Ich hatte Trause am Mittwoch zum Lunch gesehen, aber außer den zwei Telefonaten später in dieser Woche hatte ich keinen weiteren Kontakt mehr mit ihm, bis ich mir am siebenundzwanzigsten das blaue Notizbuch vom Hals schaffte. Wir hatten über Jacob gesprochen und über das verlorene Manuskript von Johns alter Erzählung, aber das war’s auch schon, und ich hatte keine Ahnung, was er in diesen Tagen eigentlich machte – außer auf dem Sofa liegen und sein Bein schonen. Erst 1994, als James Gillespie Das Labyrinth der Träume: John Trause, eine Biographie veröffentlichte, erfuhr ich endlich in allen Einzelheiten, was John zwischen dem zweiundzwanzigsten und dem siebenundzwanzigsten getrieben hatte. Gillespies gewaltiges, sechshundert Seiten starkes Werk bietet nur knappe literarische Analysen und beschäftigt sich nur am Rande mit dem historischen Kontext von Johns Büchern, ist aber außerordentlich gründlich, wo es um biographische Fakten geht, und wenn ich bedenke, dass er zehn Jahre an diesem Projekt gearbeitet und offenbar mit jedem, der Trause jemals begegnet war, gesprochen hat (mich selbst eingeschlossen), habe ich keinen Grund, an der Exaktheit seiner Chronologie zu zweifeln.
Nachdem ich am Mittwoch Johns Wohnung verlassen hatte, beschäftigte er sich bis zum Abend mit Korrekturen und kleineren Änderungen am Typoskript seines Romans Das seltsame Los des Gerald Fuchs, den er offenbar einige Tage vor Ausbruch seines Phlebitis-Anfalls beendet hatte. Ich hatte damals vermutet, dass er an diesem Buch schrieb, war mir aber nie sicher gewesen: ein Manuskript von knapp unter fünfhundert Seiten, von dem Gillespie sagt, Trause habe in seinen letzten Monaten in Portugal damit angefangen, was bedeuten würde, dass er über vier Jahre daran gearbeitet hatte. So viel zu den Gerüchten, John habe nach Tinas Tod nichts mehr geschrieben. So viel zu den Gerüchten, ein ehemals großer Schriftsteller habe seinen Beruf aufgegeben und lebe nur noch von seinen früheren Leistungen – ein Ausgebrannter, der nichts mehr zu sagen habe.
An diesem Abend rief Eleanor an und berichtete, Jacob sei gefunden worden, und am nächsten Morgen, Donnerstag, rief Trause als Erstes seinen Anwalt an, Francis W. Byrd. Anwälte machen selten Hausbesuche, aber Byrd hatte Trause seit über zehn Jahren vertreten, und wenn ein Klient von Johns Kaliber seinem Anwalt mitteilt, er liege mit einem kranken Bein auf dem Sofa und müsse ihn um vierzehn Uhr in einer dringenden Angelegenheit sprechen, wird der Anwalt seine anderen Termine absagen und pünktlich zur Stelle sein, ausgerüstet mit allen nötigen Papieren und Dokumenten, die er zuvor aus seinem Aktenschrank geholt hat. Byrd erschien also in der Barrow Street, John bot ihm einen Drink an, und als die beiden ihren Scotch mit Soda ausgetrunken hatten, machten sie sich daran, Trauses Testament umzuschreiben. Das alte war vor über sieben Jahren aufgesetzt worden und entsprach, was die Aufteilung seines Nachlasses betraf, nicht mehr Johns Wünschen. Als Tina gestorben war, hatte er Jacob zu seinem Alleinerben bestimmt, allerdings erst ab dem fünfundzwanzigsten Lebensjahr; bis dahin sollte das Vermögen von seinem Bruder Gilbert verwaltet werden. Jetzt enterbte Trause seinen Sohn, indem er vor den Augen des Anwalts alle diesbezüglichen Dokumente in Fetzen riss. Dann setzte Byrd ein neues Testament auf, das Johns gesamten Besitz auf Gilbert übertrug. Bargeld, Aktien und Wertpapiere, Immobilien und künftige Tantiemeneinnahmen aus Trauses literarischen Arbeiten – das alles sollte nun sein jüngerer Bruder erben. Um halb sechs waren sie fertig. John gab Byrd die Hand, dankte ihm für seine Hilfe, und der Anwalt verließ mit drei unterschriebenen Ausfertigungen des neuen Testaments die Wohnung. Zwanzig Minuten später machte John sich wieder an die Korrektur seines Romans. Um acht brachte Madame Dumas ihm das Abendessen, und um halb zehn rief noch einmal Eleanor an und erzählte, Jacob habe einen Platz in der Smithers-Klinik bekommen und sei dort seit vier Uhr an diesem Nachmittag.
