Am nächsten Morgen schliefen wir lange, kamen erst zwischen halb zwölf und zwölf aus den Federn. Eine Cousine von Grace war an diesem Tag in der Stadt; sie hatten sich für zwei im Guggenheim verabredet und wollten von dort noch zum Met, um sich die Dauerausstellung anzusehen. Bilder anschauen, das war Graces liebste Wochenendbeschäftigung, und als sie gegen eins aus dem Haus ging, war sie recht heiterer Stimmung.6 Ich bot ihr an, sie zur U-Bahn zu begleiten, aber sie war schon spät dran, und da die Station ein gutes Stück vom Haus entfernt war (oben an der Montague Street), meinte sie, ein hastiger Gang über eine so weite Strecke könne mich überanstrengen. Ich begleitete sie die Treppe hinunter auf die Straße, aber an der ersten Ecke verabschiedeten wir uns und gingen auseinander. Grace eilte die Court Street Richtung Heights hinunter, und ich schlenderte ein paar Blocks weiter zu Landolfi’s Candy Store und kaufte mir Zigaretten. Das war mein Spaziergang für diesen Tag. Ich konnte es kaum erwarten, mich wieder an mein blaues Notizbuch zu setzen, und daher verzichtete ich auf den üblichen Gang durchs Viertel und kehrte auf direktem Weg nach Hause zurück. Zehn Minuten später saß ich am Schreibtisch in meinem Zimmer am Ende des Flurs. Ich schlug das Notizbuch auf, dort, wo ich am Samstag aufgehört hatte, und machte mich an die Arbeit, ohne noch einmal zu lesen, was ich bis jetzt geschrieben hatte. Ich nahm einfach den Füller und fing an.

6

Ein Großteil ihrer graphischen Arbeit war vom Betrachten anderer Kunstwerke inspiriert, und vor meinem Zusammenbruch Anfang des Jahres hatten wir unsere Samstagnachmittage oft in Galerien und Museen verbracht. Die Kunst hatte unsere Ehe in mancher Hinsicht überhaupt erst möglich gemacht, und ohne die Vermittlung der Kunst dürfte ich kaum den Mut aufgebracht haben, Grace Avancen zu machen. Es war mein Glück, dass wir uns in der neutralen Umgebung von Holst & McDermott kennen gelernt hatten, in der so genannten Arbeitswelt. Wären wir irgendwo anders aufeinander gestoßen – auf einer Dinnerparty, zum Beispiel, oder im Bus oder Flugzeug –, hätte ich mich nicht wieder bei ihr melden können, ohne meine Absichten preiszugeben, und ich spürte instinktiv, dass man sich Grace mit Vorsicht nähern musste. Wenn ich meine Absichten zu früh verriet, verspielte ich, da war ich mir fast sicher, von vornherein jegliche Chancen bei ihr.

Zum Glück hatte ich einen Grund, sie anzurufen. Sie hatte den Auftrag, den Umschlag für mein Buch zu entwerfen, und unter dem Vorwand, ich habe eine neue Idee mit ihr zu besprechen, rief ich sie zwei Tage nach unserer ersten Begegnung in ihrem Büro an und fragte, ob ich mal bei ihr vorbeikommen könne. «Jederzeit», sagte sie. Jederzeit erwies sich als schwieriger Termin. Ich hatte damals einen festen Job (als Geschichtslehrer an der John Jay High School in Brooklyn) und konnte unmöglich vor vier bei ihr im Büro erscheinen. Zufällig war Grace aber für den Rest der Woche mit Nachmittagsterminen ausgebucht. Als sie vorschlug, wir könnten uns am folgenden Montag oder Dienstag treffen, sagte ich, da habe ich eine Lesung außerhalb der Stadt (was übrigens stimmte, aber wahrscheinlich hätte ich es in jedem Fall gesagt), und nun gab Grace nach und meinte, sie könne am Freitag nach der Arbeit noch etwas Zeit für mich freihalten. «Um acht habe ich eine Verabredung», sagte sie, «aber wenn wir uns um halb sechs für eine Stunde oder so treffen, dürfte sich das machen lassen.»

Den Titel meines Buchs hatte ich von einer Bleistiftzeichnung von Willem de Kooning aus dem Jahre 1938 übernommen. Selbstporträt mit imaginärem Bruder ist ein kleines, präzise gearbeitetes Bild, auf dem zwei Jungen zu sehen sind: sie stehen nebeneinander, einer ein oder zwei Jahre älter als der andere, einer in langen Hosen, der andere in Kniehosen. Sosehr ich die Zeichnung bewunderte, noch mehr interessierte mich ihr Titel, und ich hatte ihn nicht verwendet, um auf de Kooning anzuspielen, sondern wegen des puren Wortlauts, den ich sehr beziehungsreich fand und der genau zu dem Roman zu passen schien, den ich geschrieben hatte. Am Anfang jener Woche in Betty Stolowitz’ Büro hatte ich vorgeschlagen, de Koonings Zeichnung für den Umschlag zu verwenden. Jetzt wollte ich Grace sagen, die Idee käme mir gar nicht mehr so gut vor – die Bleistiftstriche seien zu schwach und unauffällig, die Gesamtwirkung werde dadurch beeinträchtigt. Im Grunde war mir das aber nicht so wichtig. Hätte ich mich in Bettys Büro gegen die Zeichnung ausgesprochen, wäre ich jetzt dafür gewesen. Mir ging es nur um eine Chance, Grace wieder zu sehen – und dazu sollte mir die Kunst verhelfen, das Einzige, was meine wahren Absichten nicht bloßstellte.

