Grace musste am nächsten Morgen nicht zur Arbeit, und sie schlief noch, als ich die Wohnung verließ. Nach dem Gespräch mit Trause am Freitag hatte ich beschlossen, ihr nicht zu erzählen, dass ich ihm versprochen hatte, am Nachmittag zur Smithers-Klinik zu fahren. Das hätte mich gezwungen, von Jacob zu erzählen, und ich wollte nicht riskieren, schlimme Erinnerungen in ihr wachzurufen. Wir hatten eine Reihe schwieriger Tage hinter uns, und ich gedachte nicht, über irgendetwas zu sprechen, das auch nur die kleinste Erschütterung bewirken konnte – und damit womöglich das fragile Gleichgewicht zu zerstören, zu dem wir in den vergangenen achtundvierzig Stunden zurückgefunden hatten. Ich legte ihr einen Zettel auf den Küchentisch: ich sei nach Manhattan gefahren, um in ein paar Buchhandlungen herumzustöbern, und käme spätestens um sechs nach Hause. Noch eine Lüge zu all den anderen kleinen Lügen, die wir uns in der letzten Woche erzählt hatten. Aber meine Absicht war nicht, sie zu täuschen. Ich wollte ihr lediglich weitere Unerfreulichkeiten ersparen, den von uns gemeinsam bewohnten Raum so klein und privat wie möglich halten und vermeiden, dass wir in schmerzliche Angelegenheiten aus der Vergangenheit hineingezogen wurden.

Die Entzugsklinik Smithers war in einer großen Villa untergebracht, die früher dem Broadway-Produzenten Billy Rose gehört hatte. Ich hatte keine Ahnung, wie und wann das Haus für den neuen Zweck eingerichtet worden war, aber jedenfalls war es ein erstklassiges Beispiel für die alte New Yorker Architektur, ein Kalksteinpalast aus einer Zeit, als der Reichtum sich mit Diamanten, Zylinderhüten und weißen Handschuhen in Szene gesetzt hatte. Sehr seltsam, dass dort heute nun die Gestrandeten der Gesellschaft leben sollten, ein unaufhörlicher Strom von Drogensüchtigen, Alkoholikern und ehemaligen Kriminellen. Das Anwesen war zu einer Zwischenstation für die Verlorenen geworden, und als die Tür aufsprang und ich eintrat, bemerkte ich, dass bereits eine gewisse Verwahrlosung eingesetzt hatte. Das Skelett des Gebäudes war noch intakt (die riesige Eingangshalle mit dem schwarzweiß gefliesten Fußboden, die geschwungene Treppe mit dem Mahagonigeländer), aber die Haut wirkte nur noch traurig und schmutzig, verschlissen von jahrelanger, härtester Beanspruchung.

Ich stellte mich am Empfang als Freund der Familie vor und fragte nach Jacob. Anscheinend machte ich auf die Aufseherin einen verdächtigen Eindruck, denn ich musste meine Taschen ausleeren, um zu beweisen, dass ich weder Drogen noch Waffen ins Haus schmuggeln wollte. Den Test bestand ich zwar, rechnete aber trotzdem damit, dass sie mich fortschicken würde, doch ehe ich zu meiner Verteidigung ansetzen konnte, erschien plötzlich Jacob in der Eingangshalle: zusammen mit drei oder vier anderen Insassen war er auf dem Weg zum Mittagessen im Speisesaal. Er wirkte größer als damals, als ich ihn das letzte Mal gesehen hatte, aber mit seiner schwarzen Kleidung, den grünen Haaren und dem ausgemergelten Körper hatte seine Erscheinung etwas Groteskes, er sah eher aus wie ein Clown, wie ein gespenstischer Punchinello, der gleich mit dem «Duke of Death» einen Tanz aufführen würde. Ich rief seinen Namen, und als er sich umdrehte und mich erkannte, schien er schockiert – nicht glücklich oder unglücklich, sondern schlicht schockiert. «Sid», murmelte er, «was machst du denn hier?» Er löste sich aus der Gruppe und bewegte sich langsam auf mich zu, was die Frau hinterm Empfang zu der überflüssigen Frage veranlasste: «Sie kennen diesen Mann?» «Klar», sagte Jacob. «Den kenne ich. Das ist ein Freund meines Vaters.» Diese Erklärung reichte, jetzt ließ sie mich rein. Sie schob mir ein Klemmbrett hin, und nachdem ich meinen Namen in Druckbuchstaben auf den Besucherbogen geschrieben hatte, begleitete ich Jacob durch einen langen Korridor zum Speisesaal.

