Johns Tod wurde am Schluss der Lokalnachrichten um 18 Uhr gemeldet. Unter normalen Umständen hätten Grace und ich, während wir den Tisch fürs Abendessen deckten, den Fernseher laufen lassen, aber wir hatten keinen Fernseher mehr und verbrachten daher den Abend, ohne zu wissen, dass John in der städtischen Leichenhalle lag, ohne zu wissen, dass sein Bruder Gilbert sich bereits auf dem Flug von Detroit nach New York befand, ohne zu wissen, dass Jacob untergetaucht war. Nach dem Essen gingen wir ins Wohnzimmer, legten uns aufs Sofa und sprachen über Graces bevorstehenden Termin bei Dr. Vitale, einer Geburtshelferin, die uns von Betty Stolowitz, die im März ihr erstes Kind zur Welt gebracht hatte, empfohlen worden war. Der Besuch war für Freitagnachmittag geplant, und ich sagte Grace, dass ich sie dorthin begleiten wolle und um sechzehn Uhr in die Praxis an der West Ninth Street kommen werde. Als wir diese Dinge besprachen, fiel Grace plötzlich ein, dass Betty ihr am Morgen einen Schwangerschaftsratgeber mitgegeben hatte – ein dickes Taschenbuch voller Tabellen und Abbildungen; jetzt sprang sie vom Sofa und ging ins Schlafzimmer, um es aus ihrer Schultertasche zu holen. Kaum war sie verschwunden, klopfte jemand an die Wohnungstür. Ich nahm an, es sei ein Nachbar, der sich eine Taschenlampe oder Streichhölzer ausleihen wollte. Jemand anderes konnte es nicht sein, da die Haustür unten immer verschlossen war und Besucher ohne Schlüssel draußen klingeln und sich über die Gegensprechanlage melden mussten, um hineinzugelangen. Ich erinnere mich, dass ich keine Schuhe anhatte, und als ich vom Sofa stieg und zur Tür ging, stieß ich mir einen kleinen Splitter in den linken Fuß. Ich erinnere mich auch, dass ich auf die Uhr sah und dass es halb neun war. Ich fragte nicht, wer da sei. Ich machte einfach die Tür auf, und mit dieser Bewegung wurde die Welt zu einer anderen Welt. Ich weiß nicht, wie ich das sonst sagen soll. Ich öffnete die Tür, und das Ding, das sich in den vergangenen Tagen in mir entwickelt hatte, war plötzlich real: vor mir stand die Zukunft.

Es war Jacob. Er hatte sich die Haare schwarz gefärbt und war in einen langen dunklen Mantel gehüllt, der ihm bis zu den Knöcheln reichte. Die Hände tief in den Taschen, ungeduldig auf den Fußballen wippend, sah er aus wie ein futuristischer Leichenbestatter, der einen Verstorbenen abholen wollte. Der grünhaarige Clown, mit dem ich am Samstag gesprochen hatte, war schon beunruhigend genug gewesen, aber dieses neue Wesen machte mir Angst. Ich wollte ihn nicht hereinlassen. «Du musst mir helfen», sagte er. «Ich bin echt in Schwierigkeiten, Sid, und ich habe sonst keinen, zu dem ich gehen kann.» Und ehe ich ihn wegschicken konnte, hatte er sich an mir vorbei in die Wohnung geschoben und die Tür hinter sich zugemacht.

«Geh in die Klinik zurück», sagte ich. «Ich kann nichts für dich tun.»

«Ich kann nicht zurück. Die haben rausgefunden, dass ich da war. Wenn ich dahin zurückgehe, bin ich tot.»

«Die? Wer sind die? Von wem redest du da?»

«Richie und Phil. Die glauben, ich schulde ihnen Geld. Wenn ich denen nicht fünftausend Dollar gebe, bringen sie mich um.»

«Ich glaube dir kein Wort, Jacob.»

«Nur wegen denen bin ich in die Klinik gegangen. Nicht wegen meiner Mutter. Um mich vor denen zu verstecken.»

«Ich glaube dir immer noch nicht. Aber selbst wenn, könnte ich dir nicht helfen. Ich habe keine fünftausend Dollar. Ich habe nicht mal fünfhundert Dollar. Ruf deine Mutter an. Wenn sie dich abweist, ruf deinen Vater an. Aber halt Grace und mich da raus.»

