindern konnte, schwang er auf seinem Stuhl herum und machte eine Handbewegung. Ich drehte mich ebenfalls in die Richtung, in die er winkte, und sah fünf oder sechs Séparées an der Wand, die mir beim Betreten des Raums entgangen waren. In drei davon saßen nackte Frauen, offensichtlich auf Kundschaft wartend, in die anderen war der Blick durch Vorhänge versperrt, vermutlich weil die Frauen dort gerade bei der Arbeit waren. Eine erhob sich jetzt und kam auf uns zu. «Das ist die Beste», sagte Chang, «die Schönste von allen. Man nennt sie die afrikanische Prinzessin.»
Eine große Schwarze schälte sich aus der Dunkelheit. Sie trug ein mit Perlen und Bergkristall besetztes Halsband, weiße Kniestiefel und einen weißen G-String. Die Haare hatte sie zu kunstvollen kleinen Zöpfen geflochten, deren Enden mit Ringen behangen waren, die bei jeder Bewegung wie Glöckchen klingelten. Sie schritt aufrecht, mit träger Eleganz – eine königliche Haltung, die zweifelsfrei erklärte, warum man sie Prinzessin nannte. Als sie nur noch zwei Meter von der Theke entfernt war, erkannte ich, dass Chang nicht übertrieben hatte. Sie war eine umwerfend schöne Frau – vielleicht die schönste Frau, die ich je gesehen hatte. Und ganze zwanzig Jahre alt, höchstens zweiundzwanzig. Ihre Haut sah so sanft und einladend aus, dass ich mich kaum zurückhalten konnte, sie anzufassen.
«Sag Hallo zu meinem Freund», forderte Chang sie auf. «Ich rechne später mit dir ab.»
Als sie sich lächelnd zu mir herumdrehte, sah ich ihre erstaunlich weißen Zähne. «Bonjour, chéri», sagte sie. «Tu parles français?»
«Nein, leider nicht. Ich spreche nur Englisch.»
«Ich heiße Martine», sagte sie mit starkem kreolischem Akzent.
«Ich bin Sidney», antwortete ich, und um irgendwie mit ihr ins Gespräch zu kommen, fragte ich, aus welchem Land in Afrika sie komme.
Sie lachte. «Pas d’afrique! Haiti.» Das letzte Wort sprach sie dreisilbig aus, Ha-i-ti. «Schlechtes Land», sagte sie. «Duvalier ist sehr méchant. Hier ist es besser.»
Ich nickte, wusste aber schon nicht mehr weiter. Am liebsten wäre ich aufgestanden und gegangen, bevor ich ernstlich in Schwierigkeiten geriet, aber ich konnte mich nicht bewegen. Das Mädchen war zu viel für mich, ich konnte den Blick nicht von ihr abwenden.
«Tu veux danser avec moi?», fragte sie. «Du mit mir tanzen?»
«Ich weiß nicht. Vielleicht. Ich bin kein sehr guter Tänzer.»
«Was anderes?»
«Ich weiß nicht. Na ja, eins vielleicht … falls das nicht zu viel verlangt ist.»
«Eins?»
«Ich wollte wissen … Würde es dich sehr stören, wenn ich dich anfassen würde?»
«Mich anfassen? Natürlich. Das ist einfach. Du kannst mich überall anfassen.»
Ich streckte die Hand aus und strich ihr über den bloßen Arm. «Du bist sehr schüchtern», sagte sie. «Siehst du nicht meine Brüste? Mes seins sont très jolis, n’est-ce pas?»
Ich war nüchtern genug zu bemerken, dass ich auf dem besten Weg ins Verderben war, aber das konnte mich nicht abhalten. Ich nahm ihre kleinen runden Brüste in die Hände und hielt sie lange – so lange, bis ich fühlte, wie ihre Brustwarzen steif wurden.
«Ah, das ist besser», sagte sie. «Jetzt will ich dich anfassen, okay?»
Ich sagte nicht ja, ich sagte aber auch nicht nein. Ich nahm an, sie habe irgendetwas Unschuldiges vor – mir die Wange tätscheln, mit einem Finger über die Lippen fahren, zärtlich die Hand drücken. Jedenfalls nichts im Vergleich zu dem, was sie dann wirklich tat, denn plötzlich schmiegte sie sich an mich, schob mir ihre schlanke Hand in die Jeans und packte die Erektion, die dort in den letzten zwei Minuten entstanden war. Als sie fühlte, wie steif ich war, lächelte sie. «Ich glaube, wir können jetzt tanzen», sagte sie. «Du kommst mit, okay?»
Zu seiner Ehre sei gesagt, dass Chang über dieses traurige kleine Schauspiel männlicher Schwäche nicht lachte. Er hatte Recht behalten, und statt sich hämisch an seinem Triumph zu weiden, zwinkerte er mir nur zu, als ich Martine in ihr Séparée folgte.
Die ganze Aktion schien nicht mehr Zeit in Anspruch zu nehmen, als es braucht, eine Badewanne zu füllen. Sie zog den Vorhang zu und schnallte mir im selben Atemzug die Hose auf. Dann ging sie in die Knie, legte ihre rechte Hand um meinen Penis, streichelte ihn sachte, stieß ein paar Mal mit der Zunge daran und nahm ihn schließlich in den Mund. Ihr Kopf geriet in Bewegung, und während ich dem Klingeln ihrer Zöpfe lauschte und auf ihren außerordentlichen nackten Rücken hinabschaute, jagte mir ein heißer Schauer durch die Beine in den Unterleib. Ich wollte das Erlebnis ausdehnen und eine Weile genießen, aber das konnte ich nicht. Martines Mund war ein tödliches Werkzeug, und wie ein erregter Teenager kam ich schon nach wenigen Sekunden.
Fast im selben Augenblick setzte die Reue ein. Und als ich die Jeans wieder hochgezogen und den Gürtel zugeschnallt hatte, waren aus der Reue bereits Scham und schlechtes Gewissen geworden. Ich wollte nur noch fort, so schnell wie möglich. Ich fragte Martine, wie viel ich ihr schuldig sei, aber sie winkte ab und sagte, darum habe sich doch schon mein Freund gekümmert. Als ich mich verabschiedete, gab sie mir einen Kuss, ein entzückendes Küsschen auf die Wange, und dann schob ich den Vorhang auseinander und ging zur Theke, um nach Chang zu sehen. Er war nicht da. Vielleicht war auch er mit einer Frau in einem Séparée verschwunden, um die beruflichen Qualifikationen einer seiner künftigen Angestellten zu testen. Ich hatte keine Lust, so lange dazubleiben und es herauszufinden. Ich ging einmal um die ganze Theke herum, nur um mich zu vergewissern, dass ich ihn nicht übersehen hatte; dann fand ich die Tür zur Kleiderfabrik und machte mich auf den Heimweg.