Um Punkt eins stand ich vor Trauses Wohnung. Als ich klingelte, fiel mir ein, dass ich von unterwegs etwas zu essen für uns beide hätte mitbringen können; aber ich hatte Madame Dumas vergessen, die Frau aus Martinique, die sich um den Haushalt kümmerte. Die Mahlzeit war bereits fertig und wurde uns in Johns Arbeitszimmer in der zweiten Etage serviert, wo wir auch schon am Samstagabend unser chinesisches Essen zu uns genommen hatten. Ich sollte darauf hinweisen, dass Madame Dumas an diesem Tag frei hatte. Es war ihre Tochter Régine, die mir öffnete und mich zu Monsieur John nach oben führte. Ich erinnerte mich, dass Trause gesagt hatte, sie sei «hübsch anzusehen», und als ich sie nun mit eigenen Augen sah, musste ich zugeben, dass auch ich sie bemerkenswert attraktiv fand – eine große, gut gebaute junge Frau mit glänzend schwarzer Haut und lebhaften, wachsamen Augen. Kein G-String natürlich, keine bloßen Brüste oder weißen Lederstiefel, aber das war nun die zweite Französisch sprechende, zwanzigjährige Schwarze, die mir innerhalb von zwei Tagen über den Weg gelaufen war, und ich fand diese Wiederholung unangenehm, nahezu unerträglich. Warum konnte Régine Dumas kein pummeliges, unscheinbares Mädchen sein, mit schlechtem Teint und Buckel? Sie mochte keine so atemberaubende Schönheit wie Martine aus Haiti sein, war aber auch so entzückend genug, und als sie mir öffnete und mich auf ihre freundliche, selbstbewusste Art anlächelte, kam mir das vor wie eine Rüge, eine spöttische Reaktion meines geplagten Gewissens. Ich hatte mich nach Kräften bemüht, nicht an das zu denken, was am Tag zuvor geschehen war, meinen kläglichen Ausrutscher zu vergessen und hinter mir zu lassen, aber es gab kein Entrinnen vor dem, was ich getan hatte. Martine war mir in Gestalt von Régine Dumas wieder erschienen. Sie war jetzt überall, sogar in der Wohnung meines Freundes in der Barrow Street, eine halbe Welt entfernt von dem schäbigen Betonbau in Queens.
Im Gegensatz zu seiner ungepflegten Erscheinung am Samstagabend machte John diesmal einen anständigen Eindruck. Er war gekämmt und rasiert, er trug ein frisches Hemd und saubere Socken. Aber er lag noch immer unbeweglich auf dem Sofa, das linke Bein auf einem Berg von Kissen und Decken, und er schien beträchtliche Schmerzen zu haben – so schlimm wie beim letzten Mal, wenn nicht schlimmer. Sein glatt rasiertes Gesicht hatte mich getäuscht. Als Régine das Tablett mit dem Essen nach oben brachte (Truthahnsandwichs, Salat, Mineralwasser), gab ich mir alle Mühe, sie nicht anzusehen. Ich richtete also meine ganze Aufmerksamkeit auf John, und als ich seine Züge noch sorgfältiger betrachtete, bemerkte ich, wie erschöpft er aussah: seine tief in die Höhlen eingesunkenen Augen, seine beunruhigend blasse Haut. Zweimal stand er während meines Besuchs vom Sofa auf, und beide Male konnte er sich nur mit Hilfe seiner Krücke in die Senkrechte bringen. Das Gesicht, das er zog, sobald er mit dem linken Fuß den Boden berührte, ließ deutlich erkennen, dass ihm schon der leiseste Druck auf die Vene unerträgliche Schmerzen bereitete.
