Samstagabends in New York ist es überall voll, aber an diesem Abend herrschte in den Straßen ein noch größeres Gedränge als sonst, und wir kamen mit einigen Verzögerungen erst nach über einer Stunde zu Hause an. Grace gelang es zwar, direkt vor Johns Haustür ein Taxi herbeizuwinken, doch als wir einstiegen und dem Fahrer sagten, dass wir nach Brooklyn wollten, behauptete der, er habe nicht mehr genug Benzin im Tank, und schlug die Fahrt rundweg aus. Ich wollte ihn schon anpflaumen, aber Grace fasste mich am Arm und zog mich sanft aus dem Auto. Danach war kein Taxi mehr zu sehen, also gingen wir zu Fuß zur Seventh Avenue und mussten uns an Gruppen grölender, betrunkener Jugendlicher und einem halben Dutzend geisteskranker Bettler vorbeischieben. Im Village herrschte Hochspannung an diesem Abend, eine lärmende Tollhausatmosphäre, die jederzeit in offene Gewalt hätte umschlagen können, und ich fand es anstrengend, mich durch diese Massen zu bewegen, immer bemüht, nicht das Gleichgewicht zu verlieren, indem ich mich an Graces Arm festhielt. Wir standen gut zehn Minuten an der Kreuzung Barrow und Seventh, ehe endlich ein freies Taxi heranfuhr, und Grace hatte sich inzwischen mindestens sechsmal entschuldigt, dass sie mich aus dem ersten gezogen hatte. «Tut mir Leid, dass ich dich davon abgehalten habe, dich mit ihm anzulegen», sagte sie. «Es ist meine Schuld. Natürlich dürftest du jetzt nicht hier draußen in dieser Kälte stehen, aber ich zanke mich nicht gern mit Idioten herum. Das regt mich zu sehr auf.»

Aber Grace regte sich an diesem Abend nicht nur über idiotische Taxifahrer auf. Kaum waren wir in das zweite Taxi eingestiegen, begann sie unerklärlicherweise zu weinen. Nicht sehr heftig, kein hilflos bibberndes Schluchzen, aber in ihren Augenwinkeln sammelten sich Tränen, und als wir auf der Clarkson an einer roten Ampel hielten und das helle Licht der Straßenlaternen ins Auto fiel, sah ich diese glitzernden Tränen in ihren Augen stehen wie kleine, wachsende Kristalle. So etwas war gar nicht ihre Art. Grace weinte nie, überhaupt ließ sie ihren Gefühlen niemals freien Lauf, und selbst im größten Stress (zum Beispiel während meines Zusammenbruchs, und dann in den verzweifelten ersten Wochen meines Krankenhausaufenthalts) schien sie ein angeborenes Talent zu besitzen, die Nerven zu behalten und sich den finstersten Wahrheiten zu stellen. Ich fragte sie, was ihr fehle, aber sie schüttelte nur den Kopf und sah weg. Als ich ihr eine Hand auf die Schulter legte und die Frage wiederholte, schüttelte sie mich ab – und das hatte sie noch nie zuvor getan. Die Geste war nicht direkt feindselig, aber völlig untypisch für sie, und ich muss zugeben, sie hat mir einen kleinen Stich versetzt. Da ich mich ihr nicht aufdrängen und mir auch meine Kränkung nicht anmerken lassen wollte, zog ich mich schweigend in meine Ecke der Rückbank zurück und blieb so sitzen, während das Taxi sich auf der Seventh Avenue mühsam in Richtung Süden bewegte. An der Kreuzung Varick und Canal standen wir minutenlang im Stau. Der Verkehr hatte sich ungeheuer verkeilt: hupende Autos und Lastwagen, Fahrer, die sich mit wüsten Beschimpfungen anbrüllten, New Yorker Chaos in seiner reinsten Form. Mitten in diesem wilden Tumult drehte Grace sich plötzlich zu mir herum und bat um Entschuldigung. «Er hat heute Abend so furchtbar ausgesehen», sagte sie, «so erschöpft. Allen Männern, die ich liebe, geht es schlecht. Ich kann das bald nicht mehr ertragen.»