«Man hat mir nicht gesagt, dass du kommst», sagte er. «Nehme an, der Alte hat dich geschickt, wie?»

«Nicht direkt. Ich war zufällig hier in der Gegend, und da dachte ich, ich schau mal vorbei, wie’s dir so geht.»

Jacob gab nur durch ein Grunzen zu verstehen, wie wenig er mir glaubte. Es war eine durchsichtige Lüge, aber die hatte ich benutzt, um John aus der Debatte herauszuhalten; ich dachte, ich bekäme mehr aus Jacob heraus, wenn ich nicht von seiner Familie anfinge. Wir schwiegen ein wenig, und dann legte er mir unvermutet eine Hand auf die Schulter. «Ich hab gehört, du warst echt krank», sagte er.

«Stimmt. Aber jetzt geht’s mir langsam besser.»

«Die haben gedacht, du stirbst, oder?»

«So hat man’s mir erzählt. Aber ich habe sie reingelegt und bin vor ungefähr vier Monaten wieder rausspaziert.»

«Dann bist du also unsterblich, Sid. Du kratzt erst ab, wenn du hundertzehn bist oder so.»

Der Speisesaal war ein großer, sonniger Raum mit Schiebetüren aus Glas, die in einen kleinen Garten führten, in den einige Insassen mit ihren Angehörigen zum Rauchen und Kaffeetrinken gegangen waren. Das Essen bekam man wie in einer Cafeteria, und nachdem Jacob und ich unsere Tabletts mit Hackbraten, Kartoffelpüree und Salat beladen hatten, sahen wir uns nach einem freien Tisch um. Es waren sicher fünfzig bis sechzig Leute anwesend, und wir mussten ein paar Minuten herumgehen, bis wir einen gefunden hatten. Die Verzögerung schien ihn zu ärgern wie eine persönliche Beleidigung. Als wir uns schließlich setzten und ich mich nach seinem Befinden erkundigte, ließ er, nervös mit dem linken Bein wippend, eine Litanei bitterer Beschwerden vom Stapel.

«Der Laden hier bringt gar nichts», sagte er. «Dauernd treffen wir uns zu Sitzungen und reden über uns selbst. Was für ein langweiliger Scheiß! Als ob ich die blöden Geschichten dieser Versager von ihrer beschissenen Kindheit hören will, und wie sie vom geraden Weg abgekommen und dem Teufel in die Hände gefallen sind.»

«Was tust du, wenn du an die Reihe kommst? Stehst du auf und erzählst was?»

«Das muss ich. Wenn ich nichts sage, zeigen sie mit den Fingern auf mich und nennen mich einen Feigling. Also erfinde ich irgendwas, was sich so anhört wie das Zeug, das alle anderen erzählen, und breche dann in Tränen aus. Ich bin ein ziemlich guter Schauspieler. Ich bin der letzte Dreck, sage ich, und dann breche ich zusammen und kann nicht mehr weiter, und alle sind zufrieden.»

«Warum machst du ihnen was vor? Das ist doch reine Zeitverschwendung.»

«Weil ich nicht süchtig bin, darum. Ich habe ein bisschen mit dem Stoff herumgespielt, aber das Zeug hat für mich keine Bedeutung. Ich bin nicht darauf angewiesen.»

«Das hat mein Mitbewohner im College auch immer gesagt. Und dann ist er eines Nachts an einer Überdosis gestorben.»

«Na, der scheint ja reichlich blöd gewesen zu sein. Ich weiß, was ich tue, ich werde nicht an einer Überdosis sterben. Ich bin nicht süchtig nach dem Zeug. Meine Mutter glaubt das zwar, aber die hat von nichts ’ne Ahnung.»

«Und warum bist du dann hier reingegangen?»

«Weil sie gesagt hat, sie dreht mir den Hahn ab, wenn ich das nicht mache. Deinen Freund, den allmächtigen Sir John, habe ich schon vergrätzt, und ich hab keine Lust, dass Lady Eleanor auf die dumme Idee kommt, mir mein Taschengeld zu sperren.»

«Du könntest dir doch einen Job besorgen.»

«Ja, könnte ich, will ich aber nicht. Ich hab andere Pläne, und ich brauch noch ein bisschen Zeit, die auszuarbeiten.»

«Und da sitzt du einfach hier rum und wartest, dass die achtundzwanzig Tage vorübergehen.»