Am Freitag hätte Trause im Saint Vincent’s Hospital sein Bein untersuchen lassen sollen, aber da er vergaß, in den Kalender zu schauen, ging er nicht hin. Bei dem ganzen Durcheinander um Jacob hatte er den Termin vollkommen vergessen, und genau in dem Augenblick, da er bei seinem Arzt hätte sein sollen (einem Gefäßchirurgen namens Willard Dunmore), saß er am Telefon und sprach mit mir, erzählte von der lebenslangen Abneigung seines Sohnes gegen Grace und bat mich, am Samstag für ihn in die Smithers-Klinik zu gehen. Gillespie zufolge rief der Arzt John um halb zwölf in seiner Wohnung an und fragte, warum er nicht ins Krankenhaus gekommen sei. Als Trause erklärte, es habe einen Notfall in der Familie gegeben, hielt Dunmore seinem Patienten eine zornige Predigt über die Wichtigkeit der Untersuchung und behauptete, eine so lässige Einstellung zur eigenen Gesundheit sei unverantwortlich und könne schlimme Folgen nach sich ziehen. Trause fragte, ob er am Nachmittag kommen könne, aber Dunmore sagte, dafür sei es zu spät, es gehe erst wieder am Montag um sechzehn Uhr. Er schärfte Trause ein, an seine Medizin zu denken und sich am Wochenende so wenig wie möglich zu bewegen. Als Madame Dumas um ein Uhr in die Wohnung kam, fand sie Trause an seinem gewöhnlichen Platz auf dem Sofa, mit der Korrektur seines Buchs beschäftigt.
Am Samstag, als ich Jacob in der Klinik besuchte und mich in Changs Laden um das rote Notizbuch prügelte, setzte Trause die Arbeit an seinem Roman fort. Aus seiner Telefonabrechnung geht hervor, dass er an diesem Tag auch drei Ferngespräche führte: eins mit Eleanor in East Hampton, eins mit seinem Bruder Gilbert in Ann Arbor (er war Professor für Musikwissenschaft an der University of Michigan) und eins mit seiner Literaturagentin Alice Lazarre in ihrem Wochenendhaus in den Berkshires. Er berichtete ihr, er komme mit dem Buch gut voran, und falls in den nächsten Tagen keine unvorhergesehenen Schwierigkeiten auftauchten, könne sie für Ende der Woche mit dem fertigen Manuskript rechnen.
Am Sonntagmorgen rief ich ihn von Landolfi’s aus an und erstattete ihm Bericht über meinen Besuch bei Jacob. Dann beichtete ich ihm, dass ich seine Erzählung verloren hatte, und John lachte. Wenn ich nicht irre, lachte er eher erleichtert als belustigt. Es ist schwer, das genau zu beurteilen, aber ich glaube, es waren sehr komplexe Motive, die Trause veranlasst hatten, mir diese Erzählung zu geben – und die Behauptung, er wolle mir damit Stoff für einen Film zur Verfügung stellen, war bloß ein Vorwand, bestenfalls ein zweitrangiges Motiv. Die Geschichte handelte von den mörderischen Machenschaften einer politischen Verschwörung, parallel dazu ging es um ein Dreiecksverhältnis (eine Ehefrau, die mit dem besten Freund ihres Mannes durchbrennt), und wenn an den Spekulationen, die ich am siebenundzwanzigsten in dem Notizbuch aufgezeichnet hatte, etwas dran war, hatte John mir die Erzählung vielleicht als Kommentar zum Zustand meiner Ehe mitgegeben – als indirekten Kommentar in den fein nuancierten Chiffren und Metaphern der Literatur. Es spielte keine Rolle, dass die Geschichte 1952, im Jahr von Graces Geburt, geschrieben worden war. Das Reich der Knochen war eine Vorahnung künftiger Ereignisse. Er hatte die Geschichte in eine Schachtel gelegt und dort dreißig Jahre lang brüten lassen, und ganz allmählich hatte sie sich zur Geschichte über die Frau entwickelt, die wir beide liebten – meine Frau, meine tapfere Frau, die sich so quälte.