Ihre Bereitschaft, mich nach der Arbeit im Büro zu empfangen, machte mir Hoffnung; aber die Mitteilung, dass sie für acht Uhr verabredet sei, zerstörte diese Hoffnung sogleich wieder. Es gab kaum einen Zweifel daran, dass sie mit einem Mann verabredet war (attraktive Frauen sind freitagabends immer mit einem Mann unterwegs), aber ich konnte überhaupt nicht einschätzen, wie sehr sie mit ihm verbunden war. Es konnte ein erstes Stelldichein sein, es konnte aber auch ein geruhsames Abendessen mit ihrem Verlobten oder Partner, mit dem sie zusammenwohnte, sein. Dass sie nicht verheiratet war, wusste ich (Betty hatte es mir gesagt, als Grace nach unserer ersten Begegnung ihr Büro verlassen hatte), aber die Möglichkeiten anderer Beziehungen waren grenzenlos. Als ich Betty fragte, ob Grace einen Freund habe, sagte sie, das wisse sie nicht. Grace behalte ihr Privatleben für sich, niemand in der Firma habe die leiseste Ahnung, was sie in ihrer Freizeit treibe. Zwei oder drei Lektoren hätten sie, seit sie dort arbeite, zum Essen eingeladen, aber sie habe sie alle abblitzen lassen.

Ich kam schnell dahinter, dass Grace niemanden zu ihrem Vertrauten machte. In den zehn Monaten, die ich sie vor unserer Hochzeit kannte, hatte sie mir kein einziges Geheimnis verraten und keinerlei Hinweise auf irgendwelche früheren Beziehungen zu Männern gegeben. Und ich hatte sie nie gebeten, mir Dinge zu erzählen, über die sie offenbar nicht sprechen wollte. Eine solche Macht übte Graces Schweigen aus. Wenn man sie so lieben wollte, wie sie geliebt zu werden verlangte, musste man die Grenze akzeptieren, die sie zwischen sich und dem Wort gezogen hatte.

(Einmal, bei einem frühen Gespräch über ihre Kindheit, erwähnte sie eine Lieblingspuppe, die sie als Siebenjährige von ihren Eltern geschenkt bekommen hatte. Sie nannte sie Pearl, trug sie die nächsten vier oder fünf Jahre überall mit sich herum und betrachtete sie als ihre beste Freundin. Das Bemerkenswerte an Pearl war, dass sie sprechen und alles verstehen konnte, was man ihr sagte. Nur dass Pearl nie in Graces Gegenwart sprach. Nicht weil sie nicht sprechen konnte, sondern weil sie nicht wollte.)

Als ich sie kennen lernte, gab es jemanden in ihrem Leben – da bin ich mir sicher –, aber ich habe nie erfahren, wie er hieß oder wie ernst es ihr mit ihm war. Ziemlich ernst, möchte ich meinen, denn die ersten sechs Monate wurden eine stürmische Zeit für mich und nahmen ein böses Ende, als Grace mir sagte, sie wolle mich nicht mehr sehen, und ich solle sie nicht mehr anrufen. Jedoch, bei allen Enttäuschungen in diesen Monaten, allen flüchtigen Siegen und winzigen Anwandlungen von Optimismus, bei allen Zurückweisungen und Kapitulationen, den Abenden, an denen sie zu beschäftigt war, mich zu sehen, und den Abenden, an denen sie mich in ihr Bett ließ, bei all dem Auf und Ab meines verzweifelten, gescheiterten Werbens war Grace für mich immer ein Zauberwesen, ein leuchtender Berührungspunkt zwischen dem Verlangen und der Welt: die unerbittliche Liebe. Ich hielt Wort und rief sie nicht an, aber sechs oder sieben Wochen später rief sie mich aus heiterem Himmel an und sagte, sie habe es sich anders überlegt. Sie brachte keine Erklärung vor, aber ich vermutete, dass der Mann, der mein Rivale gewesen war, jetzt keine Rolle mehr in ihrem Leben spielte. Sie wolle mich nicht nur wieder sehen, sagte sie, nein, sie wolle mich heiraten. Heiraten war das eine Wort, das ich in ihrer Gegenwart nie ausgesprochen hatte. Es war mir, seit ich sie das erste Mal gesehen hat, nicht mehr aus dem Kopf gegangen, aber aus Furcht, es könnte sie abschrecken, hatte ich nie gewagt, es auszusprechen. Und jetzt machte Grace mir einen Heiratsantrag. Ich hatte mich damit abgefunden, den Rest meines Lebens mit gebrochenem Herzen hinzubringen, und jetzt erklärte sie, ich könne mein Leben mit ihr hinbringen – unzerbrochen, mein ganzes Leben mit ihr.

Bowen sitzt im Flugzeug, das ihn durch die Nacht nach Kansas City bringt. Nach dem Drama mit dem herabstürzenden Wasserspeier und der hektischen Fahrt zum Flughafen erfasst ihn jetzt Ruhe, eine heitere Leere breitet sich in ihm aus. Bowen stellt sein Tun nicht in Frage. Er empfindet keinerlei Bedauern über seinen Entschluss, der Stadt den Rücken zu kehren und seine Arbeit aufzugeben, hat nicht die leisesten Gewissensbisse, Eva einfach so im Stich zu lassen. Er weiß, wie sehr sie das treffen wird, aber er redet sich erfolgreich ein, dass es ihr ohne ihn letztlich besser gehen wird, dass sie, wenn sie sich erst einmal vom Schock seines Verschwindens erholt hat, in der Lage sein wird, ihr Leben noch einmal und für sie befriedigender von vorne anzufangen. Nicht gerade eine bewundernswerte oder sympathische Haltung, aber Bowen steht im Bann einer Idee, und diese Idee ist so groß, so viel größer als seine armseligen Bedürfnisse und Pflichten, dass er keine andere Wahl zu haben glaubt, als ihr zu gehorchen – selbst wenn das heißt, unverantwortlich zu handeln und Dinge zu tun, die ihm gestern noch moralisch verwerflich erschienen wären. «Menschen sterben durch Zufälle», formuliert Hammett diese Idee, «und leben nur, solange der blinde Zufall sie verschont … Bis jetzt hatte [Flitcraft] seine Angelegenheiten rational geregelt, sich dabei aber nicht im Einklang, sondern im Missklang mit dem Leben befunden. Er hatte den herabgestürzten Balken noch keine sieben Schritte hinter sich, da wusste er schon, dass er keinen Frieden mehr finden würde, solange er diesem neuen Aspekt nicht Rechnung trug. Als er mit dem Lunch fertig war, wusste er, was er zu tun hatte. Sein Leben konnte zufällig durch einen herabstürzenden Balken enden: genauso zufällig würde er sein Leben ändern, indem er einfach davonging.»

