Ich nahm meine Morgentabletten, ging ins Schlafzimmer zurück und schlief bis in den Nachmittag hinein. Ich hatte für den Tag nichts vor, der einzige Punkt auf meiner Tagesordnung war, die Zeit, bis Grace wieder nach Hause kam, so ruhig wie möglich zuzubringen. Sie hatte mir versprochen, unser Gespräch am Abend fortzusetzen, und wenn versprochen wirklich versprochen war, hatte ich die Absicht, sie beim Wort zu nehmen und alles zu tun, um die Wahrheit aus ihr herauszulocken. Ich war nicht sonderlich optimistisch, aber ob mir das nun gelänge oder nicht, weiterkommen würde ich jedenfalls nur, wenn ich mir richtig Mühe gab.

Der Himmel war an diesem Nachmittag hell und klar, aber die Temperatur war auf wenige Grad über null gesunken, und zum ersten Mal seit dem fraglichen Tag spürte ich einen Hauch von Winter in der Luft, einen Vorgeschmack auf das, was bald kommen würde. Wieder einmal war ich aus dem gewohnten Schlafrhythmus gerissen worden und fühlte mich schlechter als gewöhnlich – ich bewegte mich unsicher, bekam nur schwer Luft, geriet bei jedem Schritt bedenklich ins Schwanken. Es war, als sei ich in ein früheres Stadium meiner Genesung zurückgefallen, zurück in die Epoche kreisender Farben und gebrochener, unsteter Wahrnehmungen. Ich fühlte mich extrem verwundbar, schon die Luft als solche kam mir wie eine Bedrohung vor, als könnte ein unerwarteter Windstoß einfach durch mich hindurchblasen und meinen Körper in Trümmern zu Boden werfen.

Ich kaufte in einem Haushaltswarengeschäft in der Court Street einen neuen Toaster, und diese schlichte Transaktion zehrte nahezu alle meine körperlichen Reserven auf. Als ich einen ausgesucht hatte, den wir uns leisten konnten, und das Geld aus der Brieftasche genommen und der Frau an der Kasse gegeben hatte, begann ich zu zittern und war kurz davor, in Tränen auszubrechen. Sie fragte, ob etwas nicht stimme. Ich sagte nein, aber meine Antwort klang offenbar nicht sehr überzeugend, denn Sekunden später fragte sie, ob ich mich setzen und ein Glas Wasser trinken wolle. Sie war ziemlich dick, Anfang sechzig, und hatte den schwachen Schatten eines Schnurrbarts auf der Oberlippe, und es war ein kleiner Laden, den sie führte, düster und staubig, ein heruntergekommener Familienbetrieb mit nur noch halb gefüllten Regalen. So großzügig ihr Angebot war, ich wollte dort keine Minute mehr bleiben. Ich dankte ihr und machte mich auf, taumelte zum Ausgang und lehnte mich dann an die Tür, um sie mit der Schulter aufzustoßen. Danach stand ich eine Weile auf dem Bürgersteig, sog in tiefen Zügen die eisige Luft ein und wartete, dass der Anfall vorüberging. Und dabei wurde mir klar, ich musste ausgesehen haben, als sei ich am Rand einer Ohnmacht.

Zwei Häuser weiter kaufte ich mir bei Vinny’s ein Stück Pizza und eine große Cola, und als ich aufstand und ging, fühlte ich mich ein wenig besser. Es war ungefähr halb vier, und Grace käme frühestens um sechs nach Hause. Ich hatte weder Kraft, durchs Viertel zu wandern und einzukaufen, noch nachher das Abendessen zu machen. Auswärts essen war damals für uns ein Luxus, aber ich fand, wir könnten uns was von Siam Garden kommen lassen, einem Thai-Restaurant, das kürzlich in der Nähe der Atlantic Avenue aufgemacht hatte. Grace würde sicher Verständnis dafür haben. Unabhängig von den Schwierigkeiten, die wir haben mochten, war sie um meine Gesundheit so besorgt, dass sie mir so etwas nicht vorhalten würde.

