An dieser Stelle schaltete ich zum vorigen Mittwoch zurück, zu dem Nachmittag, an dem Bowen die Treppe zu Eds Pensionszimmer hochstieg und einen Job als Helfer im Büro für Geschichtspflege angeboten bekam, und setzte die Chronik meines modernen Flitcraft fort.

Ed knöpft sich die Hose zu, drückt seine halb gerauchte Pall Mall aus und führt Nick die Treppe hinunter. Sie treten in die kalte Luft des Frühlingsnachmittags hinaus, und nun gehen sie neun oder zehn Blocks weit, biegen mal nach links, mal nach rechts, bewegen sich langsam durch ein Netzwerk verfallener Straßenzüge und erreichen schließlich einen verlassenen Viehhof in der Nähe des Flusses, der flüssigen Grenze, die die Missouri-Seite der Stadt von der Kansas-Seite trennt. Sie gehen weiter, bis sie das Wasser unmittelbar vor sich haben und keine Gebäude mehr zu sehen sind, nur noch ein halbes Dutzend Eisenbahngeleise, die alle parallel zueinander verlaufen und nicht mehr in Betrieb zu sein scheinen, jedenfalls sind die Schienen mit Rost überzogen, und auf dem Sand und Schotter daneben liegen haufenweise zerbrochene und zersplitterte Schwellen. Ein kräftiger Wind weht vom Fluss her, als die beiden Männer über den ersten Schienenstrang steigen, und Nick denkt unwillkürlich an den Wind, der am Montagabend durch New York wehte, kurz bevor der Wasserspeier von dem Gebäude stürzte und ihn um ein Haar erschlagen hätte. Keuchend von der Anstrengung des langen Fußmarschs, bleibt Ed, als sie den dritten Schienenstrang überqueren, plötzlich stehen und zeigt auf den Boden. In den Schotter ist eine verwitterte, nicht gestrichene Holzplatte eingelassen, eine Art Luke oder Falltür, die sich so unauffällig in die Umgebung einfügt, dass Nick selbst sie wahrscheinlich gar nicht bemerkt hätte. Seien Sie bitte so freundlich und heben Sie das Ding da hoch und legen es beiseite, bittet ihn Ed. Ich würde das selbst tun, aber ich bin in letzter Zeit so fett geworden, ich hab das Gefühl, ich kann mich nicht mehr bücken, ohne vornüberzukippen.

Nick erfüllt die Bitte seines neuen Arbeitgebers, und schon steigen die beiden Männer eine an einer Betonwand befestigte Eisenleiter hinunter. Etwa vier Meter unter der Erdoberfläche stoßen sie auf Grund. Dank des von oben durch die Luke hereinfallenden Lichts erkennt Nick, dass sie in einem engen Gang vor einer kahlen Sperrholztür stehen. Die Tür hat weder Klinke noch Knauf, nur rechts ungefähr in Brusthöhe ein Vorhängeschloss. Ed nimmt einen Schlüssel aus der Tasche und steckt ihn in das Loch am Boden des Gehäuses. Als die Verriegelung gelöst ist und er das Vorhängeschloss in der Hand hält, schnippt er den Riegel mit dem Daumen zur Seite und hakt das freie Ende des Bügels wieder in die Öse des Schließbands. Das Ganze ist eine einzige fließende, routinierte Bewegung, bemerkt Nick, offenbar das Ergebnis zahlloser Besuche in diesem feuchten unterirdischen Versteck. Ed gibt der Tür einen leichten Stoß, und als sie aufschwingt und Nick in das Dunkel dahinter späht, sieht er gar nichts. Ed schubst ihn sachte beiseite, tritt über die Schwelle, und gleich darauf hört Nick das Klicken eines Lichtschalters, dann noch einmal, und ein drittes Mal, und vielleicht auch noch ein viertes Mal. In einer abgehackten Folge von Blitzen, die zitternd und surrend aufflackern, gehen an der Decke mehrere Reihen von Neonröhren an, und nun blickt Nick in einen großen Lagerraum, ein fensterloses Reich von etwa neun mal fünfzehn Metern Größe. Graue, exakt parallel ausgerichtete Bücherregale aus Metall füllen den gesamten Raum bis hinauf zur Decke in gut dreieinhalb Metern Höhe. Bowen ist, als habe er das Magazin einer Geheimbibliothek betreten, eine Sammlung verbotener Bücher, die zu lesen nur Eingeweihten vorbehalten ist.

Das Büro für Geschichtspflege, sagt Ed und macht eine kleine Handbewegung. Schauen Sie sich um. Fassen Sie nichts an, aber sehen Sie sich um, so lange wie sie wollen.