Ich musste Bowens Handlungsweise nicht gutheißen, um darüber zu schreiben. Bowen war Flitcraft, und Flitcraft hatte seiner Frau in Hammetts Roman genau dasselbe angetan. Das war der Ausgangspunkt der Geschichte, und ich dachte gar nicht daran, mich vor der Abmachung zu drücken, die ich mit mir selbst getroffen hatte, mich an den Ausgangspunkt der Geschichte zu halten. Gleichzeitig war mir klar, dass an der Geschichte mehr war als nur Bowen und das, was er erlebt, nachdem er das Flugzeug bestiegen hat. Auch an Eva war zu denken, und so sehr es mich in Anspruch nehmen würde, Nicks Abenteuer in Kansas City zu verfolgen, konnte ich der Geschichte nur gerecht werden, wenn ich nach New York zurückkehrte, um herauszufinden, wie es mit Eva weiterging. Ihr Schicksal war mir genauso wichtig wie das ihres Mannes. Bowen ist auf der Suche nach Gleichgültigkeit, nach gelassener Bestätigung der Dinge, wie sie nun einmal sind, wohingegen Eva mit diesen Dingen auf Kriegsfuß steht; sie ist ein Opfer der Umstände, und als Nick von seinem Gang um die Ecke nicht nach Hause kommt, erhebt sich in ihrem Kopf ein Sturm widersprüchlicher Gefühle: Panik und Angst, Trauer und Wut, Verzweiflung. Ich genoss die Aussicht, mich auf dieses Elend einzulassen, und freute mich auf die kommenden Tage, in denen ich mit ihr zusammen diese Leidenschaften durchleben und darüber schreiben konnte.

Eine halbe Stunde nach dem Start in LaGuardia öffnet Nick seine Aktentasche, nimmt das Manuskript von Sylvia Maxwells Roman heraus und beginnt zu lesen. Dies war das dritte Element der Erzählung, das in meinem Kopf Gestalt annahm, und ich fand, es müsse so früh wie möglich eingeführt werden – noch bevor das Flugzeug in Kansas City landet. Zuerst Nicks Geschichte; dann Evas Geschichte; und schließlich das Buch, das Nick liest und parallel zur Entwicklung ihrer beider Geschichten weiterliest: die Geschichte innerhalb der Geschichte. Immerhin ist Nick Literat, also jemand, der für die Macht der Bücher empfänglich ist. Dank der Aufmerksamkeit, die er Sylvia Maxwells Worten widmet, erkennt er nach und nach einen Zusammenhang zwischen sich selbst und der Fabel des Romans, als habe das Buch ihm persönlich, indirekt und höchst metaphorisch, etwas über seine gegenwärtigen Umstände mitzuteilen.

In dem Stadium hatte ich erst eine sehr vage Vorstellung von Nacht des Orakels, gerade einmal die ersten vorläufigen Umrisse. Die Handlung musste noch komplett ausgearbeitet werden, fest stand aber schon, dass es ein kurzer philosophischer Roman über Zukunftsvoraussagen sein sollte, eine Fabel über die Zeit. Der Protagonist, Lemuel Flagg, ist ein britischer Leutnant, der bei einer Granatenexplosion in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs das Augenlicht verliert. Aus seinen Wunden blutend, verwirrt und vor Schmerzen schreiend, entfernt er sich vom Kampfgeschehen und verliert den Kontakt zu seinem Regiment. Stolpernd und ohne zu wissen, wo er ist, schleppt er sich voran, gerät in den Ardenner Wald und bricht zusammen. Stunden später wird der Bewusstlose von zwei französischen Kindern gefunden, einem elfjährigen Jungen und einem vierzehnjährigen Mädchen, François und Geneviève. Die beiden sind Kriegswaisen und leben allein in einer verlassenen Hütte mitten im Wald – reine Märchengestalten in einer reinen Märchenumgebung. Sie tragen Flagg nach Hause und pflegen ihn gesund, und als der Krieg wenige Monate später endet, nimmt er die Kinder mit sich nach England zurück. Erzählt wird die Geschichte von Geneviève, die vom Jahr 1927 aus auf die seltsame Laufbahn ihres Adoptivvaters bis hin zu seinem Selbstmord zurückblickt. Seine Erblindung hat Flagg prophetische Fähigkeiten verliehen. Von jähen, tranceartigen Zuständen gepackt, fällt er zu Boden und schlägt um sich wie ein Epileptiker. Die Anfälle dauern acht bis zehn Minuten, und so lange sie anhalten, wird sein Geist von Bildern aus der Zukunft überschwemmt. Die Attacken kommen ohne Vorwarnung, und er kann sie weder abwehren noch steuern. Sein Talent ist Fluch und Segen zugleich. Es verhilft ihm zu Wohlstand und Einfluss, andererseits aber bereiten die Anfälle ihm heftige physische Schmerzen – ganz zu schweigen von der Seelenqual, denn viele seiner Visionen geben ihm Auskunft über Dinge, die er lieber nicht wissen würde. Zum Beispiel erfährt er den Todestag seiner Mutter, oder er sieht den Schauplatz eines Zugunglücks in Indien, bei dem zweihundert Menschen umkommen werden. Er gibt sich alle Mühe, mit seinen Kindern ein unauffälliges Leben zu führen, aber die erstaunliche Genauigkeit seiner Prophezeiungen (er sagt das Wetter ebenso voraus wie die Ergebnisse von Parlamentswahlen oder internationalen Cricket-Meisterschaften) macht ihn zu einer der berühmtesten Gestalten im Großbritannien der Nachkriegszeit. Auf dem Gipfel seines Ruhms jedoch erlebt er eine tragische Liebesgeschichte, und am Ende wird er von seinem Talent vernichtet. Er verliebt sich in eine Frau namens Bettina Knott, die seine Liebe zwei Jahre lang erwidert und sogar seinen Heiratsantrag annimmt. Aber am Abend vor der Hochzeit gerät Flagg wieder einmal in einen seiner Zustände und erfährt, dass Bettina ihn noch vor Jahresende betrügen wird. Da seine Prophezeiungen bisher immer eingetroffen sind, ist er überzeugt, dass seine Ehe zum Scheitern verurteilt ist. Das Tragische daran ist, dass Bettina unschuldig ist, vollkommen frei von jeder Schuld, denn sie hat den Mann, mit dem sie ihren Gatten betrügen wird, noch gar nicht kennen gelernt. Unfähig, sich dem Schmerz zu stellen, den das Schicksal für ihn bereithält, stößt Flagg sich ein Messer ins Herz und stirbt.