Ich fragte ihn, wann es denn besser werden sollte, aber John wollte nicht davon sprechen. Als ich jedoch weiter in ihn drang, gab er schließlich zu, dass er uns am Samstagabend nicht alles erzählt hatte. Er habe Grace nicht beunruhigen wollen, sagte er, aber die Wahrheit sei, dass er nicht ein, sondern zwei Blutgerinnsel im Bein habe. Eins in einer Vene an der Oberfläche; das habe sich inzwischen praktisch aufgelöst und stelle keine Bedrohung dar, auch wenn es der Hauptgrund für seine «Beschwerden» sei, wie John das nannte. Das zweite befinde sich in einer tiefer gelegenen Vene, und dieses sei es, was dem Arzt Sorgen mache. John müsse massive Dosen eines Blutverdünnungsmittels schlucken, und am Freitag habe er im Saint Vincent’s einen Termin für eine Tomographie. Wenn das Ergebnis nicht zufrieden stellend ausfalle, wolle der Arzt ihn ins Krankenhaus einweisen und so lange dort behalten, bis das Gerinnsel verschwunden sei. Eine tiefe Venenthrombose könne tödlich sein, sagte John. Wenn das Gerinnsel sich in Bewegung setze, könne es durch den Kreislauf in seine Lunge gelangen, und dies wiederum führe zu einer Lungenembolie und nahezu sicher zum Tod. «Das ist, als ob man mit einer kleinen Bombe im Bein herumläuft», sagte er. «Wenn ich sie zu heftig bewege, könnte sie mich in die Luft sprengen.» Dann fügte er hinzu: «Kein Wort zu Gracie. Das bleibt unter uns. Verstanden? Kein Sterbenswörtchen.»
Wenig später kamen wir auf seinen Sohn zu sprechen. Ich weiß nicht mehr, was uns in diesen Abgrund von Verzweiflung und Selbstvorwürfen geführt hat, aber es war nicht zu übersehen, wie sehr ihn dieses Thema quälte, und die Sorgen, die er sich wegen seines Beines machen mochte, waren nichts im Vergleich zu dem tiefen Kummer, den ihm Jacob machte. «Ich habe ihn verloren», sagte er. «Nach der Nummer, die er jetzt abgezogen hat, kann ich ihm niemals mehr ein Wort glauben.»
Bis zur aktuellen Krise hatte Jacob an der SUNY Buffalo studiert. John war mit mehreren Mitgliedern der dortigen Anglistischen Fakultät bekannt (einer von ihnen, Charles Rothstein, hatte eine ausführliche Monographie über seine Romane veröffentlicht), und nach Jacobs katastrophalem, beinahe gescheiterten Highschool-Abschluss hatte er einige Fäden gezogen, um dem Jungen dort Aufnahme zu verschaffen. Das erste Semester war halbwegs gut gelaufen, Jacob hatte alle Kurse bestanden, doch am Ende des zweiten Semesters hatten seine Noten sich so sehr verschlechtert, dass er nur noch unter Auflagen weiterstudieren durfte. Er musste, um nicht von der Uni verwiesen zu werden, einen B-Durchschnitt erzielen, aber im Herbstsemester seines zweiten Studienjahrs schwänzte er mehr Stunden, als er besuchte, arbeitete wenig oder gar nicht und wurde zum nächsten Semester ohne viel Federlesens rausgeschmissen. Er ging zu seiner Mutter nach East Hampton, wo sie mit ihrem dritten Ehemann lebte (im selben Haus, in dem Jacob bei seinem verhassten Großvater aufgewachsen war, einem Kunsthändler namens Ralph Singleton), und fand einen Teilzeitjob in einer Bäckerei. Nebenher gründete er mit drei Freunden von der Highschool eine Rockband, die aber, da es ständig zu Spannungen und Streitigkeiten kam, nach sechs Monaten wieder auseinander ging. Er erzählte seinem Vater, mit dem College könne er nichts anfangen, er wolle nicht dorthin zurück, aber John brachte es fertig, ihn doch wieder dazu zu überreden, indem er ihm gewisse finanzielle Anreize in Aussicht stellte: ein reichliches Taschengeld, eine neue Gitarre, wenn er im ersten Semester gute Noten erzielte, einen VW-Bus, wenn er das Jahr mit Notendurchschnitt B abschloss. Der Junge ging darauf ein, und Ende August war er wieder in Buffalo und konnte den Studenten spielen – die Haare grün gefärbt, Sicherheitsnadeln im linken Ohr, in einen langen schwarzen Mantel gehüllt. Damals war Punk die große Mode, und Jacob hatte sich dem stetig wachsenden Club zähnefletschender Aussteiger angeschlossen. Er war hip, er lebte gefährlich, und er ließ sich von keinem was vormachen.