Ich glaubte ihr nicht. Ich selbst war auf dem Weg der Besserung, und dass Johns vorübergehendes Beinleiden ihr so zu schaffen machen sollte, schien mir wenig überzeugend. Der Grund für ihre Unruhe war etwas anderes, irgendein persönlicher Kummer, von dem sie mir nichts sagen wollte, aber ich wusste, wenn ich deswegen weiter in sie dränge, würde ich es nur noch schlimmer machen. Ich legte ihr einen Arm um die Schulter und zog sie langsam zu mir heran. Diesmal leistete sie keinen Widerstand. Ich spürte, wie ihre Muskeln sich entspannten, und wenig später rollte sie sich neben mir zusammen und lehnte ihren Kopf an meine Brust. Ich legte ihr eine Hand auf die Stirn und strich ihr mit der Handfläche über die Haare. Das war ein altes Ritual zwischen uns beiden, Ausdruck einer wortlosen Vertrautheit, die uns weiterhin als Paar definierte, und da ich nie müde wurde, Grace zu berühren, nie müde würde, meine Hände irgendwo auf ihrem Körper zu haben, machte ich jetzt weiter, wiederholte die Geste Dutzende Male, während wir den West Broadway entlang auf die Brooklyn Bridge zukrochen.

Mehrere Minuten lang wechselten wir kein Wort. Das Taxi bog nach links auf die Chambers Street und hielt jetzt auf die Brücke zu; sämtliche Zufahrten waren verstopft, wir kamen kaum noch voran. Unser Fahrer, er hieß Boris Stepanovich, fluchte auf Russisch vor sich hin und beklagte damit zweifellos die Torheit, an einem Samstagabend nach Brooklyn fahren zu wollen. Ich beugte mich vor und sprach durch den Geldschlitz in der verschrammten Plexiglasscheibe mit ihm. Keine Sorge, sagte ich, Ihre Geduld soll belohnt werden. Ach?, sagte er. Was das heißen? Ein dickes Trinkgeld, antwortete ich. Wenn Sie uns unversehrt nach Hause bringen, bekommen sie das dickste Trinkgeld des Abends.

Als sie den kleinen Schnitzer hörte – Was das heißen? –, lachte Grace leise auf, und ich nahm das als Zeichen, dass ihre Depression allmählich verflog. Ich lehnte mich ins Polster zurück und begann wieder ihr Haar zu streicheln, und als wir mit einem Tempo von einer Meile pro Stunde die Zufahrt zur Brücke hochfuhren, die sich zwischen den hell erleuchteten Gebäuden hinter uns und der Freiheitsstatue rechts vor uns über den Fluss spannte, sprach ich zu ihr, sprach nur, um zu sprechen, um ihre Aufmerksamkeit festzuhalten und zu verhindern, dass sie sich wieder von mir entfernte.

«Ich habe heute Abend eine verblüffende Entdeckung gemacht», sagte ich.

«Was Gutes, hoffe ich.»

«Ich habe entdeckt, dass John und ich dieselbe Leidenschaft haben.»

«Ach?»

«Wir sind beide in die Farbe Blau verliebt. Speziell in eine jetzt aus der Produktion genommene Serie blauer Notizbücher, die früher in Portugal hergestellt wurden.»

«Na, Blau ist eine gute Farbe. Sehr ruhig, sehr heiter. Angenehm anzuschauen. Ich mag Blau so sehr, dass ich mir bei der Arbeit bewusst Mühe geben muss, nicht jeden Buchumschlag in dieser Farbe zu gestalten.»

«Drücken Farben wirklich Gefühle aus?»

«Aber sicher.»

«Und Charaktereigenschaften?»

«Wie meinst du das?»

«Gelb steht für Feigheit. Weiß für Reinheit. Schwarz für das Böse. Grün für Unschuld.»

«Grün steht für Neid.»

«Ja, das auch. Aber wofür steht Blau?»

«Weiß ich nicht. Hoffnung vielleicht.»

«Und Trauer. Melancholie. Die blaue Stunde.»

«Und denk an Vergissmeinnicht.»

«Ja, du hast Recht. Blau als Symbol für Treue.»

«Aber Rot steht für Leidenschaft. Da sind sich alle einig.»