Das Flugzeug landet. Bowen schiebt das halb gelesene Manuskript in die Aktentasche zurück, geht aus dem Terminal und steigt in ein Taxi. Kansas City ist ihm vollkommen unbekannt. Er ist nie dort gewesen, kennt niemanden im Umkreis von hundert Meilen und würde in arge Bedrängnis geraten, wenn er die Stadt auf einer unbeschrifteten Landkarte zeigen sollte. Er bittet den Fahrer, ihn zum besten Hotel am Ort zu fahren, worauf dieser, ein korpulenter Schwarzer mit dem unwahrscheinlichen Namen Ed Victory, in schallendes Gelächter ausbricht. Hoffentlich sind Sie nicht abergläubisch, sagt er.

Abergläubisch?, fragt Nick zurück. Was hat das damit zu tun?

Sie wollen zum besten Hotel. Das wäre das Hyatt Regency. Ich weiß nicht, ob Sie Zeitung lesen, aber vor ungefähr einem Jahr hat es im Hyatt eine große Katastrophe gegeben. Da haben sich die an der Decke aufgehängten Laufgänge gelöst und sind ins Foyer gestürzt. Hat über hundert Tote gegeben.»

Ja, ich erinnere mich. Da war mal ein Foto auf der Titelseite der Times.

Das Hotel ist jetzt wieder in Betrieb, aber zimperliche Zeitgenossen gehen da nicht gern rein. Wenn Sie nicht zimperlich sind, und wenn Sie nicht abergläubisch sind, kann ich Ihnen das Haus nur empfehlen.

In Ordnung, sagt Nick. Das Hyatt. Ich bin heute schon einmal vom Blitz getroffen worden. Wenn er mich nochmal treffen will, weiß er, wo er mich findet.7

7

Kansas City war als Bowens Ziel willkürlich gewählt – die erste Stadt, die mir eingefallen war. Wahrscheinlich weil sie so weit von New York entfernt ist, im Zentrum des Kernlandes: Oz in seiner ganzen wundersamen Fremdheit. Als ich Nick dann auf den Weg nach Kansas City gebracht hatte, erinnerte ich mich plötzlich an die Katastrophe im Hyatt Regency, ein reales Ereignis, das vierzehn Monate zuvor (im Juli 1981) stattgefunden hatte. Fast zweitausend Menschen waren damals im Foyer versammelt – einem riesigen, nach oben offenen Atrium von rund sechzehnhundert Quadratmetern. Sie blickten alle nach oben und verfolgten einen Tanzwettbewerb auf einer der oberen Galerien (die wechselweise auch als «schwebende Laufgänge» oder «Skyways» bezeichnet wurden), als die breiten Trägerbalken der Konstruktion sich aus ihren Verankerungen rissen und vier Stockwerke tief ins Foyer hinabstürzten. Einundzwanzig Jahre danach gilt das Ereignis noch immer als eine der schlimmsten Hotelkatastrophen in der Geschichte Amerikas.

Ed lacht über Nicks Antwort, und die beiden setzen ihre Unterhaltung auf der Fahrt in die Stadt fort. Es stellt sich heraus, dass Ed mit dem Taxifahren Schluss machen will. Er ist seit vierunddreißig Jahren dabei, und an diesem Abend fährt er zum letzten Mal. Es ist seine letzte Schicht, sein letzter Flughafeneinsatz, und Bowen ist sein letzter Fahrgast – der letzte Passagier, der jemals mit seinem Taxi fahren wird. Nick fragt, womit er sich in Zukunft beschäftigen möchte, und Edward M. Victory (so heißt er mit vollem Namen) greift in seine Hemdtasche, zieht eine Visitenkarte hervor und gibt sie Nick. BÜRO FÜR GESCHICHTSPFLEGE steht auf der Karte – darunter Eds Name, Adresse und Telefonnummer. Nick will schon fragen, was das zu bedeuten habe, aber ehe er die Frage formulieren kann, fährt der Wagen vor dem Hotel vor, und Ed hält ihm die Hand hin, um das letzte Fahrgeld zu empfangen, das er jemals erhalten wird. Bowen gibt ihm noch zwanzig Dollar Trinkgeld drauf, wünscht dem ab sofort im Ruhestand lebenden Taxifahrer alles Gute und geht durch die Drehtür ins Foyer des unseligen Hotels.