Jacob habe sich für das Semester eingeschrieben, erzählte John, aber eine Woche später sei er, ohne auch nur eine einzige Vorlesung besucht zu haben, im Sekretariat aufgetaucht und habe sich wieder abgemeldet. Die Studiengebühr sei ihm erstattet worden, und statt den Scheck an seinen Vater zu schicken (von dem er das Geld ja ursprünglich hatte), habe er ihn bei der nächsten Bank eingelöst, sich die dreitausend Dollar in die Tasche geschoben und sei nach New York gefahren. Nach den letzten Nachrichten lebe er irgendwo im East Village. Wenn die Gerüchte über ihn zuträfen, sei er schwer heroinsüchtig – und zwar seit vier Monaten.
«Von wem hast du das?», fragte ich. «Wie willst du wissen, ob das stimmt?»
«Gestern früh hat mich Eleanor angerufen. Sie hatte versucht, wegen irgendeiner Sache mit Jacob zu sprechen, und sein Mitbewohner ist ans Telefon gegangen. Ehemaliger Mitbewohner, sollte ich sagen. Er hat ihr erzählt, Jacob sei vor zwei Wochen von der Schule abgegangen.»
«Und das mit dem Heroin?»
«Davon hat er ihr auch erzählt. Er hat keinen Grund, über so etwas Lügen zu verbreiten. Eleanor zufolge hat er sich sehr besorgt angehört. Es ist ja nicht so, dass mich das überrascht, Sid. Ich hatte schon immer den Verdacht, dass er Drogen nimmt. Ich habe nur nicht gewusst, dass es so schlimm ist.»
«Und was willst du jetzt unternehmen?»
«Keine Ahnung. Du hast doch früher mit Jugendlichen gearbeitet. Was würdest du tun?»
«Da fragst du den Falschen. Alle meine Schüler waren arm. Schwarze Teenager aus verkommenen Wohngegenden und kaputten Familien. Viele von ihnen haben Drogen genommen, aber ihre Probleme haben nichts mit denen von Jacob zu tun.»
«Eleanor meint, wir sollten nach ihm suchen. Aber ich kann mich nicht bewegen. Das Bein fesselt mich ans Sofa.»
«Wenn du willst, mach ich es. Ich hab zur Zeit nicht allzu viel zu tun.»
«Nein, nein, ich will dich da nicht reinziehen. Das ist nicht dein Problem. Eleanor und ihr Mann werden sich darum kümmern. Jedenfalls hat sie das gesagt. Bei ihr weiß man nie, ob sie etwas ernst meint oder nicht.»
«Was ist denn ihr neuer Mann für einer?»
«Keine Ahnung. Habe ihn nie gesehen. Das ist schon verrückt, ich kann mich nicht mal an seinen Namen erinnern. Ich liege hier herum und versuche draufzukommen, aber es gelingt mir einfach nicht. Der Vorname ist Don, glaube ich, aber ich weiß es nicht genau.»
«Und was soll geschehen, wenn sie Jacob gefunden haben?»
«Er soll eine Entziehungskur machen.»
«So was ist nicht billig. Wer soll das finanzieren?»
«Ich natürlich. Eleanor schwimmt in Geld, aber sie ist so ungeheuer geizig, die würde ich niemals danach fragen. Erst luchst der Junge mir dreitausend Dollar ab, und jetzt muss ich schon wieder was ausspucken, damit er clean wird. Wenn du die Wahrheit wissen willst: Ich könnte ihm den Hals umdrehen. Du kannst von Glück sagen, dass du keine Kinder hast, Sid. Wenn sie klein sind, sind sie wunderbar, aber später brechen sie einem das Herz, und du bist nur noch unglücklich. Ein Meter fünfzig, danach ist Schluss. Es müsste verboten sein, dass sie noch größer werden.»
