Ich hatte vorgehabt, in einem Lokal in der Gegend zu frühstücken, aber von den zwanzig Dollar, die ich mir eingesteckt hatte, waren nur noch drei und ein bisschen Kleingeld übrig – das reichte nicht einmal für das Tagesfrühstück zu 2,99 $, wenn man Steuer und Trinkgeld berücksichtigte. Ohne die Einkaufstüte hätte ich meinen Spaziergang vielleicht einfach fortgesetzt, aber ich hatte wenig Lust, das Ding mit mir durch die Gegend zu schleppen, und da das Wetter inzwischen ziemlich scheußlich geworden war (das feine Nieseln hatte sich zu einem Dauerregen entwickelt), spannte ich meinen Schirm auf und ging nach Hause.
Es war ein Samstag, und meine Frau hatte, als ich die Wohnung verließ, noch im Bett gelegen. Grace hatte einen Vollzeitjob und nur am Wochenende die Möglichkeit, einmal auszuschlafen, sich den Luxus zu gönnen, ohne Wecker aufzuwachen. Um sie nicht zu stören, war ich so leise wie möglich hinausgeschlichen und hatte ihr einen Zettel auf den Küchentisch gelegt. Jetzt sah ich, dass sie ein paar Zeilen hinzugefügt hatte. Sidney: Hoffe, du hattest einen schönen Spaziergang. Ich gehe Besorgungen machen. Bin bald zurück. Wir sehen uns auf der Ranch. Love, G.
Ich ging in mein Arbeitszimmer am Ende des Flurs und packte meine neuen Sachen aus. Das Zimmer war winzig – der Platz reichte gerade für einen Schreibtisch, einen Stuhl und ein kleines Bücherregal mit vier schmalen Brettern –, genügte mir aber für meine Bedürfnisse, denn auf dem Stuhl sitzen und Worte zu Papier bringen war alles, was ich dort wollte. Ich war seit der Entlassung aus dem Krankenhaus schon einige Male in dem Zimmer gewesen, aber bis zu diesem Samstagmorgen im September – den ich lieber den fraglichen Morgen nenne – hatte ich, glaube ich, noch nicht ein einziges Mal auf dem Stuhl Platz genommen. Als ich jetzt meinen erbärmlichen, entkräfteten Hintern auf den harten Holzsitz senkte, kam ich mir vor wie jemand, der von einer langen und beschwerlichen Reise nach Hause gekommen ist, ein vom Glück verlassener Reisender, zurückgekehrt, um seinen rechtmäßigen Platz in der Welt wieder einzufordern. Es war schön, wieder da zu sein, schön, wieder da sein zu wollen, und in dem Glücksgefühl, das mich überkam, als ich wieder an meinem alten Schreibtisch saß, beschloss ich, das Ereignis durch einen Eintrag in das blaue Notizbuch zu feiern.
Ich setzte eine frische Tintenpatrone in meinen Füllfederhalter, öffnete das Notizbuch auf der ersten Seite und starrte die oberste Zeile an. Ich hatte keine Ahnung, wie ich anfangen sollte. Zweck der Übung war nicht so sehr, etwas Bestimmtes zu schreiben, sondern mir selbst zu beweisen, dass ich noch zum Schreiben imstande war – daher spielte es keine Rolle, was ich schrieb, solange ich nur überhaupt etwas zu Papier brachte. Alles wäre mir recht gewesen, ein Satz so richtig wie der andere, aber ich wollte das neue Notizbuch ja auch nicht mit irgendetwas Dummem einweihen, und so wartete ich noch und sah mir die kleinen Quadrate auf dem Papier an, die Reihen mattblauer Linien, die als Gitter auf der weißen Fläche lagen und sie in winzige identische Kästchen unterteilten, und als ich meine Gedanken über diese angedeuteten Einfriedungen hinschweifen ließ, musste ich plötzlich an ein Gespräch denken, das ich zwei Wochen zuvor mit meinem Freund John Trause geführt hatte. Wenn wir zusammen waren, sprachen wir beide nur selten über Bücher, aber an diesem Tag hatte John erwähnt, er habe einige Romanautoren wieder gelesen, die er in seiner Jugend bewundert habe – neugierig, ob ihre Werke ihm auch heute noch etwas sagten oder nicht, neugierig, ob sein Urteil als Zwanzigjähriger dreißig Jahre später noch genauso ausfallen würde. Er ging zehn Autoren durch, zwanzig Autoren, streifte alles von Faulkner und Fitzgerald bis zu Dostojewski und Flaubert, aber was mir von seinen Ausführungen am lebhaftesten im Gedächtnis blieb – und woran ich jetzt denken musste, als ich vor dem blauen Notizbuch an meinem Schreibtisch saß –, war ein kleiner Exkurs über eine Anekdote in einem Buch von Dashiell Hammett. «Da steckt ein ganzer Roman drin», hatte John gesagt. «Ich bin zu alt, um selbst darüber nachdenken zu wollen, aber ein junger Hüpfer wie du könnte da was Großes und Gutes draus machen. Es ist ein phantastischer Ausgangspunkt. Man braucht nur noch die passende Geschichte dazu.»2
John war sechsundfünfzig. Zwar nicht mehr jung, aber auch noch nicht so alt, dass er sich selbst als alt betrachtete, zumal er sich sehr gut hielt und immer noch wie Mitte bis Ende vierzig aussah. Ich kannte ihn seit drei Jahren, und unsere Freundschaft ging direkt auf meine Ehe mit Grace zurück. Ihr Vater hatte in den Jahren unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg mit John zusammen in Princeton studiert, und obwohl die beiden dann auf ganz verschiedenen Gebieten arbeiteten (Graces Vater war Bezirksrichter in Charlottesville, Virginia), hatten sie sich nie aus den Augen verloren. Ich lernte ihn daher als Freund der Familie kennen und nicht als den bekannten Schriftsteller, den ich seit der Highschool gelesen hatte – und den ich noch immer für einen unserer besten Autoren hielt.