Die Umstände sind so bizarr, so weit weg von allem, was Nick erwartet hat, dass er nicht einmal Vermutungen darüber anstellen kann, was ihm bevorsteht. Er geht durch den ersten Gang und bemerkt, dass die Regale mit Telefonbüchern voll gestellt sind. Hunderte von Telefonbüchern, Tausende von Telefonbüchern, alphabetisch nach Städten geordnet, und hier wiederum chronologisch sortiert. Er ist zufällig in der Reihe, in der sich Baltimore und Boston befinden. Er prüft die Jahreszahlen auf den Buchrücken und stellt fest, dass das früheste Baltimore-Telefonbuch aus dem Jahr 1927 stammt. Danach gibt es einige Lücken, aber ab 1946 ist die Sammlung bis zum aktuellen Jahr, 1982, komplett. Das erste Boston-Buch ist sogar noch älter, nämlich von 1919, aber auch hier fehlen bis 1946 mehrere Bände, und erst ab da ist die Reihe wieder vollständig. Aus diesen kargen Hinweisen schließt Nick, dass Ed die Sammlung 1946 begonnen hat, also ein Jahr nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, zufällig auch das Jahr, in dem Bowen geboren wurde. Sechsunddreißig Jahre, gewidmet einem gewaltigen und scheinbar sinnlosen Unterfangen, das zeitlich exakt mit seiner eigenen Lebensspanne übereinstimmt.

Atlanta, Buffalo, Cincinnati, Chicago, Detroit, Houston, Kansas City, Los Angeles, Miami, Minneapolis, die fünf Bezirke von New York, Philadelphia, St. Louis, San Francisco, Seattle – alle amerikanischen Metropolen sind vertreten, und dazu Dutzende kleinerer Städte, ländliche Gebiete in Alabama, Vorstadtsiedlungen in Connecticut und freie Gemeinden in Maine. Aber Amerika ist noch nicht alles. Vier der vierundzwanzig Doppelreihen deckenhoher Metallregale sind Groß- und Kleinstädten im Ausland vorbehalten. Diese Sammlungen sind nicht so umfangreich und erschöpfend wie ihr einheimisches Gegenstück, doch sind neben Kanada und Mexiko die meisten Staaten West- und Osteuropas mit ihren wichtigsten Städten vertreten: London, Madrid, Stockholm, Paris, München, Prag, Budapest. Nick kann nur staunen, als er sieht, dass Ed sogar ein Warschauer Telefonbuch von 1937/​38 aufgetrieben hat: Spis Abonentów Warszawskiej Sieci TELEFONÓW. Als Nick noch mit sich ringt, ob er es aus dem Regal ziehen soll, kommt ihm der Gedanke, dass praktisch jeder in diesem Buch verzeichnete Jude inzwischen längst tot ist – ermordet, bevor Ed mit seiner Sammlung überhaupt angefangen hat.

Der Rundgang dauert zehn, fünfzehn Minuten, und was auch immer Nick sich ansieht – Ed steht mit einem sanften Lächeln im Gesicht daneben und genießt sichtlich die Verblüffung seines Gastes. Als sie zum letzten Regal an der Südseite des Raums gelangen, bemerkt Ed: Der Mann steht vor einem Rätsel. Er fragt sich: Was zum Teufel soll das?

So könnte man es ausdrücken, antwortet Nick.

Irgendeine Idee – oder bloß vollkommen verwirrt?

Ich bin mir nicht sicher, aber ich habe den Eindruck, Sie machen das nicht nur zum Zeitvertreib. So viel scheint mir klar. Sie sammeln nicht um des Sammelns willen. Kronkorken, Zigarettenschachteln, Hotelaschenbecher, kleine Glaselefanten. Manche Leute sind immerzu auf der Suche nach irgendwelchem Plunder. Aber diese Telefonbücher sind kein Plunder. Die bedeuten Ihnen etwas.

In diesem Raum ist die Welt enthalten, erwidert Ed. Oder zumindest ein Teil davon. Namen von Lebenden und Toten. Das Büro für Geschichtspflege ist ein Haus der Erinnerung, aber auch ein Schrein der Gegenwart. Dadurch, dass ich diese zwei Dinge an einem Ort zusammenbringe, beweise ich mir, dass die Menschheit noch nicht am Ende ist.

Ich glaube, ich kann Ihnen nicht folgen.

Ich habe das Ende aller Dinge gesehen, Blitz. Ich bin in die Eingeweide der Hölle gestiegen, und ich habe das Ende gesehen. Von einer solchen Reise zurückgekehrt, lebt man vielleicht noch lange weiter, aber ein Teil von einem ist für immer tot.

Wann ist das passiert?

Im April 1945. Meine Einheit war in Deutschland, und wir waren es, die Dachau befreit haben. Dreißigtausend noch atmende Skelette. Sie kennen die Bilder, aber die Bilder sagen Ihnen nicht, wie es wirklich war. Man muss selbst dort hingehen, muss es selbst riechen, muss dort sein und es mit eigenen Händen berühren. Menschen haben das Menschen angetan, und sie haben es mit reinem Gewissen getan. Das war das Ende der Menschheit, Mister Unschuld. Gott hat sein Auge von uns abgewandt und die Welt für immer verlassen. Und ich habe es selbst mit angesehen.

Wie lange waren Sie in dem Lager?