Nach Johns letzter Bemerkung konnte ich mich nicht mehr zurückhalten, ihm meine Neuigkeit zu erzählen. «Kann sein, dass ich nicht mehr lange kinderlos bin», sagte ich. «Wir wissen noch nicht genau, was wir machen sollen, aber fürs Erste ist Grace jedenfalls schwanger. Das Testergebnis hatte sie schon am Samstag.»
Ich konnte nicht wissen, wie John darauf reagieren würde, aber selbst nach seinen bitteren Äußerungen über die Qualen der Vaterschaft nahm ich an, er werde mir in irgendeiner Form, wenn auch noch so mechanisch, dazu gratulieren. Oder mir wenigstens alles Gute wünschen und mich ermahnen, es besser zu machen als er. Irgendetwas musste er schließlich sagen. Aber John blieb stumm. Zuerst wirkte er betroffen, als habe er soeben vom Tod eines ihm sehr nahe stehenden Menschen erfahren, dann wandte er sich von mir ab, drehte plötzlich den Kopf auf dem Kissen zur Seite und starrte die Sofalehne an.
«Die arme Grace», sagte er.
«Warum sagst du das?»
John drehte sich langsam wieder um, unterbrach aber diese Bewegung, als sein Profil parallel zum Kissen lag, und als er dann sprach, hielt er den Blick an die Decke gerichtet. «Ich muss nur daran denken, was sie alles durchgemacht hat», sagte er. «Sie ist nicht so stark, wie du denkst. Sie muss sich mal ausruhen.»
«Sie wird genau das tun, was sie will. Die Entscheidung liegt allein bei ihr.»
«Ich kenne sie viel länger als du. Ein Kind ist das Letzte, was sie jetzt brauchen kann.»
«Falls sie sich für das Kind entscheidet, hatte ich eigentlich vor, dich zu fragen, ob du Pate stehen willst. Aber wenn ich dich so höre, nehme ich an, du bist nicht interessiert.»
«Du darfst sie nicht verlieren, Sidney. Das ist alles, was ich dazu sagen kann. Wenn eure Beziehung zerbricht – das wäre für sie eine Katastrophe.»
«Unsere Beziehung zerbricht aber nicht. Und ich werde sie nicht verlieren. Aber selbst wenn – was geht dich das an?»
«Grace geht mich etwas an. Sie ging mich immer etwas an.»
«Du bist nicht ihr Vater. Mag sein, dass du dich manchmal dafür hältst, aber du bist es nicht. Grace kommt gut allein zurecht. Wenn sie sich für das Kind entscheidet, werde ich sie nicht davon abhalten. Im Gegenteil, ich würde mich darüber freuen. Ein Kind mit ihr zu haben, das wäre so ziemlich das Beste, was mir jemals passieren könnte.»
Noch nie waren John und ich so kurz davor gewesen, uns ernsthaft zu streiten. Es war ein beklemmender Augenblick, und während meine letzten Worte herausfordernd in der Luft hingen, fragte ich mich, ob das Gespräch womöglich eine noch hässlichere Wendung nehmen würde. Zum Glück aber brachen wir beide ab, ehe die Sache weiter eskalieren konnte, denn wir spürten, wir waren drauf und dran, einander zu Äußerungen zu verleiten, die wir hinterher bedauern würden – und die sich nie mehr aus dem Gedächtnis würden löschen lassen, ganz gleich wie sehr wir uns dafür entschuldigen würden, wenn wir uns erst wieder abgekühlt hätten.