«Das wäre gar nicht so blöd, wenn die uns nicht die ganze Zeit auf Trab halten würden. Wenn wir uns nicht bei diesen verdammten Sitzungen blicken lassen, drücken sie uns diese grässlichen Bücher aufs Auge. So einen Mist hast du in deinem ganzen Leben noch nicht gelesen.»

«Was sind das für Bücher?»

«Das Handbuch der Anonymen Alkoholiker, das Zwölf-Stufen-Programm und dieser ganze Scheiß.»

«Das mag ja Scheiß sein, aber immerhin hat es sehr vielen Leuten geholfen.»

«Das ist doch bloß was für Idioten, Sid. Dieser ganze Mist von wegen Vertrauen auf den Allmächtigen. Religion in Babysprache. Gebt euch dem Allmächtigen hin, und ihr werdet erlöst. Man muss schon schwachsinnig sein, um diesen Quatsch zu schlucken. Es gibt keinen Allmächtigen. Sieh dir die Welt an und sag mir, wo er ist. Ich sehe ihn nicht. Ich sehe nur dich und mich und alle anderen. Einen Haufen erbärmlicher Wichte, die sich irgendwie durchs Leben schlagen.»

Wir saßen erst wenige Minuten zusammen, und schon war ich vollkommen erschöpft und ausgelaugt von Jacobs seichtem, zynischem Gerede. Ich wollte bloß noch weg, und zwar so schnell wie möglich, und nur aus Höflichkeit beschloss ich, noch bis zum Ende der Mahlzeit zu warten. Trauses bleicher und abgemagerter Sohn hatte offenbar keinen großen Appetit auf die Klinikküche. Er stocherte eine Weile in seinem Kartoffelpüree herum, probierte einen Bissen von dem Hackbraten und legte die Gabel weg. Dann erhob er sich von seinem Stuhl und fragte, ob ich Nachtisch wolle. Ich schüttelte den Kopf, und er ging noch einmal zur Essensausgabe. Kurz darauf kam er mit zwei Bechern Schokoladenpudding zurück, die er vor sich hinstellte und einen nach dem anderen auslöffelte; Süßes sagte ihm eindeutig mehr zu als der Hauptgang. Zucker war der einzige verfügbare Drogenersatz in diesem Haus, und er verschlang den Pudding mit dem Behagen eines Kleinkinds und kratzte die Becher sorgfältig aus. Irgendwann zwischen der ersten und zweiten Portion kam ein Mann an den Tisch und grüßte ihn. Er mochte Mitte dreißig sein, hatte ein grobes, pockennarbiges Gesicht und trug die Haare zu einem kurzen Pferdeschwanz gebunden. Jacob stellte ihn mir als Freddy vor, und mit dem Eifer und Ernst eines alten Entzugsveteranen reichte mir Freddy die Hand und sagte, es sei ihm ein Vergnügen, einen Freund von Jacob kennen zu lernen.

«Sid ist ein berühmter Schriftsteller», erklärte Jacob aus dem Nichts heraus. «Er hat ungefähr fünfzig Bücher geschrieben.»

«Hören Sie nicht auf ihn», sagte ich zu Freddy. «Er übertreibt gern.»

«Ja, ich weiß», antwortete Freddy. «Der Knabe ist ein ganz schöner Radaubruder. Den muss man scharf im Auge behalten. Stimmt’s, Junge?»

Jacob starrte die Tischplatte an, und Freddy gab ihm einen Klaps auf den Hinterkopf und schritt davon. Als Jacob sich über den zweiten Schokoladenpudding hermachte, teilte er mir mit, Freddy sei sein Gruppenleiter und alles in allem gar kein so schlechter Kerl.

«Früher hat er von Diebstählen gelebt», sagte er. «Ein professioneller Ladendieb. Seine Masche war ziemlich clever, man hat ihn nie erwischt. Statt, wie die meisten das machen, mit einem weiten Mantel durch die Läden zu ziehen, hat er sich als Priester verkleidet. Da hat natürlich kein Mensch Verdacht geschöpft. Pastor Freddy, der Mann Gottes. Einmal ist er allerdings schwer in die Klemme geraten. Da war er irgendwo in Manhattan und wollte grade einen Drugstore ausrauben, als sich direkt vor seiner Nase ein Verkehrsunfall ereignete. Ein Mann, der über die Straße will, wird von einem Auto angefahren. Ein anderer schleift ihn auf den Bürgersteig, genau vor Freddys Füße. Alles ist voller Blut, der Mann ist bewusstlos, und es sieht aus, als würde er sterben. Gaffer drängen sich herum, und plötzlich entdeckt eine Frau Freddy in seinem Priesterkostüm und fordert ihn auf, dem Mann die Letzte Ölung zu geben. Pastor Freddy hat ausgeschissen. Er kennt diese ganzen Gebete ja nicht, aber wenn er jetzt wegrennt, wissen sie, dass er ein Betrüger ist und verhaften ihn, weil er sich als Priester ausgibt. Also beugt er sich über den Verletzten, faltet die Hände, damit es aussieht, als ob er betet, und murmelt irgendeinen feierlichen Blödsinn, den er mal im Kino gehört hat. Dann steht er auf, macht das Kreuzzeichen und haut ab. Lustig, was?»