Zwei Monate. Ich war Koch, also habe ich in der Feldküche gearbeitet. Die Überlebenden zu füttern, das war meine Aufgabe. Sie haben bestimmt davon gelesen, wie manche einfach nicht mehr aufhören konnten zu essen. Die halb Verhungerten. Sie hatten so lange nur ans Essen gedacht, dass sie gar nicht mehr anders konnten. Sie aßen, bis ihnen der Magen platzte, und starben. Zu Hunderten. Am zweiten Tag kam eine Frau mit einem Baby im Arm zu mir. Sie hatte den Verstand verloren, diese Frau, das sah ich, das sah ich an ihren Augen, die unaufhörlich hin und her zuckten, und dünn war sie, so unterernährt, dass ich gar nicht begreifen konnte, wie sie es überhaupt schaffte, aufrecht stehen zu bleiben. Sie wollte nichts zu essen von mir, sie wollte nur, dass ich dem Baby etwas Milch gebe. Den Gefallen tat ich ihr gerne, aber als sie mir das Baby reichte, sah ich, dass es tot war, dass es schon seit Tagen tot war. Sein Gesicht war eingeschrumpelt und schwarz, schwärzer als mein eigenes, ein winziges Ding, das fast gar nichts mehr wog, nur noch runzlige Haut und getrockneter Eiter und schwerelose Knochen. Aber die Frau bettelte weiter um Milch, und da habe ich dem Baby etwas auf die Lippen gegossen. Ich wusste nicht, was ich sonst hätte tun sollen. Ich habe dem toten Baby etwas Milch auf die Lippen gegossen, und dann hat die Frau ihr Kind wieder an sich genommen – so glücklich, so glücklich, dass sie leise vor sich hinsummte, oder eher sang, ja, und dieser Gesang hörte sich an wie ein vergnügtes Gurren. Ich weiß nicht, ob ich jemals einen glücklicheren Menschen als diese Frau gesehen habe – wie sie mit ihrem toten Baby in den Armen davonging, vor Glück singend, weil sie ihm endlich etwas Milch hatte geben können. Ich sah ihr nach. Sie taumelte vier, fünf Meter weiter, und dann gaben ihre Knie nach, und ehe ich hinlaufen und sie auffangen konnte, fiel sie tot in den Schlamm. Damit hat die Sache für mich angefangen. Als ich diese Frau sterben sah, wusste ich, dass ich etwas unternehmen musste. Ich konnte nach dem Krieg nicht einfach nach Hause gehen und das alles vergessen. Ich musste diesen Ort in meinem Kopf behalten und für den Rest meines Lebens täglich darüber nachdenken.

Nick kann ihm immer noch nicht folgen. Er begreift, dass Ed Ungeheuerliches erlebt hat, er kann Schmerz und Schrecken mitempfinden, die ihn seither verfolgen, aber wie diese Gefühle zu dem verrückten Plan geführt haben, Telefonbücher zu sammeln, das entzieht sich seinem Verständnis. Er kann sich hundert andere Möglichkeiten vorstellen, die Erfahrung des Todeslagers in eine lebenslange Betätigung umzusetzen, aber dieses seltsame unterirdische Archiv mit Namen von Menschen aus der ganzen Welt gehört nicht dazu. Aber darf er sich ein Urteil über die Leidenschaft eines anderen Menschen erlauben? Bowen braucht Arbeit, Ed gefällt ihm, und er hat keine Bedenken, ihm die nächsten Wochen oder Monate bei der Neuorganisation des Bücherbestandes zu helfen, so unnütz diese Arbeit auch sein mag. Die beiden Männer einigen sich über Bezahlung, Arbeitszeit und so weiter und besiegeln den Vertrag per Handschlag. Aber Nick befindet sich immer noch in der peinlichen Situation, um einen Vorschuss auf seinen künftigen Lohn bitten zu müssen. Er braucht Kleidung und ein Dach überm Kopf, und die rund sechzig Dollar in seinem Portemonnaie reichen dafür nicht hin. Sein neuer Boss ist ihm jedoch einen Schritt voraus. Keine Meile von hier gebe es eine karitative Kleiderkammer, sagt er, da könne Nick sich noch an diesem Nachmittag für ein paar Dollar mit Klamotten eindecken. Natürlich keine schicken Sachen, aber zum Arbeiten brauche er Arbeitskleidung, keine teuren Straßenanzüge. Einen solchen habe er ja ohnehin, und wenn er mal in der Stadt ausgehen wolle, brauche er den ja bloß wieder anzuziehen.

Nachdem dieses Problem gelöst ist, erledigt Ed auch gleich das Wohnungsproblem. Es gebe hier unten eine Einzimmerwohnung, teilt er Nick mit, und wenn es ihm nicht zu unheimlich sei, seine Nächte unter der Erde zu verbringen, könne er dort gern einziehen, mietfrei. Er winkt Nick, ihm zu folgen, und watschelt, behutsam mit seinen wunden und geschwollenen Füßen auftretend, zwischen zwei Regalen hindurch, bis er die graue Aschbetonwand an der Westseite des Raums erreicht. Hier übernachte ich auch oft, sagt er, als er in die Tasche greift und seine Schlüssel hervorzieht. Richtig gemütlich da drin.