«Die rote Gefahr. Die rote Fahne des Sozialismus.»

«Die weiße Fahne der Kapitulation.»

«Die schwarze Fahne der Anarchie. Die Grüne Partei.»

«Aber Rot steht für Liebe und Hass. Rot steht für Krieg.»

«Man trägt die Farben, wenn man in die Schlacht zieht. So sagt man doch, oder?»

«Ich glaub schon.»

«Hast du schon mal was vom Farbenkrieg gehört?»

«Nein, nicht dass ich wüsste.»

«Ich kenn das aus meiner Kindheit. Du bist im Sommer zum Reiten in Virginia gewesen, aber ich wurde von meiner Mutter in ein Feriencamp oben im Bundesstaat New York geschickt. Camp Pontiac, benannt nach dem Indianerhäuptling. Dort wurden gegen Ende der Ferien alle Teilnehmer in zwei Mannschaften aufgeteilt, und in den nächsten vier oder fünf Tagen mussten jeweils verschiedene Gruppen der beiden Seiten gegeneinander antreten.»

«Antreten? Worin?»

«Baseball, Basketball, Tennis, Schwimmen, Tauziehen – sogar Eierlaufen und Wettsingen. Die Lagerfarben waren Rot und Weiß, und folglich hieß die eine Seite das Rote Team und die andere das Weiße Team.»

«Und das war der Farbenkrieg.»

«Für einen Sportfanatiker wie mich war das was Großartiges. In manchen Jahren war ich im Weißen Team, in anderen Jahren im Roten. Dann aber wurde ein drittes Team gegründet, so was wie eine Geheimgesellschaft, eine Bruderschaft Gleichgesinnter. Ich habe seit Jahren nicht mehr daran gedacht, aber damals war das für mich sehr wichtig. Das Blaue Team.»

«Eine geheime Bruderschaft. Hört sich für mich nach albernem Jungenkram an.»

«War es auch. Nein … eigentlich doch nicht. Wenn ich jetzt so darüber nachdenke, finde ich es überhaupt nicht albern.»

«Damals musst du anders gewesen sein. Heute willst du nie bei irgendetwas mitmachen.»

«Damals auch nicht. Ich wurde gewählt. Als eines der Gründungsmitglieder, um genau zu sein. Ich fühlte mich sehr geehrt.»

«Du warst schon bei den Roten und den Weißen. Was war an den Blauen so Besonderes?»

«Das ging los, als ich vierzehn war. In dem Jahr hatten wir einen neuen Betreuer, etwas älter als die anderen da – die meisten waren Collegestudenten, neunzehn, zwanzig Jahre alt. Bruce … Bruce wie-hieß-er-doch-gleich … der Nachname fällt mir noch ein. Bruce hatte seinen BA und auch schon das erste Jahr seines Jurastudiums an der Columbia hinter sich. Ein dünner, zwergenhafter Bursche, ein überzeugter Sportgegner, der in einem auf sportliche Betätigung spezialisierten Feriencamp arbeitete. Aber scharfsinnig und humorvoll, und dauernd konfrontierte er einen mit schwierigen Fragen. Adler. So hieß er. Bruce Adler. Allgemein bekannt als der Rabbi.»

«Und der hat das Blaue Team erfunden?»

«Sozusagen. Genauer, er hat es wieder eingeführt, als Übung in Nostalgie.»

«Jetzt versteh ich gar nichts mehr.»

«Ein paar Jahre früher hatte er als Betreuer in einem anderen Camp gearbeitet. Die Farben dieses Lagers waren Blau und Grau. Als am Ende des Sommers der Farbenkrieg ausbrach, kam Bruce in das Blaue Team, und als er sich umsah und merkte, wer mit ihm in der Mannschaft war, stellte er fest, dass es nur Leute waren, die er mochte, vor denen er den größten Respekt hatte. Das Graue Team war das genaue Gegenteil – weinerliche, unangenehme Leute, die Langweiler des Camps. Und seither verband Bruce mit den Worten Blaues Team mehr als bloß ein paar läppische Staffelläufe. Sie standen für ein menschliches Ideal, eine fest gefügte Vereinigung toleranter und verständnisvoller Individuen: der Traum einer vollkommenen Gesellschaft.»