Sehr klug wählte John diesen Moment, um das Bad aufzusuchen. Als ich sah, wie mühsam er sich vom Sofa wälzte und dann durchs Zimmer humpelte, war meine feindselige Stimmung mit einem Schlag verflogen. Er lebte unter extremen Einschränkungen. Das Bein brachte ihn um, die furchtbaren Nachrichten von seinem Sohn machten ihm zu schaffen: Wie konnte ich ihm da ein paar harte Worte übel nehmen? Jacob hatte ihn hintergangen und war womöglich drogensüchtig, und verglichen damit war Grace das innig geliebte gute Kind, das ihn noch nie enttäuscht hatte, und vielleicht war das der Grund, warum John sie so resolut verteidigt und sich in Dinge eingemischt hatte, die ihn im Grunde nichts angingen. Er war wütend auf seinen Sohn, ja, aber diese Wut war auch mit einer ordentlichen Portion Schuldgefühlen untermischt. John wusste, er hatte seine Pflichten als Vater mehr oder weniger über Bord geworfen. Von Eleanor geschieden, als Jacob anderthalb Jahre alt war, hatte er zugelassen, dass sie das Kind aus New York mitnahm, als sie 1966 mit ihrem zweiten Mann nach East Hampton zog. Danach hatte John den Jungen nur noch selten gesehen: gelegentlich ein gemeinsames Wochenende in der Stadt, in den Sommerferien ein paar Ausflüge nach New England und in den Südwesten. Kaum das, was man eine aktive Vaterrolle nennen könnte, und dann, nach Tinas Tod, verschwand er für vier Jahre praktisch ganz aus Jacobs Leben und sah ihn zwischen seinem zwölften und sechzehnten Lebensjahr nur ein- oder zweimal. Jetzt, mit zwanzig, war sein Sohn vollkommen aus der Bahn geraten, und ob John dafür verantwortlich war oder nicht, er gab sich die Schuld an dieser Katastrophe.
Er blieb zehn, fünfzehn Minuten lang weg. Als er zurückkam, half ich ihm wieder aufs Sofa, und das Erste, was er dann sagte, hatte nichts zu tun mit dem, worüber wir zuvor gesprochen hatten. Der Konflikt schien beigelegt – abgetan auf seinem Gang durch den Flur und anscheinend vergessen.
«Was macht Flitcraft?», fragte er. «Irgendwelche Fortschritte?»
«Ja und nein», sagte ich. «Ein paar Tage lang habe ich geschrieben wie ein Wilder, und dann bin ich stecken geblieben.»
«Und jetzt hast du so deine Zweifel wegen des blauen Notizbuchs.»
«Möglich. Ich bin mir nicht sicher, ob ich noch weiß, was ich denke.»
«Du warst neulich so aufgedreht, hast dich angehört wie ein wahnsinniger Alchimist. Als sei es dir gelungen, Blei zu Gold zu machen.»
«Na ja, das war schon ziemlich erstaunlich. Grace sagt, als ich das erste Mal mit dem Notizbuch gearbeitet habe, sei ich nicht mehr da gewesen.»
«Wie meinst du das?»
«Dass ich verschwunden war. Ich weiß, das klingt absurd, aber als ich am Schreibtisch saß, hat sie angeklopft, und als sie nichts von mir hörte, hat sie kurz mal hineingeschaut. Sie schwört, dass sie mich nicht gesehen hat.»
«Dann musst du irgendwo anders in der Wohnung gewesen sein. Vielleicht im Bad.»
«Ich weiß. Das sagt Grace auch. Aber ich kann mich nicht erinnern, dass ich ins Bad gegangen bin. Ich erinnere mich nur daran, dass ich am Schreibtisch gesessen und geschrieben habe.»
«Mag sein, dass du dich nicht erinnerst, aber das bedeutet nicht, dass es nicht so war. Wenn man ins Schreiben vertieft ist, ist man schon mal etwas geistesabwesend. Stimmt doch?»
«Sicher. Natürlich stimmt das. Aber am Montag ist so was Ähnliches noch einmal passiert. Ich habe in meinem Zimmer am Schreibtisch gesessen, und ich habe das Telefon nicht läuten hören. Als ich dann einmal in die Küche ging, waren zwei Nachrichten auf dem Anrufbeantworter.»
«Und?»
«Ich habe kein Klingeln gehört. Und ich höre immer, wenn das Telefon klingelt.»