Eine Metalltür ist bündig in die Wand eingelassen, und da sie im selben Grau wie die Wand gestrichen ist, hat Nick sie gar nicht wahrgenommen, als er wenige Minuten zuvor daran vorbeigegangen war. Wie die hölzerne Eingangstür am anderen Ende des Raums hat auch diese weder Knauf noch Klinke und schwingt nach innen auf, als Ed sie sachte anstößt. Ja, sagt Nick höflich und tritt ein, sehr gemütlich, auch wenn er den Raum ziemlich trostlos findet, kahl und spärlich möbliert wie Eds Zimmer in der Pension. Aber alles Wichtige ist vorhanden – bis auf ein Fenster, versteht sich, irgendeine Aussicht. Bett, Tisch und Stuhl, Kühlschrank, Herdplatte, Spülklosett, ein Schrank, gefüllt mit Konserven. Eigentlich gar nicht so schlimm, und was bleibt Nick schon anderes übrig, als Eds Angebot anzunehmen? Ed scheint erfreut über Bowens Bereitschaft, hier zu wohnen, und als er die Tür verschließt und die beiden Männer sich auf den Weg zu der Leiter machen, die sie wieder auf den Erdboden zurückbringen wird, erzählt er Nick, dass er mit dem Bau dieses Wohnraums vor zwanzig Jahren begonnen habe. Im Herbst zweiundsechzig, sagt er, mitten in der Kubakrise. Ich habe wirklich geglaubt, wir kriegen eine Atombombe ab, und ich fand, ich brauche was, wo ich unterkriechen kann. So einen, wie sagt man noch?

Strahlenschutzbunker.

Genau. Also habe ich die Wand durchbrochen und dieses kleine Zimmer angefügt. Die Krise war schon vorbei, bevor ich fertig war, aber man kann ja nie wissen, oder? Diese Irren, die die Welt regieren, sind zu allem fähig.

Nick fühlt sich leicht beunruhigt, als er Ed so reden hört. Nicht dass er dessen Meinung über die Herrscher der Welt nicht teilen würde, aber er fragt sich nun doch, ob er sich nicht womöglich mit einem Geistesgestörten zusammengetan hat, mit einem haltlosen und/​oder unzurechnungsfähigen Spinner. Das kann durchaus sein, sagt er sich, aber Ed Victory ist der Mann, den das Schicksal ihm geschickt hat, und wenn er an den Prinzipien des herabstürzenden Wasserspeiers festhalten will, muss er das jetzt durchstehen und die einmal eingeschlagene Richtung weiter verfolgen – komme was da wolle. Andernfalls wird sein Fortgang aus New York zu einer leeren, kindischen Geste. Wenn er das, was da geschieht, nicht akzeptieren, es nicht annehmen und sich nicht darauf einlassen kann, sollte er seine Niederlage eingestehen, seine Frau anrufen und ihr sagen, dass er wieder nach Hause kommt.

Am Ende erweisen sich diese Befürchtungen als grundlos. Im Lauf der nächsten Tage, als die beiden Männer zusammen in der Gruft unter den Eisenbahnschienen arbeiten, Telefonbücher in Apfelkisten auf Rollwagen kreuz und quer durch den Raum schieben, stellt Nick fest, dass Ed absolut zuverlässig ist, ein Mann, der zu seinem Wort steht. Nie bittet er seinen Helfer, sich zu erklären oder seine Geschichte zu erzählen, und Nick kann dieses Taktgefühl nur bewundern, zumal bei einem so gesprächigen Menschen wie Ed, dessen ganzes Wesen nichts als Neugier ausstrahlt. Tatsächlich hat Ed so feine Manieren, dass er Nick nicht einmal nach seinem Namen fragt. Einmal erwähnt Bowen seinem Boss gegenüber, er könne ihn Bill nennen, aber da Ed begreift, dass der Name erfunden ist, hält er sich nur selten daran und zieht es vor, seinen Angestellten weiterhin mit Blitz, Mister New York oder Mister Unschuld anzureden. Nick ist vollkommen zufrieden mit alldem. Er trägt die Sachen, die er bei der Kleiderkammer erstanden hat (Flanellhemden, Jeans und Khakihosen, weiße Kniestrümpfe und zerschlissene Basketballschuhe), und fragt sich, was das für Männer gewesen sein mögen, denen diese Kleidungsstücke ursprünglich einmal gehört haben. Abgelegte Kleider können aus nur zwei Quellen stammen und werden aus nur zwei Gründen weggegeben. Jemandem gefällt etwas nicht mehr, und er spendet es einer Hilfsorganisation, oder aber jemand stirbt, und die Erben geben seine Sachen weg, um ein bisschen Steuern zu sparen. Nick freundet sich mit der Vorstellung an, in den Kleidern eines Toten herumzulaufen. Da er selbst nicht mehr existiert, scheint es ihm angemessen, die Garderobe eines Mannes zu tragen, der ebenfalls nicht mehr existiert – als trüge diese doppelte Verneinung dazu bei, seine Vergangenheit noch gründlicher, noch radikaler auszulöschen.