Zwischen 1952 und 1975 hatte er sechs literarische Werke veröffentlicht, nun aber seit über sieben Jahren nichts mehr. John war jedoch nie sehr schnell gewesen, und dass die Pause jetzt etwas länger als gewöhnlich geraten war, bedeutete keineswegs, dass er nicht arbeitete. Ich hatte seit der Entlassung aus dem Krankenhaus schon einige Nachmittage mit ihm verbracht, und während unserer Gespräche über meinen Gesundheitszustand (der ihm unentwegt große Sorgen machte), seinen zwanzigjährigen Sohn Jacob (der ihm in letzter Zeit viel Kummer bereitete) und die Bredouille der Mets (eins unserer Lieblingsthemen) hatte er genug Hinweise über seine gegenwärtigen Aktivitäten eingestreut, aus denen ich schließen konnte, dass er intensiv mit etwas beschäftigt war und sehr viel Zeit auf ein Projekt verwandte, das schon weit fortgeschritten sein musste – und vielleicht bald abgeschlossen sein würde.
Er meinte die Flitcraft-Episode im siebten Kapitel des Malteser Falken, die Szene, in der Sam Spade Brigid O’Shaughnessy das eigenartige Gleichnis von dem Mann erzählt, der aus seinem Leben aussteigt und verschwindet. Flitcraft ist ein typischer Durchschnittsmensch – Ehemann, Vater, erfolgreicher Geschäftsmann, jemand, der sich über nichts zu beklagen hat. Als er eines Tages zum Mittagessen geht, stürzt aus dem zehnten Stock einer Baustelle ein Balken auf die Straße und landet um ein Haar auf seinem Kopf. Nur wenige Zentimeter weiter, und Flitcraft wäre zerschmettert worden, aber der Balken verfehlt ihn, und abgesehen von einem Splitter, der vom Bürgersteig aufspringt und ihn im Gesicht trifft, kommt er unverletzt davon. Dennoch lässt ihn der Vorfall nicht los, der Gedanke, dem Tod nur knapp entronnen zu sein, bringt ihn aus der Fassung. Hammett schreibt: «Es kam ihm vor, als habe jemand den Deckel vom Leben gehoben und ihn einen Blick in die Mechanik werfen lassen.» Flitcraft erkennt, dass die Welt nicht so vernünftig und wohl geordnet ist, wie er gedacht hat, dass er von Anfang an alles falsch verstanden und bisher noch überhaupt nichts begriffen hat. Die Welt wird vom Zufall regiert. Willkür verfolgt uns an jedem Tag unseres Lebens, und jederzeit kann uns dieses Leben genommen werden – ohne jeden Grund. Als Flitcraft seine Mahlzeit beendet hat, gelangt er zu dem Schluss, dass ihm nichts anderes übrig bleibt, als sich dieser destruktiven Macht zu unterwerfen und sein Leben durch irgendeinen sinnlosen, vollkommen willkürlichen Akt der Selbstverneinung zu zertrümmern. Er will gewissermaßen Feuer mit Feuer bekämpfen; er denkt gar nicht daran, nach Hause zu gehen oder sich von seiner Familie zu verabschieden, er denkt nicht einmal daran, sich auf der Bank noch etwas Geld zu holen, sondern steht einfach auf, fährt in eine andere Stadt und fängt sein Leben noch einmal von vorne an.
In den zwei Wochen, seit John und ich über diese Stelle gesprochen hatten, war mir nicht ein einziges Mal in den Sinn gekommen, dass ich den Wunsch haben könnte, mich der Herausforderung zu stellen und diese Geschichte weiter auszuarbeiten. Auch ich fand, sie sei ein guter Ausgangspunkt – gut, weil jeder von uns sich schon einmal vorgestellt hat, aus seinem Leben auszusteigen; gut, weil jeder von uns schon einmal gewünscht hat, jemand anderer zu sein –, aber das bedeutete nicht, dass ich irgendein Interesse daran hatte, der Sache nachzugehen. Als ich jedoch an diesem Morgen zum ersten Mal seit nahezu neun Monaten wieder an meinem Schreibtisch saß, mein frisch erstandenes Notizbuch anstarrte und krampfhaft einen ersten Satz zu finden versuchte, der mich nicht in Verlegenheit bringen oder mir den Mut nehmen würde, beschloss ich, es doch einmal mit der alten Flitcraft-Episode zu versuchen. Das war nicht mehr als ein Vorwand, ein Tasten nach einem möglichen Einstieg. Wenn ich imstande wäre, ein paar halbwegs interessante Ideen zu notieren, könnte ich immerhin von einem Anfang sprechen, auch wenn ich nach zwanzig Minuten aufhören und niemals etwas daraus machen würde. Also zog ich die Kappe von meinem Füller, drückte die Feder auf die oberste Linie der ersten Seite des blauen Notizbuchs und begann zu schreiben.