«Du warst zerstreut, ins Schreiben vertieft.»
«Mag sein. Aber das glaube ich nicht. Da ist etwas Seltsames passiert, und ich kapiere das nicht.»
«Ruf deinen Arzt an, Sid, mach einen Termin und lass deinen Kopf untersuchen.»
«Ich weiß, das spielt sich alles in meinem Kopf ab. Ich behaupte nicht, dass es nicht so ist, aber seit ich dieses Notizbuch gekauft habe, ist alles durcheinander geraten. Ich kann nicht sagen, ob ich es bin, der das Notizbuch benutzt, oder ob das Notizbuch mich benutzt. Klingt das irgendwie nachvollziehbar?»
«Ein bisschen. Aber nicht besonders.»
«Na schön, lass es mich anders versuchen. Hast du schon mal von Sylvia Maxwell gehört? Eine amerikanische Schriftstellerin aus den zwanziger Jahren.»
«Ich kenne ein paar Bücher von Sylvia Monroe. Hat in den zwanziger und dreißiger Jahren einen Haufen Romane veröffentlicht. Aber Maxwell? Nein.»
«Gibt es von der ein Buch mit dem Titel Nacht des Orakels?»
«Nein, nicht dass ich wüsste. Aber ich glaube, es gibt was von ihr mit Nacht im Titel. Nacht in Havanna vielleicht. Oder Nacht in London, ich weiß nicht mehr. Dürfte nicht schwer zu ermitteln sein. Am besten gehst du in die Bücherei und siehst nach.»
Allmählich kamen wir von dem blauen Notizbuch ab und begannen von eher praktischen Dingen zu reden. Zum Beispiel sprachen wir über Geld und über meine Hoffnung, meine finanziellen Probleme mit diesem Drehbuch für Bobby Hunter beheben zu können. Ich erzählte John von dem Treatment und gab ihm einen kurzen Überblick über die Handlung, die ich mir für Die Zeitmaschine ausgedacht hatte, aber er reagierte kaum darauf. Raffiniert, sagte er, oder ein ähnlich laues Kompliment, und plötzlich kam ich mir dumm vor und wurde verlegen, als sähe Trause in mir einen billigen Lohnschreiber, der sein Zeug an den Meistbietenden verhökert. Aber meine Deutung seiner gedämpften Reaktion als Missbilligung war falsch. Er wusste, wie schlecht es uns finanziell ging, und wie sich bald herausstellte, dachte er bereits über einen Plan nach, wie er mir helfen könnte.
«Ich weiß, das klingt idiotisch», sagte ich, «aber wenn denen die Idee gefällt, sind wir unsere Schulden los. Wenn nicht, dann eben nicht. Ich lasse mich verdammt ungern auf so armselige Projekte ein, aber das ist nun mal das Einzige, was ich zur Zeit im Ärmel habe.»
«Wer weiß», sagte John. «Wenn aus der Sache mit der Zeitmaschine nichts wird, könntest du vielleicht ein anderes Drehbuch schreiben. Das kannst du gut. Wenn du Mary dazu bringst, sich mal richtig anzustrengen, findest du garantiert jemanden, der dir einen hübschen Batzen Geld bezahlt.»
«So läuft das nicht. Die kommen zu einem; man geht nicht zu ihnen hin. Es sei denn, natürlich, man hat eine originelle Idee. Aber ich habe keine.»
«Davon rede ich doch. Vielleicht habe ich eine Idee für dich.»
«Eine Idee für einen Film? Ich dachte, du hast was dagegen, für die Filmindustrie zu arbeiten.»