Aber Nick muss trotzdem auf der Hut bleiben. Er und Ed legen bei der Arbeit häufig Pausen ein, und während dieser Unterbrechungen ihrer Schufterei vertreibt Ed sich gern die Zeit, indem er aus seinem Leben erzählt, wobei er manche seiner Bemerkungen mit einem kräftigen Schluck aus der Bierdose unterstreicht. Nick erfährt von Wilhamena, Eds erster Frau, die 1953 eines Morgens mit einem Detroiter Schnapshändler durchgebrannt war, und von Rochelle, Wilhamenas Nachfolgerin, die ihm drei Töchter gebar und 1969 an einem Herzleiden starb. Ed ist ein einnehmender Erzähler, findet Nick, aber er hält sich bewusst zurück, ihm irgendwelche konkreten Fragen zu stellen – um ihm keinen Anlass zu geben, seinerseits solche Fragen an ihn zu richten. Sie haben einen stillschweigenden Pakt geschlossen, nicht an die Geheimnisse des anderen zu rühren, und so gern Nick zum Beispiel erfahren würde, ob Victory Eds richtiger Name ist, oder ob er rechtmäßiger Besitzer des unterirdischen Raumes ist, in dem das Büro für Geschichtspflege untergebracht ist, oder ob er ihn sich einfach angeeignet hat, ohne von den Behörden erwischt zu werden, bringt er diese Dinge nie zur Sprache und begnügt sich damit, dem zu lauschen, was Ed ihm aus freien Stücken auftischt. Gefährlicher sind die Augenblicke, in denen Nick sich beinahe verrät, und dann ermahnt er sich jedes Mal, seine Zunge besser im Zaum zu halten. Als Ed eines Nachmittags von seinen Erlebnissen als Soldat im Zweiten Weltkrieg erzählt, erwähnt er den Namen eines jungen Gefreiten, der Ende vierundvierzig zu seinem Regiment gestoßen war: John Trause. Gerade mal achtzehn Jahre alt, sagt Ed, aber der aufgeweckteste, gescheiteste Bursche, den er je kennen gelernt habe. Jetzt ist er ein berühmter Schriftsteller, fährt er fort, und wenn man bedenkt, was für einen scharfen Verstand der Junge hatte, wundert einen das nicht. Hier unterläuft Nick ein Fehler, der ihm um ein Haar zum Verhängnis geworden wäre. Den kenne ich, sagt er, und als Ed aufblickt und ihn fragt, wie es John denn jetzt so gehe, verwischt Nick sogleich wieder alle Spuren, indem er seine Bemerkung genauer ausführt. Nicht persönlich, sagt er. Ich meine seine Bücher, ich habe seine Bücher gelesen, und damit ist das Thema erledigt, und sie kommen auf anderes zu sprechen. Die Wahrheit sieht freilich so aus, dass Nick mit John zusammenarbeitet und der für seine Veröffentlichungen zuständige Lektor ist. Gerade erst vor einem Monat hat er die Arbeit an den neuen Umschlägen für die Taschenbuchausgaben von Trauses Romanen abgeschlossen. Er kennt ihn seit Jahren, und überhaupt hatte er sich für den Job bei dem Verlag, für den er arbeitet (beziehungsweise bis vor wenigen Tagen gearbeitet hatte), vor allem deswegen beworben, weil dort Johns Romane erschienen.

Nick beginnt seine Arbeit am Donnerstagmorgen, und Eds Telefonbücher nach einem neuen Schema zu sortieren, das ist, was das schiere Gewicht der zu bewegenden Massen angeht, eine ungeheure, eine entmutigende Aufgabe – zahllose sperrige Tausendseitenbände müssen aus den Regalen genommen, durch die Gänge geschoben und in andere Regale gestellt werden, und es geht nur langsam voran, viel langsamer, als sie es sich vorgestellt hatten. Sie beschließen, das ganze Wochenende durchzuarbeiten, und am Mittwoch der folgenden Woche (das ist der Tag, an dem Eva in einen Kopierladen geht, um das Plakat anzufertigen, das ihr bei der Suche nach ihrem verschwundenen Mann helfen soll, und es ist zufällig auch der Tag, an dem Rosa Leightman nach New York zurückkommt und Bowens liebeskranke Ansprachen auf ihrem Anrufbeantworter hört) schlägt Nicks wachsende Sorge um Eds Gesundheit regelrecht in Panik um. Der ehemalige Taxifahrer ist siebenundsechzig Jahre alt und hat mindestens siebenundsechzig Pfund Übergewicht. Er raucht drei Päckchen filterlose Zigaretten am Tag, hat Probleme beim Gehen, Probleme beim Atmen und zunehmend Probleme mit seinen von Cholesterin verstopften Arterien. Er hat schon zwei Herzinfarkte hinter sich und ist überhaupt nicht in der Verfassung, die Arbeit zu tun, die er und Nick sich vorgenommen haben. Allein das tägliche Leitersteigen verlangt enorme Anstrengung, Konzentration und Willenskraft und nimmt ihn so sehr mit, dass er kaum noch Luft bekommt, wenn er einen Auf- oder Abstieg bewältigt hat. Nick hat das von Anfang an bemerkt und Ed immer wieder ermuntert, er solle sich setzen und ausruhen, hat ihm versichert, er könne die Arbeit auch alleine tun, aber Ed ist ein sturer Bursche, ein Mann mit einer Vision, und jetzt, da die Erfüllung seines Traums von der Neuordnung seines Telefonbuchmuseums endlich in Reichweite ist, ignoriert er Bowens Ratschläge und drängt ihm bei jeder Gelegenheit seine Hilfe auf. Am Mittwochvormittag nimmt das Ganze schließlich eine bedrohlichere Wendung. Als Nick mit seiner leeren Apfelkiste aus einem entfernten Winkel des Raums zurückkommt, sieht er Ed an ein Regal gelehnt auf dem Fußboden sitzen. Er hat die Augen geschlossen und hält die rechte Hand aufs Herz gepresst.