Die Worte kamen schnell, wie von selbst, scheinbar ohne große Anstrengung. Das überraschte mich, aber solange ich meine Hand weiter von links nach rechts bewegte, war das nächste Wort immer schon da und wartete nur, mir aus der Feder zu fließen. Ich sah meinen Flitcraft als einen Mann namens Nick Bowen. Er ist Mitte dreißig, arbeitet als Lektor bei einem großen New Yorker Verlag und ist mit einer Frau namens Eva verheiratet. Dem Beispiel von Hammetts Urbild folgend, kann er in seinem Job nur erfolgreich sein, wird von seinen Kollegen bewundert, ist finanziell auf der sicheren Seite, glücklich verheiratet und so weiter. So jedenfalls erscheint es einem flüchtigen Beobachter, aber in meiner Version der Geschichte hat Bowen schon längere Zeit mit Problemen zu kämpfen. Die Arbeit langweilt ihn (obwohl er das nicht zugeben will), und nach fünf Jahren einer relativ stabilen und zufriedenen Beziehung mit Eva ist seine Ehe zum Stillstand gekommen (auch dieser Tatsache vermag er nicht ins Gesicht zu sehen). Statt sich mit seiner zunehmenden Unzufriedenheit zu beschäftigen, verbringt Nick seine Freizeit in einer Werkstatt an der Desbrosses Street in Tribeca, wo er sich mit der langwierigen Aufgabe befasst, den Motor eines kaputten Jaguar zu reparieren, den er im dritten Jahr seiner Ehe erworben hat. Er ist ein gefragter junger Lektor bei einem angesehenen New Yorker Verlagshaus, aber in Wahrheit zieht er es vor, mit den Händen zu arbeiten.
Die Geschichte beginnt damit, dass Bowen das Manuskript eines Romans auf den Schreibtisch bekommt. Ein kurzes Werk mit dem viel sagenden Titel Nacht des Orakels, angeblich verfasst von Sylvia Maxwell, einer beliebten Autorin der zwanziger und dreißiger Jahre, die knapp zwei Jahrzehnte zuvor gestorben war. Dem Agenten zufolge, der es eingeschickt hatte, war dieses verschollene Buch 1927 entstanden, in dem Jahr, in dem Maxwell mit einem Engländer namens Jeremy Scott, einem unbedeutenden Künstler, der später als Dekorateur für britische und amerikanische Filmproduktionen gearbeitet hatte, nach Frankreich durchgebrannt war. Als die Affäre nach achtzehn Monaten vorbei war und Sylvia Maxwell nach New York zurückkehrte, ließ sie den Roman bei Scott. Er behielt ihn bis ans Ende seines Lebens, und als er, wenige Monate bevor meine Geschichte beginnt, mit siebenundachtzig Jahren starb, fand sich in seinem Testament eine Klausel, die das Manuskript Maxwells Enkelin vermachte, einer jungen Amerikanerin namens Rosa Leightman. Durch sie war das Buch an den Agenten gelangt – mit der klaren Anweisung, es zunächst an Nick Bowen zu schicken; niemand sonst sollte es vor ihm zu Gesicht bekommen.
Das Päckchen gelangt an einem Freitagnachmittag in Nicks Büro, wenige Minuten nachdem er sich ins Wochenende verabschiedet hat. Als er am Montagmorgen zurückkommt, liegt das Buch auf seinem Schreibtisch. Nick ist ein Bewunderer der anderen Romane von Sylvia Maxwell und will daher gleich mit diesem anfangen. Aber kaum hat er die erste Seite aufgeschlagen, klingelt das Telefon. Seine Assistentin teilt ihm mit, Rosa Leightman sei am Empfang und frage, ob er ein paar Minuten Zeit für sie habe. Schick sie rein, sagt Nick, und ehe er auch nur die ersten Sätze des Buchs zu Ende lesen kann (Der Krieg war fast vorbei, aber das wussten wir nicht. Wir waren zu klein, um irgendetwas zu wissen, und da der Krieg überall war, konnten wir …), tritt Sylvia Maxwells Enkelin in sein Büro. Sie ist überaus schlicht gekleidet, so gut wie nicht geschminkt und trägt ihr Haar in einer altmodischen Kurzfrisur, und doch ist ihr Gesicht so reizend, findet Nick, so schmerzlich jung und ungeschützt, ein solches (denkt er plötzlich) Inbild von Hoffnung und entfesselter menschlicher Energie, dass es ihm den Atem verschlägt. Genau so ist es mir ergangen, als ich Grace das erste Mal sah – dieser lähmende Schlag ins Gehirn, der mir den Atem raubte –, weshalb es mir nicht schwer fiel, diese Gefühle auf Nick Bowen zu übertragen und sie mir im Kontext dieser anderen Geschichte auszumalen. Um die Sache noch einfacher zu machen, beschloss ich, Rosa Leightman mit Graces Körper zu versehen – bis hin zu den kleinsten, individuellsten Eigenarten, einschließlich der Kindheitsnarbe auf ihrer Kniescheibe, dem leicht schiefen linken Schneidezahn und dem Schönheitsfleck auf ihrer rechten Wange.3
Auch ich hatte Grace per Zufall in einem Verlagsbüro kennen gelernt, was vielleicht erklärt, warum ich beschloss, Bowen gerade diesen Job zu geben. Das war im Januar 1979 gewesen, nicht lange nachdem ich meinen zweiten Roman beendet hatte. Mein erster Roman und ein früherer Erzählungsband waren von einem kleinen Verlag in San Francisco herausgebracht worden, aber jetzt war ich bei einem größeren, stärker kommerziell ausgerichteten Haus, Holst & McDermott in New York, untergekommen. Etwa zwei Wochen nach Vertragsunterzeichnung suchte ich meine Lektorin in ihrem Büro auf, und als wir im Verlauf unseres Gesprächs auf die Gestaltung des Buchumschlags zu sprechen kamen, nahm Betty Stolowitz das Telefon von ihrem Schreibtisch und meinte: «Ich finde, wir sollten Grace holen und sie nach ihrer Meinung fragen.» Wie sich herausstellte, arbeitete Grace bei Holst & McDermott als Designerin und hatte den Auftrag, den Schutzumschlag für Selbstporträt mit imaginärem Bruder zu entwerfen – so der Titel des kleinen Buchs, in dem es um meine Grillen und meine Tag- und Albträume ging.