«Das klingt aber reichlich seltsam, Sid.»

«Ich weiß. Aber so ernst hat Bruce das nicht genommen. Das war gerade das Schöne an dem Blauen Team. Das Ganze war eher ein Scherz.»

«Ich wusste gar nicht, dass Rabbis Scherze machen dürfen.»

«Dürfen sie wahrscheinlich auch nicht. Aber Bruce war kein Rabbi. Bloß ein Jurastudent mit einem Sommerjob, auf der Suche nach etwas Abwechslung. Als er in unserem Camp anfing, erzählte er einem der anderen Betreuer von dem Blauen Team, und die beiden beschlossen, es als geheime Organisation wieder aufleben zu lassen.»

«Und wie sind sie auf dich gekommen?»

«Mitten in der Nacht. Ich habe fest geschlafen, und Bruce und der andere Betreuer rüttelten mich wach. ‹Komm mit›, sagten sie, ›wir haben dir was zu sagen›, und dann führten sie mich und zwei andere Jungs mit Taschenlampen in den Wald. Dort hatten sie ein kleines Lagerfeuer vorbereitet, und als wir um das Feuer saßen, erklärten sie uns, was es mit dem Blauen Team auf sich hatte, warum sie uns als Gründungsmitglieder ausgesucht hatten und welche Voraussetzungen man erfüllen musste, um dabei mitmachen zu können – falls wir selbst noch andere Kandidaten empfehlen wollten.»

«Und was waren das für Voraussetzungen?»

«Eigentlich nichts Besonderes. Mitglieder des Blauen Teams mussten keinem bestimmten Typus entsprechen, jeder für sich war ein eigenständiger Charakter. Aber es wurde niemand zugelassen, der keinen Sinn für Humor besaß – ganz gleich, wie dieser Humor zum Ausdruck kam. Manche Leute reißen ständig Witze; andere können im richtigen Moment eine Augenbraue hochziehen, und plötzlich wälzen sich alle Anwesenden vor Lachen auf dem Boden. Also, Sinn für Humor, Gefallen an der Ironie des Lebens und Aufgeschlossenheit für das Absurde. Aber auch eine gewisse Bescheidenheit und Taktgefühl, Freundlichkeit, Großmut. Keine Angeber, keine arroganten Idioten, keine Lügner oder Diebe. Ein Mitglied des Blauen Teams musste neugierig sein, musste Bücher lesen und sich bewusst sein, dass es die Welt nicht nach seinem Willen formen konnte. Ein scharfsinniger Beobachter, einer, der in moralischen Dingen feine Unterscheidungen zu machen wusste und Sinn für Gerechtigkeit hatte. Einer vom Blauen Team würde dir sein letztes Hemd hergeben, wenn er sieht, dass du es brauchst, aber noch lieber würde er dir zehn Dollar in die Tasche schieben, wenn du gerade nicht hinsiehst. Drücke ich mich verständlich aus? Ich kann das nicht genauer beschreiben, es ist nicht das eine oder das andere. Es ist alles auf einmal, alle diese Eigenschaften hängen miteinander zusammen.»

«Du beschreibst einen guten Menschen. Schlicht und einfach. Das, was mein Vater einen anständigen Menschen nennt. Betty Stolowitz sagt einfach Mensch dazu. John sagt: Kein Arschloch. Und alle meinen dasselbe.»

«Mag sein. Aber mir gefällt Blaues Team besser. Das weist auf den Zusammenhalt der Mitglieder hin, auf Solidarität. Wenn man im Blauen Team ist, hat man es nicht nötig, seine Prinzipien zu erläutern. Die teilen sich unmittelbar dadurch mit, wie man sich verhält.»

«Aber Menschen verhalten sich nicht immer gleich. Sie sind in der einen Minute gut und in der nächsten schlecht. Sie machen Fehler. Gute Menschen tun schlechte Dinge, Sid.»

«Selbstverständlich. Ich rede nicht von Vollkommenheit.»