«Vor ein paar Wochen habe ich eine Schachtel mit ein paar alten Sachen von mir gefunden. Frühe Erzählungen, ein halb fertiger Roman, zwei oder drei Schauspiele. Uraltes Zeug, das ich als Teenager und Twen geschrieben habe. Nichts davon ist je gedruckt worden. Gott sei Dank, sollte ich sagen. Aber beim Durchlesen der Erzählungen fand ich dann eine, die gar nicht mal so entsetzlich schlecht war. Ich würde sie immer noch nicht veröffentlichen, aber wenn ich sie dir überlasse, könntest du vielleicht einen Film draus machen. Vielleicht würde mein Name dabei helfen. Wenn du einem Filmproduzenten erzählst, dass du eine unveröffentlichte Erzählung von John Trause bearbeitest, springt er vielleicht darauf an. Oder auch nicht. Aber selbst wenn mein Name keinen interessiert – die Geschichte hat was sehr Visuelles. Ich denke, die Bilder würden sich ziemlich natürlich im Film umsetzen lassen.»
«Dein Name würde natürlich helfen. Das würde sehr viel ausmachen.»
«Na ja, lies die Geschichte und sag mir dann, was du davon hältst. Es ist nur ein erster Entwurf – eine grobe Skizze –, also beurteile die Prosa nicht allzu hart. Und vergiss nicht, ich war praktisch noch ein Kind, als ich das geschrieben habe. Viel jünger, als du jetzt bist.»
«Wovon handelt die Geschichte?»
«Das ist ein kurioses Stück, ganz anders als meine anderen Sachen, und das könnte dich zunächst etwas überraschen. Ich würde es eine politische Parabel nennen. Es spielt um 1830 in einem imaginären Land, tatsächlich aber geht es um die frühen fünfziger Jahre unseres Jahrhunderts. McCarthy, die Anhörungen, die Kommunistenpanik – die ganzen finsteren Dinge, die damals gelaufen sind. Regierungen brauchen immer Feinde, auch wenn sie sich nicht im Krieg befinden. Hat man keinen realen Feind, erfindet man einen und streut entsprechende Gerüchte. Das versetzt die Bevölkerung in Angst, und wenn die Leute Angst haben, tanzen sie nicht aus der Reihe.»
«Und in was für einem Land spielt das? Ist das ein Ersatz-Amerika oder was anderes?»
«Nein, es ist teils Nordamerika, teils Südamerika, aber mit jeweils völlig anderer Geschichte. Vor langer Zeit hatten alle europäischen Mächte in der Neuen Welt Kolonien gegründet. Die Kolonien entwickelten sich zu unabhängigen Staaten, und ganz allmählich, nach einigen hundert Jahren voller Kriege und Scharmützel, verschmelzen sie zu einer riesigen Konföderation. Die Frage ist: Was passiert, wenn ein solches Reich einmal da ist? Was für einen Feind erfindet man, um den Leuten so viel Angst zu machen, dass die Konföderation nicht auseinander bricht?»
«Und wie lautet die Antwort?»
«Man tut so, als drohe eine Invasion von Barbaren. Die Konföderation hat diese Leute schon von ihrem Land vertrieben, aber jetzt verbreitet man das Gerücht, eine Armee antikonföderativer Soldaten sei in die Territorien der Urvölker eingedrungen und stifte die Leute dort zum Aufruhr an. Das stimmt aber nicht. Die Soldaten arbeiten für die Regierung. Sie sind Teil der Verschwörung.»
«Wer erzählt die Geschichte?»
«Ein Mann, der den Gerüchten nachgehen soll. Er arbeitet für ein Amt der Regierung, das von dem Komplott nichts weiß, und am Ende wird er verhaftet und wegen Verrats vor Gericht gestellt. Die Angelegenheit wird noch dadurch kompliziert, dass der leitende Offizier der falschen Armee mit der Frau des Erzählers, seines besten Freundes, durchgebrannt ist.»
«Betrug und Schlechtigkeit, wohin das Auge blickt.»
«Du sagst es. Ein Mann, der von seiner Unschuld kaputtgemacht wird.»
«Und der Titel?»
«Das Reich der Knochen. Es ist nicht sehr lang. Fünfundvierzig, fünfzig Seiten – aber auf jeden Fall genug, um einen Film draus zu machen, möchte ich meinen. Du entscheidest. Wenn du es verwenden willst: meinen Segen hast du. Wenn es dir nicht gefällt, schmeiß es in den Müll, und wir vergessen die Sache.»