Betty und ich diskutierten noch drei, vier Minuten lang weiter, und dann betrat Grace Tebbetts den Raum. Sie blieb ungefähr eine Viertelstunde, und als sie aufstand und wieder in ihr Büro zurückkehrte, war ich in sie verliebt. Völlig abrupt, überzeugend, unerwartet. Ich hatte von dergleichen in Romanen gelesen, aber immer angenommen, die Autoren übertrieben die Gewalt des ersten Blicks – dieses endlos debattierten Moments, in dem der Mann zum ersten Mal in die Augen seiner Geliebten sieht. Für einen geborenen Pessimisten wie mich war das eine absolut schockierende Erfahrung. Ich kam mir vor, als hätte man mich in die Welt der Troubadoure zurückgestoßen, als durchlebte ich plötzlich eine Stelle im ersten Kapitel von La Vita Nova (… als mir zum ersten Mal die herrliche Gebieterin meines Geistes erschien), als bewohnte ich die faden Phrasen von tausend vergessenen Liebessonetten. Ich brannte. Ich schmachtete. Ich darbte. Ich verstummte ganz und gar. Und das alles passierte mir in der ödesten Umgebung, im harten Neonlicht eines amerikanischen Büros am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts – dem letzten Ort auf der Welt, an dem man damit rechnen würde, auf die Leidenschaft seines Lebens zu stoßen. Solche Ereignisse lassen sich nicht erklären, es gibt keinen objektiven Grund dafür, warum wir uns in den einen Menschen verlieben und in den anderen nicht. Grace war eine gut aussehende Frau, aber selbst in diesen ersten turbulenten Sekunden unserer ersten Begegnung, als ich ihr die Hand gab und sie sich auf einen Stuhl neben Bettys Schreibtisch setzte, vermochte ich zu sehen, dass sie keine übermäßige Schönheit war, keine dieser Kinogöttinnen, die einen mit dem Glanz ihrer Vollkommenheit überwältigen. Zweifellos war sie ansehnlich, beeindruckend, ein erfreulicher Anblick (wie auch immer man diese Ausdrücke verstehen mag), aber so heftig ich mich zu ihr hingezogen fühlte, war mir doch auch bewusst, dass es mehr als nur physische Anziehung war, dass der Traum, den ich jetzt zu träumen anfing, mehr war als nur eine momentane Anwandlung animalischer Begierde. Grace machte einen intelligenten Eindruck auf mich, doch als sie im Lauf des Gesprächs ihre Vorstellungen zu dem Buchumschlag entwickelte, stellte ich fest, dass sie kein sehr redegewandter Mensch war (sie zögerte häufig zwischen zwei Sätzen, beschränkte ihr Vokabular auf schlichte, sachliche Ausdrücke und schien kein Abstraktionstalent zu haben), und nichts von dem, was sie an diesem Nachmittag sagte, war in irgendeiner Weise brillant oder bemerkenswert. Abgesehen von einigen freundlichen Bemerkungen zu meinem Buch wies nichts in ihrem Verhalten darauf hin, dass sie auch nur das leiseste Interesse an mir hatte. Und dennoch war ich in einen Zustand höchster Qual geraten – ich brannte, schmachtete und darbte: ein Mann, der in die Falle der Liebe getappt war.
Sie war einen Meter zweiundsiebzig groß und wog siebenundfünfzig Kilogramm. Schlanker Hals, lange Arme und lange Finger, helle Haut, kurzes, schmutzig blondes Haar. Ihre Frisur hatte, wie mir später auffiel, einige Ähnlichkeit mit der, die man von den Abbildungen des Titelhelden in Der kleine Prinz kennt – abgesägte Spitzen und Locken –, und vielleicht verstärkte diese Assoziation die leicht androgyne Aura, die Grace umgab. Ebenso muss die männliche Kleidung, die sie an diesem Nachmittag trug, zu diesem Eindruck beigetragen haben: schwarze Jeans, weißes T-Shirt und ein mattblaues Leinenjackett. Etwa fünf Minuten nach ihrem Eintreten legte sie das Jackett ab und hängte es über ihre Stuhllehne, und als ich ihre Arme sah, diese langen, glatten, unendlich weiblichen Arme, wusste ich bereits, dass ich erst wieder Ruhe finden würde, wenn ich sie berühren konnte, wenn ich das Recht erworben hatte, meine Hände auf ihren Körper zu legen und ihre bloße Haut zu streicheln.