Ich sage, er lachte erleichtert, weil ich annehme, dass er inzwischen bereute, was er getan hatte. Als wir am Mittwoch zusammen aßen, reagierte er auf die Nachricht von Graces Schwangerschaft sehr emotional, und unmittelbar danach gerieten wir an den Rand eines hässlichen Streits. Zu dem es nicht kam; aber heute frage ich mich, ob Trause womöglich viel wütender auf mich war, als er zugeben wollte. Er war mein Freund, aber es muss ihn doch gewurmt haben, dass ich Grace zurückgewonnen hatte. Es war ihre Entscheidung gewesen, die Affäre zu beenden, und jetzt, da sie schwanger war, gab es für ihn keine Chance mehr, je wieder mit ihr zusammen zu sein. Wenn es sich tatsächlich so verhielt, war sein Geschenk an mich, die Erzählung, eine verschleierte, heimliche Form von Rache: er gab mir damit auf kleinliche Weise zu verstehen, dass er mir eine Nasenlänge voraus war – er sagte damit: Du weißt überhaupt nichts, Sidney, du hast noch nie etwas gewusst, und ich bin schon viel länger dabei als du. So könnte es gewesen sein. Aber es lässt sich unmöglich beweisen. Nur, wenn ich seine Handlungen missverstanden habe, wie ist es dann zu deuten, dass John mir die Erzählung nie geschickt hat? Er hatte versprochen, Madame Dumas werde mir einen Durchschlag des Manuskripts mit der Post schicken; stattdessen aber schickte er mir etwas anderes, und das empfand ich nicht nur als überaus großzügig, sondern auch als Akt der Reue. Dass ich den Umschlag in der Subway verloren hatte, ersparte ihm die peinlichen Folgen seiner hitzigen Aufwallung. Es tat ihm Leid, dass er sich von seinen Leidenschaften hatte hinreißen lassen, und jetzt, da meine Ungeschicklichkeit ihm aus der Klemme geholfen hatte, war er entschlossen, mit einer spektakulären, absolut überflüssigen Geste des guten Willens alles wieder gutzumachen.
Wir hatten am Sonntag etwa zwischen halb elf und elf miteinander gesprochen. Gegen zwölf kam Madame Dumas, und zehn Minuten später gab Trause ihr seine Scheckkarte und bat sie, zur Citibank am Sheridan Square zu gehen und vierzigtausend Dollar von seinem Sparkonto auf sein Girokonto zu überweisen. Gillespie schreibt, danach habe er den ganzen Tag an seinem Roman gearbeitet, und nachdem Madame Dumas ihm das Abendessen gebracht habe, sei er mühsam vom Sofa aufgestanden und habe sich in sein Arbeitszimmer geschleppt, wo er sich an den Schreibtisch gesetzt und mir einen Scheck über sechsunddreißigtausend Dollar ausgestellt habe – exakt die Summe meiner unbezahlten Arztrechnungen. Dann schrieb er mir den folgenden kurzen Brief:
Lieber Sid,
ich weiß, ich habe dir einen Durchschlag des MS versprochen, aber wozu soll das gut sein? Die Idee war doch nur, dir zu etwas Geld zu verhelfen, also kürze ich die Sache jetzt ab und lege dir einen Scheck bei. Als Geschenk, einfach so. Keine Bedingungen, kein Haken, du brauchst mir das nicht zurückzuzahlen. Ich weiß, du bist pleite, also steig bitte nicht auf dein hohes Ross und zerreiß den Scheck. Gib das Geld aus, leb davon, komm wieder in die Gänge. Ich will nicht, dass du deine Zeit mit der Arbeit an irgendwelchen Filmen vergeudest. Bleib bei den Büchern. Da liegt deine Zukunft, und ich erwarte noch große Dinge von dir.
Danke, dass du dir gestern die Mühe gemacht hast, den Jungen zu besuchen. Ich weiß das sehr zu schätzen – nein, mehr als sehr, denn ich weiß, wie unangenehm das für dich gewesen sein muss.