Brustschmerzen, sagt Nick, der sofort den richtigen Schluss zieht. Sehr schlimm?

Nur eine Minute, sagt Ed. Das wird schon wieder.

Aber Nick lässt diese Antwort nicht gelten und besteht darauf, Ed in die Notaufnahme der nächsten Klinik zu bringen. Nach kurzem, nicht ernst gemeintem Widerstand erklärt Ed sich einverstanden.

Über eine Stunde vergeht, bis die zwei auf der Rückbank eines Taxis sitzen, das sie zum Saint Anselm’s Hospital bringen soll. Als Erstes muss die mühsame Aufgabe bewältigt werden, Eds schweren, massigen Körper die Leiter hinaufzuschieben und ins Freie zu bringen; dann ergibt sich das nicht weniger heikle Problem, in diesem finsteren, verlassenen Teil der Stadt ein Taxi aufzutreiben. Nick läuft zwanzig Minuten lang herum, ehe er ein funktionierendes Münztelefon findet, und nachdem er die Taxifirma Red & White (Eds früheren Arbeitgeber) erreicht hat, dauert es noch einmal eine Viertelstunde, bis der Wagen endlich aufkreuzt. Nick weist den Fahrer an, ihn zu den Eisenbahnschienen am Fluss zu bringen. Dort liegt Ed noch immer auf dem Schotter ausgestreckt; er hat beträchtliche Schmerzen (ist aber noch bei Bewusstsein, noch hinreichend Herr seiner Sinne, um ein paar Witze zu reißen, als sie ihm ins Taxi helfen); sie heben den schlaffen Körper auf und fahren ihn ins Krankenhaus.

Dieser Notfall erklärt, warum Rosa Leightman im späteren Verlauf des Tages Ed nicht am Telefon erreicht. Der unter dem Namen Victory bekannte Mann, dessen Führerschein und Krankenkassenkarte ihn jedoch als Johnson ausweisen, hat seinen dritten Herzinfarkt erlitten. Als Rosa in ihrer New Yorker Wohnung seine Nummer wählt, liegt er bereits auf der Intensivstation des Saint Anselm’s Hospital und wird, das ist seinen in der Tabelle am Fußende des Betts verzeichneten Herz-Kreislauf-Daten zu entnehmen, auch nicht so bald in seine Pension zurückkehren können. Von diesem Mittwoch bis zu ihrer Abreise nach Kansas City am Samstagmorgen versucht Rosa ihn immer wieder zu allen möglichen Tages- und Nachtzeiten zu erreichen, aber in der ganzen Zeit ist niemand da, der das Telefon läuten hört.

Auf der Fahrt zum Krankenhaus denkt Ed bereits an die Zukunft, bereitet sich auf die zu erwartenden schlechten Nachrichten vor, auch wenn er so tut, als mache er sich keine Sorgen. Ich bin fett, sagt er zu Nick, und fette Menschen sterben nicht. Das ist ein Naturgesetz. Die Welt kann uns schlagen, aber wir spüren nichts davon. Dafür sind wir ja so gut gepolstert – damit wir vor solchen Attacken geschützt sind.