Aber ich möchte nicht an der Oberfläche von Graces Körper bleiben, möchte mehr als die zufälligen Gegebenheiten ihrer physischen Existenz. Natürlich sind Körper wichtig – wichtiger, als wir zuzugeben bereit sind –, aber wir verlieben uns nicht in Körper, wir verlieben uns ineinander, und mag auch vieles von dem, was wir sind, auf Fleisch und Knochen beschränkt sein, so gibt es doch auch manches andere. Wir alle wissen das, aber sobald wir über den Katalog von oberflächlichen Eigenschaften und Äußerlichkeiten hinauswollen, gehen uns die Worte aus und zerfallen in mystisches Gefasel und nebulöse, substanzlose Metaphern. Manche nennen das die Flamme des Seins. Andere sprechen vom inneren Funken oder vom inneren Licht des Ich. Wiederum andere sprechen vom Feuer der Wesenheit. Stets handelt es sich um Bilder von Wärme und Licht, und jene Energie, die Essenz des Lebens, die wir manchmal als Seele bezeichnen, wird einem anderen Menschen immer durch die Augen vermittelt. Zweifellos hatten die Dichter Recht, auf diesem Punkt zu beharren. Das Mysterium des Verlangens beginnt mit dem Blick in die Augen des Geliebten, weil man nur dort etwas vom Wesen des anderen erhaschen kann.
Graces Augen waren blau. Dunkelblau mit grauen, auch mit einigen braunen oder haselnussbraunen Einsprengseln. Es waren komplexe Augen, Augen, die je nach Intensität und Tönung des in sie einfallenden Lichts die Farbe wechselten, und als ich sie an jenem Tag in Bettys Büro zum ersten Mal sah, kam mir der Gedanke, dass ich noch nie eine Frau gesehen hatte, die eine solche Gemütsruhe ausstrahlte, eine solche Gelassenheit: es war, als befinde sich Grace, die damals noch keine siebenundzwanzig war, bereits auf einer höheren Seinsebene als wir anderen. Ich will damit nicht sagen, dass sie in irgendeiner Weise reserviert wirkte, dass sie in einer glückseligen Wolke von Herablassung oder Gleichgültigkeit über ihren Lebensumständen schwebte. Im Gegenteil, sie war während der ganzen Besprechung durchaus lebhaft, lachte gern, lächelte, sagte immer das Richtige und machte dazu die richtigen Gesten; doch hinter ihrem professionellen Umgang mit den Ideen, die Betty und ich ihr vorlegten, verspürte ich einen auffallenden Mangel an innerer Anspannung, eine Ausgeglichenheit, die sie der üblichen Konflikte und Aggressionen des modernen Lebens zu entheben schienen: Selbstzweifel, Neid, Sarkasmus, das Bedürfnis, andere zu bewerten oder herabzusetzen, der brennende, unerträgliche Schmerz persönlicher Ambitionen. Grace war jung, ihre Seele aber war alt und verwittert, und als ich an diesem ersten Tag mit ihr bei Holst & McDermott saß, ihr in die Augen sah und die Konturen ihres schlanken, kantigen Körpers studierte, verliebte ich mich in genau das: in die Ruhe, die sie umhüllte, in das strahlende Schweigen, das in ihr loderte.
Bowen jedoch machte ich mit Absicht zu jemandem, der ich nicht bin, zum Gegenteil meiner selbst. Ich bin groß, also machte ich ihn klein. Ich habe rötliches Haar, also gab ich ihm dunkelbraunes. Ich habe Schuhgröße fünfundvierzig, also steckte ich ihn in Größe zweiundvierzig. Ich gestaltete ihn nach keinem mir bekannten Vorbild (jedenfalls nicht bewusst), aber kaum hatte ich ihn mir im Kopf zusammengesetzt, wurde er erstaunlich lebendig – es war beinahe, als könnte ich ihn sehen, beinahe, als sei er ins Zimmer getreten und stünde nun neben mir, als legte er mir eine Hand auf die Schulter, beugte sich über den Schreibtisch und läse mit, was ich zu Papier brachte … als sähe er mir zu, wie ich ihn mit meiner Feder zum Leben erweckte.
Schließlich winkt Nick sie auf den Stuhl ihm gegenüber am Schreibtisch, und Rosa nimmt Platz. Es folgt ein längeres verlegenes Schweigen. Nick kann zwar wieder atmen, aber es fällt ihm nichts ein, was er sagen könnte. Rosa bricht das Eis mit der Frage, ob er am Wochenende Zeit gefunden habe, das Buch zu lesen. Nein, antwortet er, es ist zu spät hier angekommen. Ich habe es erst heute Morgen erhalten.
Rosa wirkt erleichtert. Das ist gut, sagt sie. Es gibt Gerüchte, der Roman sei eine Fälschung, er stamme gar nicht von meiner Großmutter. Da ich mir selbst kein Urteil erlauben konnte, habe ich das Manuskript von einem Handschriftenexperten analysieren lassen. Sein Gutachten kam am Samstag; er sagt, es sei echt. Nur damit Sie Bescheid wissen. Nacht des Orakels wurde tatsächlich von Sylvia Maxwell geschrieben.