Ich hörte die Toilettenspülung hinten im Flur, ein Zeichen, dass Grace jetzt gleich wieder erscheinen würde. Von dem Geräusch alarmiert, wandte Jacob den Blick in die Richtung, und als er Grace mit dem Schwangerschaftsbuch in der Hand ins Wohnzimmer kommen sah, trat ein breites Lächeln auf sein Gesicht. «Hallo, Grace», sagte er. «Lange nicht mehr gesehen.»

Grace blieb wie angewurzelt stehen. «Was macht der denn hier?», fragte sie, an mich gewandt. Sie wirkte wie gelähmt, in ihrer Stimme schwang unterdrückte Wut mit, und sie sah demonstrativ nicht in Jacobs Richtung.

«Er will sich Geld leihen», sagte ich.

«He, Gracie», sagte Jacob mit halb gereiztem, halb sarkastischem Tonfall. «Willst du nicht mal Hallo zu mir sagen? Ich meine, es kostet doch nichts, höflich zu sein, oder?»

Als ich da stand und die beiden beobachtete, musste ich an das zerrissene Foto denken, das nach dem Einbruch auf dem Sofa gelegen hatte. Der Rahmen war gestohlen worden, aber nur jemand, der einen tiefen, langjährigen Groll gegen die Person auf dem Foto hegte, hätte sich die Mühe gemacht, das Bild in kleine Stücke zu reißen. Ein Profi hätte das nicht getan. Aber Jacob war kein Profi; sondern ein verzweifelter, von Drogen verwirrter Junge, der nichts unversucht gelassen hatte, um uns wehzutun – um seinem Vater wehzutun, indem er dessen besten Freunden eins auswischte.

«Das reicht jetzt», sagte ich zu ihm. «Sie will nicht mit dir reden, und ich auch nicht. Du bist der Einbrecher, der uns vorige Woche bestohlen hat. Du bist hier durchs Küchenfenster eingestiegen und hast herumgewütet, und dann hast du alles mitgenommen, was irgendwie von Wert war. Soll ich ans Telefon gehen und die Polizei rufen, oder gehst du freiwillig? Eine andere Wahl hast du nicht. Glaub mir, ich hole die Polizei mit dem größten Vergnügen. Ich zeige dich an, und der Richter schickt dich ins Gefängnis.»

Ich hatte erwartet, dass er den Vorwurf bestreiten und sich beleidigt darüber geben würde, dass ich es wagen konnte, so etwas von ihm zu denken, aber der Junge war noch viel schlauer. Er stieß einen schön modulierten, reumütigen Seufzer aus, ließ sich auf einen Stuhl sinken und bewegte langsam den Kopf hin und her, als sei er schockiert über sein eigenes Verhalten. Es war dieselbe Art von heuchlerischer Selbstkritik, von der er mir am Samstag erzählt hatte, als er mit seinen schauspielerischen Talenten prahlte. «Tut mir Leid», sagte er. «Aber was ich dir von Richie und Phil erzählt habe, ist wahr. Die sind hinter mir her, und wenn ich denen nicht ihre fünftausend Dollar gebe, jagen sie mir eine Kugel in den Kopf. Als ich neulich hier war, wollte ich mir bloß dein Scheckbuch ausleihen, aber das hab ich nicht gefunden. Also hab ich ein paar andere Sachen mitgenommen. Das war bescheuert. Tut mir wirklich Leid. Das Zeug war sowieso nicht viel wert, und ich hätte das nicht tun sollen. Wenn du willst, gebe ich dir morgen alles zurück. Ich habe die Sachen noch bei mir in der Wohnung, und morgen früh bringe ich alles wieder her.»

«Blödsinn», sagte Grace. «Du hast längst alles verkauft, was du konntest, und den Rest hast du weggeschmissen. Spiel uns nicht den zerknirschten kleinen Jungen vor, Jacob. Dafür bist du jetzt zu groß. Du hast uns vorige Woche ausgeraubt, und jetzt willst du noch mehr.»

«Diese Typen werden mich einen Kopf kürzer machen», sagte er. «Die wollen das Geld. Morgen. Ich weiß, dass ihr knapp bei Kasse seid, aber mein Gott, Gracie, dein Vater ist Richter. Der zuckt doch nicht mit der Wimper, wenn du ihn fragst, ob er dir was leihen kann. Ich meine, was sind denn fünftausend Dollar für einen reichen alten Mann aus den Südstaaten?»

«Vergiss es», sagte ich. «Wir werden Bill Tebbetts auf gar keinen Fall in diese Sache reinziehen.»

«Wirf ihn raus, Sid», sagte Grace; ihre Stimme bebte vor Zorn. «Ich kann das nicht ertragen.»