«Hört sich an, als ob du bei diesen Sitzungen ordentlich was zu lernen bekommst.»

«Das war ja noch gar nichts. Ich meine, Freddy war doch bloß ein Junkie, der Geld für seinen Stoff gebraucht hat. Von den anderen hier haben viele echt abgedrehten Scheiß gebaut. Siehst du den Schwarzen da am Ecktisch, den großen in dem blauen Sweatshirt? Jerome. Ein Mörder, hat zwölf Jahre in Attica gesessen. Und am Tisch daneben die Blonde mit ihrer Mutter? Sally. In der Park Avenue aufgewachsen, stammt aus einer der reichsten Familien in New York. Gestern hat sie uns erzählt, wie sie auf der Tenth Avenue am Lincoln Tunnel auf den Strich gegangen ist, hat die Freier für zwanzig Dollar im Auto bedient. Und der Hispano da ganz hinten, der in dem gelben Hemd? Alfonso. War im Knast, weil er seine zehnjährige Tochter vergewaltigt hat. Ich sag’s dir, Sid, verglichen mit den meisten hier bin ich bloß ein netter Spießer.»

Der Pudding hatte ihm anscheinend neue Kräfte verliehen, und als wir unsere schmutzigen Tabletts in die Küche trugen, ging er mit federnden Schritten und nicht mehr wie der schlurfende Schlafwandler, den ich vor dem Lunch in der Eingangshalle gesehen hatte. Insgesamt war ich etwa dreißig bis fünfunddreißig Minuten mit ihm zusammen – das schien mir, was meine Pflicht gegenüber John betraf, lange genug zu sein. Als wir den Speisesaal verließen, fragte mich Jacob, ob ich noch mit nach oben gehen und mir sein Zimmer ansehen wolle. Um halb zwei finde eine große Gruppensitzung statt, sagte er, daran dürften auch Familienangehörige und Gäste teilnehmen. Wenn ich Lust habe, könne ich gern mitkommen, und bis dahin könnten wir in seinem Zimmer im dritten Stock herumhängen. Es hatte etwas Klägliches, wie er sich an mich klammerte, wie schwer es ihm offenbar fiel, mich ziehen zu lassen. Genau genommen kannten wir uns ja kaum, und doch muss er in diesem Haus so einsam gewesen sein, dass er sogar in mir einen Freund sah – dabei wusste er genau, dass ich als Spion im Auftrag seines Vaters gekommen war. Ich versuchte so etwas wie Mitleid für ihn aufzubringen, aber es gelang mir nicht. Er war der Mensch, der meiner Frau ins Gesicht gespuckt hatte, und obwohl das nun sechs Jahre her war, konnte ich mich nicht dazu durchringen, ihm das zu verzeihen. Ich sah auf die Uhr und sagte, ich habe in zehn Minuten eine Verabredung an der Second Avenue. In seinen Augen flackerte Enttäuschung auf, aber er fing sich sofort wieder und machte seine übliche gleichgültige Miene. «Was soll’s, Mann», sagte er. «Wenn du gehen musst, dann gehst du eben.»

«Wenn ich kann, komme ich nächste Woche wieder», sagte ich, obwohl ich nichts dergleichen im Sinn hatte.

«Wie du willst, Sid. Das ist deine Sache.»

Er klopfte mir herablassend auf die Schulter, und bevor ich ihm zum Abschied die Hand geben konnte, wandte er sich ab und schritt auf die Treppe zu. Ich blieb noch kurz in der Halle stehen, um zu sehen, ob er sich noch einmal nach mir umdrehen würde, aber das tat er nicht. Er stieg einfach weiter die Treppe hinauf, und als er um die Biegung verschwunden war, ging ich zu der Frau am Empfang und meldete mich ab.