Das klingt, als gefalle Ihnen das Buch, sagt Nick, und Rosa sagt ja, es habe sie sehr bewegt. Wenn es 1927 geschrieben wurde, fährt er fort, dann kam es nach Das brennende Haus und Erlösung, aber vor Landschaft mit Bäumen – es wäre demnach ihr dritter Roman. Da war sie noch nicht mal dreißig, stimmt’s?
Achtundzwanzig, sagt Rosa. So alt, wie ich jetzt bin.
Die Unterhaltung wird noch fünfzehn, zwanzig Minuten lang fortgesetzt. Nick hat an diesem Vormittag hundert Dinge zu erledigen, aber er bringt es nicht fertig, sie zum Gehen aufzufordern. Die junge Frau wirkt so offen und klar, so wenig jedweder Selbsttäuschung hingegeben, dass er sie noch ein Weilchen anschauen und den Eindruck ihrer Erscheinung ganz in sich aufnehmen will – und ihre Erscheinung ist schön, findet er, und zwar eben weil sie sich dessen nicht bewusst ist, weil sie ihrer Wirkung auf andere absolut keine Beachtung schenkt. Bedeutendes wird nicht besprochen. Rosa ist die Tochter von Sylvia Maxwells ältestem Sohn (einem Spross aus Maxwells zweiter Ehe mit dem Theaterregisseur Stuart Leightman), erfährt er, sie ist in Chicago geboren und aufgewachsen. Als Nick sie fragt, warum sie solchen Wert darauf gelegt hat, das Buch zuerst ihm zu schicken, sagt sie, sie kenne sich im Verlagsgeschäft überhaupt nicht aus, aber Alice Lazarre sei ihr von allen Gegenwartsautoren die liebste, und seit sie wisse, dass Nick ihr Lektor ist, stehe für sie fest, dass er genau der Richtige für das Buch ihrer Großmutter sei. Nick lächelt. Alice wird sich freuen, sagt er, und als Rosa wenige Minuten später aufsteht und sich zum Gehen anschickt, nimmt er ein paar Bücher aus einem Regal, alles Erstausgaben von Alice Lazarre, und schenkt sie ihr. Ich hoffe, Nacht des Orakels wird Sie nicht enttäuschen, sagt Rosa. Warum sollte es mich enttäuschen?, fragt Nick. Sylvia Maxwell war eine erstklassige Schriftstellerin. Na ja, sagt Rosa, das Buch hier ist anders als die anderen. In welcher Hinsicht?, fragt Nick. Schwer zu sagen, antwortet Rosa, in jeder Hinsicht. Sie werden es beim Lesen schon selber merken.
Es waren natürlich noch andere Entscheidungen zu treffen, eine Menge wichtiger Einzelheiten mussten noch ersonnen und in die Szene eingearbeitet werden – erzählerisches Füllmaterial, das Authentizität suggerierte. Zum Beispiel: Seit wann lebt Rosa in New York? Was tut sie hier? Hat sie einen Job, und falls ja, ist die Arbeit ihr wichtig oder bloß ein Mittel, genug Geld zu verdienen, um die Miete bezahlen zu können? Und wie steht es mit ihrem Liebesleben? Ist sie verheiratet oder nicht, gebunden oder ungebunden, ist sie auf Männerjagd, oder wartet sie geduldig, dass ihr irgendwann der Richtige über den Weg läuft? Anfangs wollte ich eine Fotografin aus ihr machen, oder vielleicht eine Filmeditorin – etwas, was mit Bildern zu tun hatte, nicht mit Worten, also genau wie bei Grace. Auf jeden Fall unverheiratet, noch nie verheiratet, aber vielleicht mit jemandem zusammen oder, noch besser, erst vor kurzem von jemandem getrennt, nach einer langen, qualvollen Affäre. Einstweilen wollte ich mich mit diesen Fragen gar nicht beschäftigen, ebenso wenig mit ähnlichen Fragen, die Nicks Frau betrafen – Beruf, familiärer Hintergrund, musikalische und literarische Vorlieben und so weiter. Ich schrieb die Geschichte ja noch nicht wirklich, ich legte lediglich in groben Zügen die Handlung fest und konnte es mir nicht leisten, mich in die Details von Nebensächlichkeiten zu vertiefen. Das hätte mich zum Nachdenken gezwungen, aber ich wollte jetzt nur vorankommen und sehen, wohin die Bilder in meinem Kopf mich führen würden. Es ging mir nicht darum zu steuern; nicht einmal darum, Entscheidungen zu treffen. Meine Aufgabe an diesem Vormittag bestand einfach darin, dem zu folgen, was sich in meinem Inneren abspielte, und um das zu tun, musste ich den Federhalter nur ununterbrochen in Bewegung halten.