Nächsten Samstag zum Abendessen? Wo, kann ich noch nicht sagen, da alles von diesem verdammten Bein abhängt. Seltsam, aber wahr: das Gerinnsel habe ich meiner Knauserigkeit zu verdanken. Zehn Tage bevor die Schmerzen anfingen, habe ich eine Blitzreise nach Paris gemacht – hin und zurück in sechsunddreißig Stunden –, um bei der Beerdigung meines alten Freundes und Übersetzers Philippe Joubert zu sprechen. Ich bin Touristenklasse geflogen, habe auf dem Hin- und Rückflug durchgeschlafen, und der Arzt sagt, da sei es passiert. Durch die verkrampfte Haltung in diesen Zwergensitzen. Von jetzt an reise ich nur noch erster Klasse.
Gib Gracie einen Kuss von mir – und mach mit Flitcraft weiter. Du brauchst nur ein anderes Notizbuch, dann werden die Worte schon wieder kommen.
J. T.
Er schob Brief und Scheck in einen Umschlag, klebte ihn zu und schrieb meinen Namen und meine Anschrift in Blockbuchstaben vorne drauf, aber ihm waren die Briefmarken ausgegangen, und daher gab Trause Madame Dumas, als sie um zehn Uhr abends seine Wohnung verließ, um nach Hause in die Bronx zu fahren, zwanzig Dollar mit und bat sie, am nächsten Morgen bei der Post vorbeizugehen und ihm einen neuen Vorrat an Briefmarken zu besorgen. Die immer verlässliche Madame Dumas erfüllte ihren Auftrag, und als sie am Montagvormittag um elf zur Arbeit erschien, konnte John endlich eine Briefmarke auf den Brief kleben. Um eins brachte sie ihm ein leichtes Mittagessen. Nach der Mahlzeit setzte er die Korrekturarbeiten an seinem Roman fort, und als Madame Dumas um halb drei aus der Wohnung ging, um Lebensmittel einzukaufen, gab Trause ihr den Brief mit und bat sie, ihn unterwegs in einen Briefkasten zu werfen. Sie versprach, gegen halb vier wieder zurück zu sein, dann werde sie ihm die Treppe hinunter und in das Taxi helfen, das er bestellt hatte, um zu seinem Termin bei Dr. Dunmore ins Krankenhaus zu fahren. Wir wissen nicht, was nach Madame Dumas’ Fortgang geschehen ist, schreibt Gillespie; fest stehe nur eins: Um viertel vor drei rief Eleanor an und teilte Trause mit, dass Jacob verschwunden sei. Er habe irgendwann in der Nacht die Klinik verlassen, seither habe niemand mehr etwas von ihm gehört. Gillespie zitiert Eleanors Aussage, John habe «äußerst erregt» reagiert und noch fünfzehn, zwanzig Minuten mit ihr gesprochen. «Er ist jetzt auf sich allein gestellt», habe John schließlich gesagt. «Wir können nichts mehr für ihn tun.»
Das waren Trauses letzte Worte. Wir wissen nicht, was mit ihm passiert ist, nachdem er den Hörer aufgelegt hatte, aber als Madame Dumas um halb vier zurückkam, fand sie ihn auf dem Boden neben seinem Bett. Das scheint darauf hinzudeuten, dass er ins Schlafzimmer gegangen war, um sich für seinen Termin bei Dunmore umzuziehen, aber das ist lediglich eine Vermutung. Sicher ist nur, dass er am 27. September 1982 irgendwann zwischen drei und halb vier gestorben ist – keine zwei Stunden nachdem ich die Reste des blauen Notizbuchs an einer Straßenecke in South Brooklyn in einen Papierkorb geworfen hatte.
Als Todesursache wurde zunächst ein Herzinfarkt vermutet, aber nach eingehender Untersuchung diagnostizierte der Leichenbeschauer eine Lungenembolie. Das Blutgerinnsel, das John in den vergangenen zwei Wochen im Bein gesteckt hatte, hatte sich losgelöst, den Weg durch den Organismus nach oben angetreten und schließlich sein Ziel gefunden. Die kleine Bombe war am Ende doch hochgegangen, und mein Freund war gestorben. Mit sechsundfünfzig. Zu früh. Um dreißig Jahre zu früh. Zu früh, als dass ich ihm noch dafür hätte danken können, dass er mir das Geld geschickt und versucht hatte, mein Leben zu retten.