Da er nur wenig Bargeld hat und mit Kreditkarte zahlen muss, trägt Nick sich unter seinem richtigen Namen ein. Das wieder aufgebaute Foyer sieht aus, als sei es erst wenige Tage alt, und Nick kommt spontan der Gedanke, dass er und das Hotel sich so ziemlich in der gleichen Situation befinden: beide versuchen sie ihre Vergangenheit zu vergessen, beide versuchen sie ein neues Leben anzufangen. Der glitzernde Palast mit seinen gläsernen Aufzügen und riesengroßen Kronleuchtern und blank polierten Metallwänden – und er mit nichts als seinen Kleidern am Leib, zwei Kreditkarten im Portemonnaie und einem halb gelesenen Roman in seiner Aktentasche. Er nimmt eine kostspielige Suite, fährt mit dem Aufzug in die zehnte Etage und kommt erst nach sechsunddreißig Stunden wieder runter. Nackt unter seinem Hotelbademantel, verzehrt er Mahlzeiten, die er sich vom Zimmerservice kommen lässt, steht am Fenster, betrachtet sich im Badezimmerspiegel und liest Sylvia Maxwells Buch. Er beendet es am ersten Abend vor dem Schlafengehen, und am nächsten Tag liest er es noch einmal, und noch einmal, und noch ein viertes Mal, ackert die zweihundertundneunzehn Seiten durch, als hinge sein Leben davon ab. Die Geschichte von Lemuel Flagg berührt ihn tief, aber Bowen liest Nacht des Orakels nicht, weil er sich anrühren lassen oder unterhalten werden will, und er vergräbt sich auch nicht in dem Roman, um die Entscheidung, was er als Nächstes unternehmen soll, aufzuschieben. Er weiß, was er als Nächstes zu tun hat, und das Buch ist das Einzige, was ihm dabei helfen kann. Er muss sich dazu erziehen, nicht mehr an seine Vergangenheit zu denken. Das ist der Schlüssel zu dem ganzen verrückten Abenteuer, das in dem Augenblick anfing, als der Wasserspeier vor ihm auf den Bürgersteig krachte. Wenn er sein altes Leben verloren hat, dann muss er handeln, als sei er gerade erst geboren worden, muss sich einreden, dass er von der Vergangenheit so wenig belastet ist wie ein Neugeborener. Natürlich hat er Erinnerungen, aber die sind nicht mehr relevant, gehören nicht mehr zu dem Leben, das jetzt für ihn begonnen hat, und wann immer er sich dabei ertappt, wie er an sein altes Leben in New York zurückdenkt – das ausgelöscht ist, das nur noch ein Trugbild ist –, strengt er sich mit aller Kraft an, seine Gedanken von der Vergangenheit abzuwenden und sich auf die Gegenwart zu konzentrieren. Und deshalb liest er das Buch. Deshalb liest er das Buch immer wieder. Er muss sich von den falschen Erinnerungen an ein Leben fortlocken, das ihm nicht mehr gehört, und da die Lektüre des Manuskripts vollkommene Hingabe und beharrliche Aufmerksamkeit von Körper und Geist verlangt, kann er, wenn er sich in den Seiten des Romans verliert, vergessen, wer er war.

Am dritten Tag schließlich wagt Nick sich hinaus. Er geht die Straße hinunter, betritt ein Herrenbekleidungsgeschäft und sucht eine Stunde lang zwischen den Ständern, Regalen und Wühltischen herum. Stück für Stück stellt er sich eine neue Garderobe zusammen, belädt sich mit Hosen und Hemden, Unterwäsche und Socken. Zum Bezahlen reicht er dem Verkäufer seine American-Express-Karte, aber die Maschine nimmt die Karte nicht an. Das Konto ist gesperrt, teilt der Verkäufer ihm mit. Die unerwartete Entwicklung bestürzt Nick, äußerlich aber geht er leichthin darüber hinweg. Macht nichts, sagt er. Dann zahle ich mit meiner Visa-Karte. Doch als der Verkäufer die Karte durch das Lesegerät zieht, erweist auch die sich als ungültig. Das ist ein peinlicher Augenblick für ihn. Er will sich mit einem Scherz herauswinden, aber es fällt ihm nichts Komisches ein. Er entschuldigt sich bei dem Verkäufer dafür, dass er ihm Umstände gemacht hat, und verlässt den Laden.

Die Misslichkeit ist leicht zu erklären. Nick hat die Lösung bereits gefunden, bevor er wieder im Hotel ist, und als er begreift, warum Eva die Karten hat sperren lassen, gesteht er sich widerwillig ein, dass er an ihrer Stelle nicht anders gehandelt hätte. Ein Ehemann geht los, um einen Brief einzuwerfen, und kommt nicht zurück. Was soll die Frau denken? Natürlich ist es möglich, dass er sie verlassen hat, aber der Gedanke käme erst später. Die erste Reaktion wäre Beunruhigung, die Frau würde einen Katalog potenzieller Unfälle und Gefahren durchgehen. Von einem Lastwagen überfahren, von hinten erstochen, mit Waffengewalt ausgeraubt und niedergeschlagen. Und wenn ihr Mann an einen Räuber geraten war, hatte der ihm das Portemonnaie mit den Kreditkarten weggenommen. Ohne Beweis für die Richtigkeit der einen oder anderen Hypothese (keine Nachricht von einem Verbrechen, kein Leichenfund auf der Straße) war die Sperrung der Kreditkarten das Mindeste, was man an Vorsichtsmaßregeln treffen konnte.