Nick ist kein Filou, kein Weiberheld. Nie hat er seine Frau betrogen, und ihm ist auch jetzt nicht bewusst, dass er es auf Sylvia Maxwells Enkelin abgesehen haben könnte. Er fühlt sich zu ihr hingezogen, keine Frage, das Schillernde und Einfache ihres Wesens hat es ihm angetan, und kaum hat sie sein Büro verlassen, schießt ihm der ungebetene Gedanke durch den Kopf – ein wahrhaftiger Blitz der Begierde –, dass er alles tun würde, um mit dieser Frau ins Bett zu gehen, dass er wahrscheinlich sogar seine Ehe dafür opfern würde. Männer denken so etwas zwanzigmal am Tag, und nur weil jemand ein momentanes Aufflackern von Erregung spürt, muss er noch lange nicht die Absicht haben, diesem Impuls nachzugeben; dennoch, Nick hat diesen Gedanken kaum zu Ende gedacht, da wird er von Schuldgefühlen und Ekel vor sich selbst geschüttelt. Um sein Gewissen zu beruhigen, ruft er seine Frau auf ihrer Arbeitsstelle an (Anwaltskanzlei, Maklerbüro, Krankenhaus – muss noch geklärt werden) und teilt ihr mit, er wolle sie am Abend zum Essen ausführen und werde einen Tisch in ihrem Lieblingsrestaurant reservieren.
Sie treffen sich um acht. Beim Aperitif und den Vorspeisen läuft es noch ganz gut, doch als sie dann auf irgendeine unbedeutende häusliche Angelegenheit zu sprechen kommen (ein kaputter Stuhl, das bevorstehende Eintreffen eines Vetters von Eva in New York, irgendetwas Nebensächliches), geraten sie ziemlich schnell in Streit, nicht sehr heftig vielleicht, aber der gereizte Tonfall genügt schon, die Stimmung zu zerstören. Nick entschuldigt sich, Eva akzeptiert; Eva entschuldigt sich, Nick akzeptiert; aber die Luft ist raus aus dem Gespräch, und die eben noch vorhandene Harmonie will sich nicht wieder einstellen. Als der Hauptgang serviert wird, sitzen sie beide nur noch schweigend da. Das Restaurant ist brechend voll, entsprechend lebhaft geht es zu, und als Nick geistesabwesend den Blick umherschweifen lässt, sieht er plötzlich Rosa Leightman, die zusammen mit fünf oder sechs anderen an einem Ecktisch sitzt. Eva fällt auf, dass er in diese Richtung blickt, und fragt, ob er einen Bekannten entdeckt hat. Das Mädchen da, sagt Nick. Sie war heute Morgen in meinem Büro. Er erzählt ihr ein wenig von Rosa, erwähnt den Roman ihrer Großmutter, Sylvia Maxwell, und versucht dann das Thema zu wechseln, aber Eva hat sich inzwischen umgedreht und sieht zu Rosas Tisch hinüber. Sie ist sehr schön, sagt Nick, findest du nicht auch? Nicht schlecht, antwortet Eva. Aber eine komische Frisur, Nicky, und furchtbar angezogen. Das spielt keine Rolle, sagt Nick. Sie ist lebendig – lebendiger als irgendwer, den ich seit Monaten gesehen habe. Frauen wie sie können einem Mann den Kopf verdrehen.
Es ist schlimm, wenn ein Mann so etwas zu seiner Frau sagt, besonders wenn die Frau ohnehin das Gefühl hat, ihr Mann habe sich innerlich von ihr entfernt. Tja, sagt Eva abwehrend, so ein Pech, dass du mich am Hals hast. Soll ich rübergehen und sie fragen, ob sie sich zu uns setzen will? Ich habe noch nie einen Mann gesehen, dem der Kopf verdreht wurde. Vielleicht lerne ich ja was dazu.
Nick begreift die gedankenlose Grausamkeit seiner Bemerkung und versucht den Schaden wieder gutzumachen. Ich habe nicht von mir gesprochen, sagt er. Ich habe einfach einen Mann gemeint – irgendeinen Mann. Den Mann an sich.
Nach dem Essen gehen Nick und Eva in ihre Wohnung im West Village. Eine schmucke, gut ausgestattete Maisonette in der Barrow Street – genau genommen John Trauses Wohnung, die ich als stumme Verbeugung vor dem Mann, der mich auf die Idee gebracht hat, für meine Flitcraft’sche Erzählung requiriert habe. Nick muss noch einen Brief schreiben, Rechnungen bezahlen, und als Eva zu Bett geht, setzt er sich an den Esszimmertisch, um diese kleinen Aufgaben zu erledigen. Er braucht eine Dreiviertelstunde, doch obwohl es allmählich spät wird, ist er noch zu unruhig, um schon schlafen zu gehen. Er steckt den Kopf zum Schlafzimmer hinein, sieht, dass Eva noch wach ist, und sagt ihr, er gehe jetzt die Briefe wegbringen. Nur mal eben zum Briefkasten an der Ecke, sagt er. Bin in fünf Minuten zurück.