Nick sagt ihm, er solle nicht sprechen. Schonen Sie Ihre Kräfte, sagt er. Ed versucht die in seiner Brust, im linken Arm und im Gesicht tobenden Schmerzen niederzuringen und richtet seine Gedanken auf das Büro für Geschichtspflege. Ich werde wahrscheinlich einige Zeit im Krankenhaus bleiben müssen, sagt er, und es bedrückt mich, dass die angefangene Arbeit jetzt nicht weitergehen kann. Nick versichert, er sei bereit, alleine weiterzumachen; gerührt von der Loyalität seines Helfers, schließt Ed die Augen, um die unwillkürlich aufsteigenden Tränen zurückzuhalten, und sagt, er sei ein guter Mensch. Da er zu schwach ist, das selbst zu tun, bittet er ihn, in seine Hosentasche zu greifen und Portemonnaie und Schlüsselring herauszuholen. Als Nick die beiden Gegenstände zutage gefördert hat, sagt Ed, er solle das Portemonnaie aufmachen und alles Bargeld an sich nehmen. Lassen sie mir bloß zwanzig Dollar, sagt er, den Rest behalten Sie – als Vorschuss auf Ihre Arbeit. Hier erfährt Nick, dass Eds richtiger Name Johnson ist, aber er kommt schnell zu dem Schluss, dass diese Entdeckung wenig zu bedeuten hat, und äußert sich nicht dazu. Stattdessen zählt er das Geld ab, über sechshundert Dollar, und steckt sich das Bündel in die vordere rechte Hosentasche. Danach erklärt Ed ihm – es ist eine atemlose Litanei, mühsam kämpft er beim Sprechen gegen die Schmerzen an – jeden einzelnen Schlüssel an dem Ring: Haustür der Pension, Tür seines Zimmers, Postfach bei der örtlichen Post, Vorhängeschloss an der Holztür des Büros, Tür zur unterirdischen Wohnung. Während Bowen seinen eigenen Schlüssel zu dieser Wohnung auf den Ring fädelt, sagt Ed, er erwarte diese Woche einen größeren Posten europäischer Telefonbücher, Nick solle also daran denken, am Freitag bei der Post vorbeizugehen. Auf diese Bemerkung folgt ein langes Schweigen, Ed zieht sich in sich selbst zurück und kann nur noch um Atem ringen, doch kurz bevor sie das Krankenhaus erreichen, macht er die Augen auf und sagt Nick, er könne gern sein Zimmer in der Pension benutzen, solange er nicht da sei. Nick schlägt das Angebot nach kurzem Nachdenken aus. Das ist sehr freundlich von Ihnen, sagt er, aber es ist nicht nötig, irgendetwas zu ändern. Ich bin zufrieden in meinem Loch.

Er wartet mehrere Stunden lang im Saint Anselm’s Hospital, denn er will erst sicher sein, dass Ed außer Gefahr ist, bevor er geht. Für den nächsten Morgen wird eine dreifache Bypass-Operation angesetzt, und als Nick um drei Uhr das Krankenhaus verlässt, ist er zuversichtlich, dass Ed, wenn er ihn morgen Nachmittag besucht, bereits auf dem Weg der Besserung sein wird. Das jedenfalls glaubt er aus den Worten des Kardiologen schließen zu können. Aber nichts ist sicher im Reich ärztlichen Wirkens, schon gar nicht, wenn mit Messern im Fleisch kranker Körper herumgeschnitten wird, und als Edward M. Johnson, besser bekannt als Ed Victory, am Donnerstagmorgen auf dem OP-Tisch sein Leben aushaucht, kann der Kardiologe, der Nick am Tag zuvor eine so günstige Prognose gegeben hat, nur noch seinen Irrtum eingestehen.

Inzwischen ist Nick nicht mehr in der Lage, den Arzt zu fragen, warum sein Freund es nicht geschafft hat. Am Mittwoch, keine Stunde nachdem Bowen in das unterirdische Archiv zurückgekehrt ist, begeht er einen der großen Fehler seines Lebens, und da er voraussetzt, dass Ed am Leben bleiben wird – und an dieser Voraussetzung auch noch festhält, als sein Boss schon gestorben ist –, kann er nichts von dem wahrhaft gigantischen Ausmaß der Katastrophe ahnen, die er sich selbst bereitet hat.

Den Schlüsselring und das Bargeld, das Ed ihm gegeben hat, trägt Nick in der vorderen rechten Hosentasche, als er die Leiter zum Eingang des Büros hinuntersteigt. Nachdem er das Vorhängeschloss an der Holztür entfernt hat, steckt er die Schlüssel in die linke Tasche der alten, abgetragenen Khakihose aus der Kleiderkammer. Diese Tasche hat jedoch ein großes Loch, die Schlüssel fallen hindurch, rutschen an seinem Bein entlang und landen an seinen Füßen. Er bückt sich und hebt sie auf, doch statt sie in die rechte Tasche zu stecken, behält er sie in der Hand, trägt sie dorthin, wo er mit der Arbeit anfangen will, und legt sie in ein Regal vor eine Reihe Telefonbücher – sie sollen ihm nicht die Tasche ausbeulen und sich in sein Bein bohren, wenn er Bücher herumwuchtet und durch die Gänge schiebt, sich ständig hinhocken und aufstehen muss. Die Luft in dem unterirdischen Raum ist an diesem Tag besonders klamm. Nick hofft, durch die Bewegung werde ihm schon warm, und arbeitet eine halbe Stunde, aber als ihm die Kälte immer tiefer in die Knochen kriecht, beschließt er, sich in das Zimmer nebenan zurückzuziehen, das mit einem tragbaren Radiator ausgestattet ist. Er denkt an die Schlüssel, geht zu der Stelle, wo er sie hat liegen lassen, und nimmt sie wieder an sich. Statt jedoch direkt zu der Tür am anderen Ende des Raums zu gehen, denkt er plötzlich an das Warschauer Telefonbuch von 1937/​38, das er bemerkt hatte, als Ed zum ersten Mal mit ihm hier unten war. Er will es holen, um es ins Zimmer mitzunehmen und sich in der Pause genauer anzusehen. Wieder legt er die Schlüssel in ein Regal, aber diesmal vergisst er, ganz auf die Suche nach dem Buch fixiert, sie wieder an sich zu nehmen, nachdem er es gefunden hat. Unter normalen Umständen hätte das keine Folgen gehabt. Er hätte die Schlüssel gebraucht, um überhaupt in das Zimmer zu gelangen, und wäre, sobald er sein Versäumnis bemerkt hätte, noch einmal zurückgegangen, um sie zu holen. An diesem Vormittag aber war die Tür in der Hektik nach Eds Zusammenbruch offen geblieben, und als Nick jetzt auf diese Tür zugeht, wobei er bereits in dem Warschauer Telefonbuch herumblättert und an die schaurigen Geschichten denken muss, die Ed ihm aus dem Jahr 1945 erzählt hat, ist er so zerstreut, dass er gar nicht darauf achtet, was er tut. Falls er überhaupt an die Schlüssel denkt, wird er davon ausgehen, dass er sie in seine rechte Hosentasche gesteckt hat, und so betritt er das Zimmer, macht Licht, tritt die Tür hinter sich zu – und schließt sich damit selbst ein. Ed hat eine Sicherheitstür eingebaut, die sich auch von innen nur mit einem Schlüssel öffnen lässt.