Nick besitzt lediglich achtundsechzig Dollar in bar. Er hat keine Schecks bei sich, und als er es auf dem Rückweg zum Hyatt Regency an einem Geldautomaten versucht, stellt er fest, dass auch seine Citibank-Karte nicht mehr gilt. Mit einem Schlag ist er in eine ziemlich verzweifelte Lage geraten. Alle Wege zum Geld sind ihm versperrt, und wenn das Hotel herausfindet, dass die American-Express-Karte, die er am Montag beim Einchecken benutzt hat, nicht mehr gültig ist, wird seine Situation sich aufs Unangenehmste verschärfen; womöglich wird er sich sogar gegen den Vorwurf des Betrugs zur Wehr setzen müssen. Er überlegt, ob er Eva anrufen und nach Hause fahren soll, kann sich aber nicht dazu überwinden. Er ist diesen weiten Weg nicht gegangen, bloß um beim ersten Problem umzukehren und nach Hause zu laufen, und fest steht, dass er nicht nach Hause will, dass er nicht zurückgehen will. Stattdessen nimmt er den Aufzug zur zehnten Etage des Hotels, betritt seine Suite und wählt Rosa Leightmans Nummer in New York. Er tut das vollkommen spontan, ohne die leiseste Ahnung, was er ihr sagen soll. Zum Glück ist Rosa nicht da, und Nick spricht ihr etwas auf den Anrufbeantworter – einen chaotischen Monolog, der wenig oder gar keinen Sinn ergibt, nicht einmal für ihn selbst.

Ich bin in Kansas City, sagt er. Ich weiß nicht, warum ich hier bin, aber ich bin jetzt hier, vielleicht für lange Zeit, und ich muss unbedingt mit Ihnen reden. Das Beste wäre, wir könnten persönlich miteinander sprechen, aber wahrscheinlich ist es zu viel verlangt, Sie zu bitten, so kurzfristig eine Maschine hierher zu nehmen. Sollten Sie nicht kommen können, rufen Sie mich bitte an. Ich bin im Hyatt Regency, Zimmer Zehn-sechsundvierzig. Ich habe das Buch Ihrer Großmutter jetzt mehrmals gelesen und halte es für das Beste, was sie je geschrieben hat. Danke, dass Sie es mir gegeben haben. Und danke, dass Sie mich am Montag im Büro besucht haben. Bitte, ärgern Sie sich nicht, wenn ich das sage, aber ich habe die ganze Zeit an Sie denken müssen. Sie haben mich getroffen wie ein Hammerschlag, und als Sie aufgestanden und aus dem Büro gegangen sind, lag mein Gehirn in Scherben. Ist es möglich, sich binnen zehn Minuten in jemanden zu verlieben? Ich weiß absolut nichts über Sie. Ich weiß nicht einmal, ob Sie verheiratet sind oder mit jemandem zusammenleben, ob Sie frei sind oder nicht. Aber es wäre wunderbar, wenn ich mit Ihnen reden könnte, wunderbar, wenn ich Sie wieder sehen könnte. Hier draußen ist es übrigens recht nett. Eine seltsame, sehr flache Gegend. Ich stehe am Fenster und sehe auf die Stadt hinaus. Hunderte von Gebäuden, Hunderte von Straßen, aber alles ist still. Das Glas sperrt die Geräusche aus. Das Leben findet auf der anderen Seite des Fensters statt, während hier drin alles tot und unwirklich aussieht. Das Problem ist, dass ich nicht mehr sehr viel länger in dem Hotel bleiben kann. Ich kenne jemanden, der am anderen Ende der Stadt wohnt. Er ist der einzige Mensch, den ich hier bis jetzt kennen gelernt habe, und ich werde mich gleich auf die Suche nach ihm machen. Er heißt Ed Victory. Ich habe seine Karte in der Tasche und werde Ihnen seine Nummer geben, nur für den Fall, dass ich hier schon ausgezogen bin, bevor Sie anrufen. Vielleicht kann er Ihnen dann sagen, wo ich bin. 816 - 765 - 4321. Ich wiederhole: 816 - 765 - 4321. Das ist ja komisch. Mir fällt gerade auf, dass die Ziffern in absteigender Reihenfolge angeordnet sind. So eine Telefonnummer ist mir noch nie untergekommen. Glauben Sie, das hat was zu bedeuten? Wahrscheinlich nicht. Oder aber doch. Ich sag Ihnen Bescheid, wenn ich etwas herausfinde. Wenn ich nichts von Ihnen höre, melde ich mich in ein paar Tagen wieder. Adios.

Eine Woche verstreicht, ehe sie die Nachricht hört. Hätte Nick zwanzig Minuten früher angerufen, wäre sie ans Telefon gegangen, doch Rosa hat soeben ihre Wohnung verlassen und weiß daher nichts von seinem Anruf. Als Nick seinen Text auf ihre Maschine spricht, sitzt sie in einem Taxi, drei Blocks vor dem Eingang zum Holland Tunnel; sie fährt zum Newark Airport, von wo ein Nachmittagsflug sie nach Chicago bringen wird. Es ist Mittwoch. Am Samstag heiratet ihre Schwester, und da die Feier im Haus ihrer Eltern stattfinden und Rosa zu den Brautjungfern gehören wird, reist sie schon früher an, um bei den Vorbereitungen zu helfen. Sie hat ihre Eltern schon seit einiger Zeit nicht mehr gesehen und will den Besuch nutzen, um nach der Hochzeit noch ein paar Tage bei ihnen zu bleiben. Sie hat vor, am Dienstagmorgen nach New York zurückzukehren. Ein Mann hat ihr eine Liebeserklärung auf den Anrufbeantworter gesprochen, und eine ganze Woche wird vergehen, ehe sie davon erfährt.

An diesem selben Mittwochnachmittag denkt in einem anderen Teil von New York Eva, Nicks Frau, ebenfalls an Rosa Leightman. Nick ist seit gut vierzig Stunden verschwunden. Die Polizei weiß nichts von Unfällen oder Verbrechen, in die jemand verwickelt ist, auf den die Beschreibung ihres Mannes zutrifft; es sind weder schriftliche noch telefonische Lösegeldforderungen etwaiger Entführer eingegangen, und daher beginnt sie die Möglichkeit ins Auge zu fassen, dass Nick sich aus dem Staub gemacht hat, dass er sie aus freiem Willen verlassen hat. Bis dahin hat sie niemals geargwöhnt, dass er eine Geliebte haben könnte, aber als sie noch einmal Revue passieren lässt, was er ihr am Montagabend im Restaurant über Rosa erzählt hat, und als sie sich daran erinnert, wie fasziniert er von ihr gesprochen hat – er hat ja praktisch lauthals von ihr geschwärmt –, beginnt sie sich zu fragen, ob er nicht einfach durchgebrannt ist, um in den Armen des dünnen Mädchens mit den stachligen blonden Haaren Ehebruch zu begehen.