«Doch, das tust du. Du redest von Leuten, die in der Überzeugung leben, sie seien besser als andere, die sich uns gewöhnlichem Volk moralisch überlegen fühlen. Ich wette, du und deine Freunde, ihr hattet ein geheimes Begrüßungsritual. Um euch von dem dummen Pöbel abzusetzen, stimmt’s? Damit ihr euch einbilden konntet, ihr würdet über besonderes Wissen verfügen, von dem der beschränkte Rest der Menschheit keine Ahnung hatte.»

«Gott, Grace. Das war bloß eine harmlose Anekdote von vor zwanzig Jahren. Du brauchst das nicht auseinander zu nehmen und zu analysieren.»

«Aber du glaubst diesen Mist immer noch. Das höre ich doch in deiner Stimme.»

«Ich glaube gar nichts. Am Leben sein – daran glaube ich. Am Leben sein, und mit dir zusammen sein. Mehr gibt es für mich nicht, Grace. Nichts anderes, absolut nichts in dieser verfluchten Welt.»

Mit diesem deprimierenden Misston endete das Gespräch. Mein nicht sehr subtiler Versuch, sie aus ihrer düsteren Stimmung zu locken, hatte eine Zeit lang Erfolg gehabt, aber dann war ich zu weit gegangen und unbeabsichtigt aufs falsche Gleis geraten, und sie hatte mich mit dieser sarkastischen Unterstellung angefahren. Eine so aggressive Reaktion war ganz und gar nicht ihre Art. Grace regte sich selten über solche Fragen auf, und bei ähnlichen Diskussionen in der Vergangenheit (diesen ziellos mäandernden Dialogen, in denen es um nichts Bestimmtes geht, die bloß von einer zufälligen Assoziation zur nächsten hüpfen) hatte sie sich über die von mir geäußerten Ideen eher belustigt gezeigt, sie praktisch nie ernst genommen, nicht mit Gegenargumenten aufgetrumpft, sondern einfach mitgespielt und mich meine unsinnigen Ansichten vortragen lassen. Nicht so an jenem Abend, nicht am Abend des fraglichen Tages, und da sie nun plötzlich wieder im selben Elend versank, das sie schon zu Beginn der Fahrt übermannt hatte, und gegen die Tränen ankämpfte, wurde mir klar, dass sie in echten Nöten steckte, dass sie nicht aufhören konnte, über das Namenlose, das sie quälte, nachzudenken. Ich hätte ihr ein Dutzend Fragen stellen wollen, aber wieder hielt ich mich zurück: ich wusste, sie würde sich mir erst anvertrauen, wenn sie von sich aus zu reden bereit wäre – vorausgesetzt, es würde jemals dazu kommen.

Inzwischen hatten wir die Brücke hinter uns und fuhren die Henry Street hinunter, eine schmale, von roten Backsteinhäusern flankierte Durchgangsstraße, die von der Atlantic Avenue abzweigte und Brooklyn Heights mit unserem Haus in Cobble Hill verband. Es war nichts Persönliches, begriff ich. Graces kleiner Ausbruch hatte sich nicht gegen mich gerichtet, sondern gegen das, was ich gesagt hatte – ein Funke, erzeugt vom zufälligen Zusammentreffen meiner Bemerkungen mit ihren eigenen Gedankengängen. Gute Menschen tun schlechte Dinge. Hatte Grace etwas Unrechtes getan? Hatte jemand, der ihr nahe stand, etwas Unrechtes getan? Man konnte es nicht wissen, aber jemand hatte hier Schuldgefühle, das stand fest, und auch wenn Grace durch meine Worte zu ihren abwehrenden Bemerkungen veranlasst worden war, war ich mir ziemlich sicher, dass die nichts mit mir persönlich zu tun hatten. Wie um das zu beweisen, legte Grace, kurz nachdem wir die Atlantic Avenue überquert und das letzte Teilstück der Fahrt vor uns hatten, mir die Hand auf den Nacken, zog mich zu sich heran, drückte ihren Mund auf meinen, schob ihre Zunge hinein und küsste mich lange und provokativ – ein dicker Schmatzer, wie Trause das genannt hatte. «Schlaf heute Nacht mit mir», flüsterte sie. «Sobald wir in der Wohnung sind, reiß mir die Kleider vom Leib und schlaf mit mir. Mach mich fertig, Sid.»