Da er den Schlüssel in seiner Tasche wähnt, ahnt Nick noch immer nicht, was er angerichtet hat. Er schaltet den Radiator ein, setzt sich aufs Bett und vertieft sich in das Warschauer Telefonbuch, widmet den spröden gebräunten Seiten seine ganze Aufmerksamkeit. Eine Stunde vergeht, und als Nick sich hinreichend aufgewärmt fühlt, um weiterarbeiten zu können, erkennt er endlich seinen Fehler. Zunächst lacht er darüber, aber als ihm allmählich die fürchterliche Wahrheit dämmert, erstirbt sein Lachen, und es folgen zwei Stunden, in denen er verzweifelt nach einem Ausweg sucht.

Der Bunker ist für einen Angriff mit Wasserstoffbomben ausgelegt, also kein gewöhnliches Zimmer: die zweifach isolierten Wände sind einen Meter zwanzig dick, der Betonboden erstreckt sich in eine Tiefe von neunzig Zentimetern, und auch die Decke, von der Bowen vermutet, sie könnte noch am ehesten ein Schwachpunkt sein, ist aus einer stabilen, unüberwindlichen Gipsbetonmischung konstruiert. Oben an den Wänden gibt es Luftschächte, aber nachdem es Bowen gelungen ist, eines der Gitter aus dem kompakten Metallrahmen zu lösen, muss er einsehen, dass die Öffnung zu eng ist: da kann niemand durchkriechen, nicht einmal ein vergleichsweise kleiner Mann wie er.

Oberirdisch, im hellen Licht der Nachmittagssonne, klebt Nicks Frau Zettel mit seinem Gesicht an jede Mauer und jeden Laternenpfahl in der Innenstadt von Kansas City, und wenn am nächsten Morgen die Bewohner der Vorstädte aus dem Bett steigen und sich zum Frühstückskaffee in die Küche begeben, werden sie auf Seite sieben der Morgenzeitung auf dasselbe Bild stoßen: HABEN SIE DIESEN MANN GESEHEN?

Erschöpft von seinen Anstrengungen, setzt Nick sich aufs Bett und versucht seine Situation in aller Ruhe einzuschätzen. Trotz allem, findet er, besteht kein Grund zur Panik. Kühlschrank und Schränke sind mit Lebensmitteln gefüllt, es gibt reichliche Vorräte an Wasser und Bier, und notfalls könnte er zwei Wochen relativ komfortabel überstehen. Aber so lange wird es nicht dauern, sagt er sich, nicht einmal halb so lang. Ed wird in wenigen Tagen aus dem Krankenhaus kommen, und wenn er erst einmal wieder die Leiter hinunterklettern kann, wird er hier auftauchen und ihn aus seiner Zwangslage befreien.

Da ihm nichts anderes übrig bleibt, findet Nick sich mit der vorübergehenden Einzelhaft ab und hofft nur, dass er hinreichend Geduld und Kraft aufbringen wird, diese absurde Lage zu ertragen. Er vertreibt sich die Zeit mit der Lektüre des Manuskripts von Nacht des Orakels und beschäftigt sich intensiv mit dem Warschauer Telefonbuch. Er denkt nach, er träumt, er macht tausend Liegestütze am Tag. Er macht Pläne für die Zukunft. Er gibt sich alle Mühe, nicht an die Vergangenheit zu denken. Er glaubt zwar nicht an Gott, sagt sich aber, dass Gott ihn auf die Probe stellt – und dass es ihm aufgegeben ist, sein Missgeschick mit Würde und Gleichmut anzunehmen.

Als Rosa Leightmans Bus am Sonntagabend in Kansas City eintrifft, ist Nick seit fünf Tagen in dem Zimmer eingeschlossen. Die Rettung naht, sagt er sich, Ed kann jetzt jederzeit kommen, und zehn Minuten nachdem er das gedacht hat, brennt die Glühbirne der Deckenlampe durch, und Nick sitzt allein im Dunkeln und starrt in die orangerot glühenden Spiralen des Radiators.