Sie schlägt Rosas Nummer im Telefonbuch nach und ruft sie an. Natürlich hebt niemand ab, denn Rosa sitzt bereits im Flugzeug. Eva hinterlässt eine kurze Nachricht und legt auf. Als Rosa nicht zurückruft, wählt Eva am Abend noch einmal ihre Nummer und hinterlässt eine weitere Nachricht. In den folgenden Tagen das Gleiche – ein Anruf morgens, ein Anruf abends –, und je länger Rosas Schweigen anhält, desto größer wird Evas Wut. Schließlich geht sie zu dem Haus in Chelsea, in dem Rosa wohnt, steigt drei Treppen hoch und klopft an ihre Wohnungstür. Nichts geschieht. Sie klopft noch einmal, hämmert mit der Faust an die Tür, rüttelt daran, aber nichts rührt sich. Für Eva ist das der endgültige Beweis, dass Rosa mit Nick zusammen ist – eine irrationale Annahme, aber inzwischen ist Eva zu keinem logischen Gedanken mehr fähig; um das Verschwinden ihres Mannes zu erklären, konstruiert sie rasend vor Zorn eine Geschichte, die sich aus ihren finstersten Ängsten speist, ihren schlimmsten Befürchtungen für ihre Ehe und sich selbst. Sie kritzelt etwas auf ein Stück Papier und schiebt es unter Rosas Tür. Ich muss mit Ihnen sprechen. Es geht um Nick, schreibt sie. Rufen Sie mich sofort an. Eva Bowen.

Unterdessen hat Nick das Hotel längst verlassen. Er hat Ed Victory aufgespürt, der in einem winzigen Zimmer im obersten Stock einer Pension im übelsten Teil der Stadt haust, einem Randgebiet, in dem es kaum etwas anderes gibt als zerfallende, leer stehende Lagerhäuser und ausgebrannte Gebäude. Die wenigen Menschen, die man auf der Straße sieht, sind schwarz, aber dieses Furcht erregende, verwüstete Viertel hat nur wenig Ähnlichkeit mit den Enklaven schwarzer Armut, die Nick aus anderen amerikanischen Städten kennt. Er befindet sich hier nicht in einem städtischen Ghetto, sondern eher in einer Zweigstelle der Hölle, in einem Niemandsland, das übersät ist mit leeren Weinflaschen, gebrauchten Spritzen und den rostigen Gerippen ausgeschlachteter Autos. Die Pension ist das einzige bewohnbare Gebäude im ganzen Block, zweifellos das letzte Überbleibsel dessen, was hier vor achtzig oder hundert Jahren einmal eine Wohngegend war. In jeder anderen Straße hätte man dieses Haus für abbruchreif erklärt, aber in diesem Rahmen wirkt es geradezu einladend: ein dreigeschossiger Bau, von dem der gelbe Anstrich blättert, Treppen und Dach schief und krumm, jedes einzelne der neun Vorderfenster mit Sperrholzbrettern vernagelt.

Nick klopft an die Tür, aber es macht niemand auf. Er klopft noch einmal, und wenige Augenblicke später steht eine alte Frau in grünem Frotteemorgenmantel und billiger kastanienbrauner Perücke vor ihm – verwirrt und misstrauisch fragt sie, was er wolle. Ed, antwortet Nick, Ed Victory. Ich habe vor einer Stunde mit ihm telefoniert. Er erwartet mich. Eine kleine Ewigkeit sagt die Frau gar nichts. Sie mustert Nick von oben bis unten, starrt ihn aus toten Augen an, als sei er eine ihr unbekannte Lebensform, schaut auf die lederne Aktentasche in seiner Hand und dann wieder in sein Gesicht, fragt sich, was ein Weißer in ihrem Haus zu suchen hat. Nick greift in seine Tasche und zieht Eds Visitenkarte hervor in der Hoffnung, sie überzeugen zu können, dass er befugtermaßen hier aufgetaucht ist, aber die Frau ist halb blind, und als sie sich vorbeugt, um die Karte zu betrachten, wird Nick klar, dass sie die aufgedruckten Worte nicht erkennen kann. Er ist doch nicht in Schwierigkeiten?, fragt sie. Keine Schwierigkeiten, antwortet Nick. Jedenfalls nicht dass ich wüsste. Und Sie sind nicht von der Polizei?, sagt die Frau. Ich bin hier, um mir einen Rat zu holen, erklärt Nick, und Ed ist der Einzige, der ihn mir geben kann. Wieder folgt eine lange Pause, und schließlich zeigt die Frau auf die Treppe. Drei-G, sagt sie, die Tür links. Aber Sie müssen laut anklopfen. Um die Zeit schläft Ed gewöhnlich, und er hört nicht mehr gut.

Die Frau weiß, wovon sie redet, denn nachdem Nick die dunkle Treppe hinaufgestiegen ist und am Ende des Flurs Ed Victorys Tür gefunden hat, muss er zehn-, zwölfmal anklopfen, bevor der ehemalige Taxifahrer ihn zum Eintreten auffordert. Dick und schwer, die Hosenträger lose herabhängend, die Hose am Bund aufgeknöpft, sitzt Nicks einziger Bekannter in Kansas City auf seinem Bett und hält eine Pistole direkt aufs Herz seines Besuchers gerichtet. Es ist das erste Mal, dass Bowen mit einer Waffe bedroht wird, doch bevor er richtig erschrecken und aus dem Zimmer fliehen kann, lässt Victory die Pistole sinken und legt sie auf den Nachttisch.

Sie sind das, sagt er. Der New Yorker Blitz.