Und dann geschieht es. Bowen nimmt seine Aktentasche (in der noch das Manuskript von Nacht des Orakels liegt), wirft die Briefe hinein und zieht los. Der Frühling hat begonnen, ein steifer Wind weht durch die Stadt, rüttelt an den Straßenschildern und wirbelt Papierfetzen und Müll durch die Luft. Nick, der immer noch über seine verstörende Begegnung mit Rosa am Morgen und den doppelt verstörenden Zufall nachgrübelt, der sie am Abend noch einmal seinen Weg hat kreuzen lassen, geht ganz in Gedanken und ohne auf seine Umgebung zu achten zum Briefkasten an der Ecke. Er nimmt die Briefe aus der Aktentasche und wirft sie in den Kasten. In ihm ist etwas zerbrochen, denkt er, und zum ersten Mal seit Beginn seiner Schwierigkeiten mit Eva ist er bereit, sich seine wahre Lage einzugestehen: dass seine Ehe gescheitert, dass sein Leben in eine Sackgasse geraten ist. Statt kehrtzumachen und sofort den Heimweg anzutreten, beschließt er, noch ein paar Minuten dranzuhängen. Er geht weiter die Straße hinunter, biegt um die nächste Ecke, geht eine weitere Straße entlang und biegt an der nächsten Ecke wiederum ab. Elf Stockwerke über ihm löst sich, vom Wind heftig attackiert, der Kopf eines an der Fassade eines Wohnhauses angebrachten kleinen Wasserspeiers langsam vom Rest seines Kalksteinkörpers. Nick macht einen Schritt und dann noch einen und tritt genau in dem Moment, als der Wasserspeierkopf endgültig abbricht, in die Flugbahn des herabstürzenden Gegenstands. So beginnt in leicht modifizierter Form die Flitcraft-Erzählung. Der Wasserspeier verfehlt Nicks Kopf um wenige Zentimeter, streift seinen rechten Arm, schlägt ihm die Aktentasche aus der Hand und zerschellt auf dem Bürgersteig in tausend Stücke.
Der Schlag wirft Nick zu Boden. Er ist wie betäubt, orientierungslos, verängstigt. Zunächst hat er keine Ahnung, was ihm da widerfahren ist. Für den Bruchteil einer Sekunde Beunruhigung, als der Stein ihn am Ärmel berührte, ein winziger Schock, als ihm die Tasche aus der Hand flog, und dann das Krachen des auf dem Pflaster zerspringenden Wasserspeiers. Es dauert einige Zeit, ehe er den Ablauf der Ereignisse rekonstruieren kann, und als es ihm schließlich gelingt, rappelt er sich in dem Bewusstsein vom Boden hoch, dass er jetzt tot sein müsste. Der Stein hatte ihn töten sollen. Er hat seine Wohnung heute Abend nur verlassen, um in diesen Stein hineinzulaufen, und wenn er mit dem Leben davongekommen ist, kann das nur bedeuten, dass ihm ein neues Leben geschenkt wurde – dass sein altes Leben beendet ist, dass jeder Augenblick seiner Vergangenheit jetzt jemand anderem gehört.
Ein Taxi biegt um die Ecke und kommt ihm entgegen. Nick hebt die Hand. Das Taxi hält, und Nick steigt ein. Wohin?, fragt der Fahrer. Nick hat keine Ahnung, und daher sagt er das erste Wort, das ihm in den Kopf kommt. Zum Flughafen, sagt er. Welchem?, fragt der Fahrer. Kennedy, LaGuardia oder Newark? LaGuardia, sagt Nick, und los geht’s. Dort angekommen, begibt sich Nick zum Ticketschalter und fragt nach dem nächsten Flug. Wohin?, fragt der Mann hinterm Schalter. Egal, sagt Nick. Der Mann sieht im Flugplan nach. Kansas City, sagt er. Boarding in zehn Minuten. Gut, sagt Nick und reicht ihm seine Kreditkarte, geben Sie mir ein Ticket. Einfach oder Hin- und Rückflug?, fragt der Mann. Einfach, sagt Nick, und eine halbe Stunde später sitzt er im Flugzeug und fliegt durch die Nacht nach Kansas City.
An der Stelle verließ ich ihn an jenem Vormittag – auf diesem verrückten Flug in eine ungewisse, unglaubliche Zukunft. Mir war nicht klar, wie lange ich daran gesessen hatte, aber ich spürte, dass mir allmählich die Puste ausging; also legte ich den Füller weg und stand auf. Insgesamt hatte ich acht Seiten in dem blauen Notizbuch beschrieben. Das hieß, ich musste mindestens zwei bis drei Stunden gearbeitet haben, aber die Zeit war so schnell vergangen, dass es mir nur wie wenige Minuten vorkam. Ich trat aus dem Zimmer und ging den Flur hinunter zur Küche. Zu meiner Überraschung stand Grace am Herd und machte sich eine Kanne Tee.
«Hab gar nicht gemerkt, dass du zu Hause bist», sagte sie.
«Bin schon seit einer Weile da», erklärte ich. «War in meinem Zimmer.»
Grace machte ein erstauntes Gesicht. «Hast du mich nicht klopfen gehört?»
«Nein, entschuldige. Muss ganz in meine Arbeit versunken gewesen sein.»
«Als du nicht geantwortet hast, habe ich die Tür aufgemacht und hineingeschaut. Aber du warst nicht da.»
«Natürlich war ich da. Ich habe am Schreibtisch gesessen.»
«Ich habe dich jedenfalls nicht gesehen. Vielleicht warst du gerade woanders. Im Bad vielleicht.»
«Ich kann mich nicht erinnern, im Bad gewesen zu sein. Soweit ich weiß, habe ich die ganze Zeit am Schreibtisch gesessen.»
Grace zuckte die Schultern. «Wenn du meinst, Sidney», sagte sie. Sie war offenbar nicht in der Stimmung, einen Streit vom Zaun zu brechen. Intelligent, wie sie nun einmal war, bedachte sie mich mit ihrem wunderbaren, rätselhaften Lächeln und wandte sich dann wieder dem Herd und ihrem Tee zu.