«Ich dachte, wir sind eine Familie», gab Jacob zurück und starrte Grace an, als wolle er sie zwingen, ihn anzusehen. Er schien gekränkt, aber auf seltsam unaufrichtige Weise, als mache er sich über sie lustig und versuche ihre Abneigung gegen ihn zu seinem Vorteil auszunutzen. «Immerhin bist du doch praktisch so was wie meine inoffizielle Stiefmutter, oder? Früher jedenfalls. Zählt das denn gar nichts?»

Inzwischen war Grace schon auf dem Weg zur Küche. «Ich rufe die Polizei», sagte sie. «Wenn du das nicht machst, Sid, dann tu ich es eben. Ich will dieses Schwein nicht in meiner Wohnung haben.» Um zum Telefon in der Küche zu gelangen, musste sie jedoch an dem Stuhl vorbei, auf dem Jacob saß, und noch ehe sie so weit gekommen war, war er schon aufgestanden und versperrte ihr den Weg. Bis dahin war die Auseinandersetzung ausschließlich verbal gewesen. Wir drei hatten geredet, und wie widerlich das auch gewesen sein mochte, ich war nicht darauf vorbereitet, dass es in körperliche Gewalt umschlagen würde. Ich stand neben dem Sofa, gut drei Meter von dem Stuhl entfernt, und als Grace sich an Jacob vorbeizuschieben versuchte, packte er sie am Arm und sagte: «Nicht die Polizei, du blöde Kuh. Deinen Vater. Wenn du hier einen anrufst, dann den Richter – und nur, um ihn nach dem Geld zu fragen.» Grace versuchte sich seinem Griff zu entwinden und warf sich herum wie ein wütendes Tier, aber Jacob war zwei Handbreit größer als sie, und so hatte er nicht nur den längeren Hebel, sondern konnte sie auch von oben attackieren. Ich stürzte auf ihn zu, gebremst von meinen schlaffen Muskeln und dem Splitter in meinem Fuß, und als ich ankam, hatte Jacob schon ihre Schultern umklammert und knallte sie an die Wand. Ich sprang ihn von hinten an, versuchte ihm meine Arme um den Oberkörper zu schlingen und ihn von ihr wegzuzerren, aber der Junge war stark, viel stärker, als ich erwartet hatte, und ohne sich auch nur umzudrehen, hieb er mir seinen Ellbogen in den Magen. Der Schlag nahm mir die Luft und warf mich zu Boden, und bevor ich den nächsten Angriff starten konnte, rammte er Grace eine Faust in den Mund und trat sie mit seinen schweren Lederstiefeln in den Bauch. Sie versuchte sich zu wehren, aber jedes Mal wenn sie aufstand, schlug er sie ins Gesicht, knallte sie an die Wand und schleuderte sie zu Boden. Aus ihrer Nase strömte Blut, als ich zum nächsten Angriff bereit war, aber ich wusste, ich war zu schwach, zu entkräftet, ich konnte nichts gegen ihn ausrichten, ich konnte ihn mit meinen lahmen Fäusten nicht aufhalten. Grace war inzwischen halb bewusstlos und stöhnte nur noch, und mir wurde die Gefahr bewusst, dass er sie tatsächlich totschlagen könnte. Statt direkt auf ihn loszugehen, rannte ich in die Küche und nahm ein großes Tranchiermesser aus der obersten Schublade neben der Spüle. «Aufhören!», schrie ich. «Aufhören, Jacob, oder ich bringe dich um!» Ich glaube, zuerst hat er mich nicht gehört. Er war völlig von seiner Wut übermannt, ein rasender Zerstörer, der kaum noch zu wissen schien, was er tat, aber als ich mit erhobenem Messer auf ihn losging, muss er mich aus den Augenwinkeln bemerkt haben. Er drehte den Kopf nach links, und als er mich mit dem Messer in der Hand auf sich zukommen sah, hörte er plötzlich auf, sie zu schlagen. Seine Augen flackerten wild, Schweiß tropfte ihm von der Nase auf das schmale, zitternde Kinn. Ich war mir sicher, dass er sich auf mich stürzen würde, und ich hätte nicht gezögert, ihm das Messer in den Leib zu rammen, doch als sein Blick auf Grace fiel, die blutend und reglos am Boden lag, ließ er die Arme sinken und sagte bloß: «Vielen Dank, Sid. Jetzt bin ich ein toter Mann.» Damit drehte er sich um, verließ die Wohnung und verschwand in den Straßen von Brooklyn, kurz bevor Polizei und Krankenwagen vor dem Haus vorfuhren.