Warum so nervös?, fragt Nick und spürt erst jetzt das Entsetzen vor einer möglichen Kugel in seiner Brust, obwohl die Gefahr längst vorüber ist.

Wir leben in unruhigen Zeiten, sagt Ed, und das ist eine unruhige Gegend. Man kann nie vorsichtig genug sein. Besonders wenn man siebenundsechzig ist und nicht mehr gut zu Fuß.

Einer Kugel kann niemand davonlaufen, antwortet Nick.

Ed grunzt etwas, und dann bittet er Nick, Platz zu nehmen, wobei er überraschenderweise auf eine Stelle aus Walden anspielt, als er auf den einzigen Stuhl im Zimmer weist. Thoreau hat gesagt, er habe drei Stühle in seinem Haus, bemerkt Ed. Nummer eins zum Alleinsein, Nummer zwei für die Freundschaft und Nummer drei für Gesellschaft. Ich habe nur den einen zum Alleinsein. Rechnet man mein Bett dazu, sind’s vielleicht zwei für die Freundschaft. Aber Gesellschaft gibt’s hier nicht. Davon hatte ich mehr als genug, als ich mit meinem Taxi herumgefahren bin.

Nick lässt sich auf dem Holzstuhl nieder und sieht sich in dem kleinen, sauberen Zimmer um. Es erinnert ihn an eine Mönchszelle oder die Hütte eines Einsiedlers: ein trister, spartanischer Ort, der nur mit dem Nötigsten zum Leben ausgestattet ist. Ein Einzelbett, eine Kommode, eine Herdplatte, ein kleiner Kühlschrank, ein Schreibtisch, ein Regal mit einigen Dutzend Büchern, darunter acht oder zehn Wörterbücher und eine stark abgenutzte Collier’s Encyclopedia in zwanzig Bänden. Das Zimmer stellt die Welt eines Menschen dar, für den Beschränkung, Introvertiertheit und Disziplin wichtig sind, und als Bowen seine Aufmerksamkeit wieder Victory zuwendet, der ihn vom Bett aus gelassen beobachtet, bemerkt er ein letztes Detail, das ihm bis dahin entgangen ist. Es hängen keine Bilder an den Wänden, nirgends sind Fotos oder persönliche Gegenstände zu sehen. Einziger Schmuck ist ein Kalender, der über der Kommode an die Wand geheftet ist – von 1945, aufgeschlagen beim Monat April.

Ich stecke ganz schön in der Patsche, sagt Nick, und ich dachte, Sie könnten mir vielleicht helfen.

Kommt drauf an, antwortet Ed und greift nach einer Packung filterloser Pall Mall auf dem Nachttisch. Er zündet sich mit einem Streichholz eine Zigarette an, nimmt einen langen, tiefen Zug und bekommt einen Hustenanfall. Jahre verklumpten Schleims rasseln in seinen eingeschrumpften Bronchien, zwanzig Sekunden lang ist nur das Krachen seiner Lungen zu hören. Als es aufhört, grinst Ed ihn an und sagt: Wenn mich jemand fragt, warum ich rauche, sage ich, weil ich gern huste.

Ich wollte nicht stören, sagte Nick. Vielleicht ist das nicht der richtige Zeitpunkt.

Sie stören nicht. Ein Fahrgast gibt mir zwanzig Dollar Trinkgeld, und zwei Tage später taucht er auf und sagt mir, dass er in Schwierigkeiten steckt. Das macht mich neugierig.

Ich brauche Arbeit. Irgendeine Arbeit. Ich bin ein guter Automechaniker, und ich dachte, Sie haben vielleicht Beziehungen zu der Taxigesellschaft, für die Sie gearbeitet haben.

Ein New Yorker mit Ledertasche und erstklassigem Anzug erzählt, er will als Automechaniker arbeiten. Er gibt einem Taxifahrer viel zu viel Trinkgeld und behauptet dann, pleite zu sein. Und jetzt sagen Sie bestimmt, dass Sie keine Fragen beantworten werden. Hab ich Recht oder nicht?

Keine Fragen. Ich bin der Mann, der vom Blitz getroffen wurde, wissen Sie noch? Ich bin tot, und wer oder was ich früher war, spielt jetzt keine Rolle mehr. Es zählt nur noch das Jetzt. Und eben jetzt muss ich etwas Geld verdienen.

Die Leute, denen dieser Laden gehört, sind Schurken und Idioten. Vergessen Sie diesen Plan, Mister New York. Aber wenn es Ihnen wirklich dreckig geht, hätte ich vielleicht was für Sie im Büro. Dazu brauchen Sie einen kräftigen Rücken und ein Talent für Zahlen. Wenn Sie das vorzuweisen haben, stelle ich Sie ein. Ich zahle anständig. Mag sein, dass ich wie ein armer Mann aussehe, aber ich habe mehr Geld, als ich ausgeben kann.

Das Büro für Geschichtspflege. Ihr Geschäft.

Kein Geschäft. Eher so was wie ein Museum, ein privates Archiv.

Ich habe einen kräftigen Rücken, und ich kann addieren und subtrahieren. Um was geht es bei dieser Arbeit?

Ich bin dabei, mein System neu zu organisieren. Es gibt Zeit, und es gibt Raum. Das sind die beiden einzigen Möglichkeiten. Momentan ist das Ganze geographisch sortiert, räumlich. Jetzt will ich die Methode wechseln und die Dinge chronologisch ordnen. Das ist besser, und ich bedaure, dass ich nicht schon früher darauf gekommen bin. Dazu ist einige Schlepperei vonnöten, und allein schaffe ich das nicht. Ich brauche einen Helfer.

Und wenn ich sagen würde, ich bin bereit, Ihnen zu helfen – wann würde ich dann anfangen?

Sofort, wenn Sie wollen. Wenn ich mir noch die Hose zuknöpfen darf, können wir gleich rübergehen. Und dann entscheiden Sie, ob Sie mitmachen wollen oder nicht.