Als ich meine Pizza verdrückt hatte, ging ich zur Bücherei in der Clinton Street, um nachzusehen, ob sie dort Bücher von der Schriftstellerin hatten, die Trause am Tag zuvor erwähnt hatte, Sylvia Monroe. In der Kartei fand ich zwei Titel, Nacht in Madrid und Herbsterinnerung, aber beide waren seit über zehn Jahren nicht mehr ausgeliehen worden. Ich setzte mich an einen der langen Holztische im Lesesaal, blätterte sie beide durch und stellte bald fest, dass Sylvia Monroe nichts mit Sylvia Maxwell gemeinsam hatte. Monroes Bücher waren konventionelle Krimis, geschrieben im Stil von Agatha Christie, und als ich in der schelmischen, geistreich gedrechselten Prosa der zwei Romane herumlas, wuchs meine Enttäuschung, und auch mein Ärger über mich selbst, dass ich auf die Idee gekommen war, zwischen den beiden Sylvia Ms könnte es womöglich Ähnlichkeiten geben. Zumindest kam mir der Gedanke, dass ich als Kind vielleicht mal ein Buch von Sylvia Monroe gelesen und gleich wieder vergessen hatte, und dass mir die Autorin dann in Gestalt von Sylvia Maxwell, der vorgeblichen Verfasserin der vorgeblichen Nacht des Orakels, wieder aus meinem Unterbewusstsein aufgetaucht sein könnte. Aber wie es aussah, hatte ich Maxwell aus der Luft gegriffen, und Nacht des Orakels war echt und hatte keine Beziehung zu irgendeinem anderen Roman als sich selbst. Wahrscheinlich hätte ich mich erleichtert fühlen sollen, aber dem war nicht so.

Als ich um halb sechs wieder in die Wohnung kam, war eine Nachricht von Grace auf dem Anrufbeantworter. Unverblümt und ruhig, mit einer Reihe einfacher, gerader Sätze, riss sie das Bauwerk des Elends nieder, das sich in den vergangenen Tagen um uns erhoben hatte. Sie rufe vom Büro aus an, sagte sie, und könne nur leise sprechen, «aber wenn du mich hören kannst, Sid», fing sie an, «habe ich dir vier Dinge mitzuteilen. Erstens, ich habe unaufhörlich an dich gedacht, seit ich heute Morgen aus dem Haus gegangen bin. Zweitens, ich habe mich entschieden, ich will das Kind haben, und wir werden das Wort Abtreibung nie mehr in den Mund nehmen. Drittens, mach dir keine Mühe mit dem Abendessen. Ich gehe um Punkt fünf aus dem Büro und kaufe unten bei Balducci’s ein paar leckere Fertiggerichte, die wir nur noch im Backofen aufzuwärmen brauchen. Falls die Subway nicht stecken bleibt, bin ich gegen zwanzig nach sechs, halb sieben zu Hause. Viertens, sieh zu, dass Mr. Johnson gefechtsbereit ist. Ich werde über dich herfallen, sobald ich zur Tür hereinkomme, mein Herz, also mach dich bereit. Miss Virginia kann es kaum erwarten, sich nackt mit ihrem Mann ins Bett zu stürzen.»

Miss Virginia war einer meiner Kosenamen für sie, aber den hatte ich seit unserem ersten oder zweiten Ehejahr nicht mehr benutzt, und gewiss nicht seit meiner Heimkehr aus dem Krankenhaus. Grace beschwor damit die schöne Frühzeit unserer Beziehung, und es rührte mich, dass sie sich an diesen Namen erinnerte, denn ich hatte ihn fast nur in Augenblicken postkoitaler Entspannung benutzt: wenn Grace, nachdem wir uns geliebt hatten, aus dem Bett stieg und langsam ins Bad schlenderte, schamlos, lässig, glücklich in der Nacktheit ihres Körpers; manchmal (wie mir jetzt wieder einfiel) nannte ich sie im Scherz auch Nackte Miss Virginia; das brachte sie immer zum Lachen, und dann blieb sie jedes Mal stehen und nahm eine komische Pin-up-Pose ein, die wiederum mich zum Lachen brachte. Tatsächlich war Miss Virginia nur die Kurzform von Nackte Miss Virginia, und wenn ich sie vor anderen Leuten Miss Virginia nannte, war dies eine heimliche Anspielung auf unser Sexleben, eine Metapher für die nackte Haut unter ihren Kleidern, eine Hommage an ihren herrlichen, innig geliebten Körper. Jetzt, unmittelbar nach der Ankündigung, dass sie die Schwangerschaft nicht abbrechen wolle, hatte sie die mythische Gestalt der Miss Virginia wieder belebt, und mit der Gegenüberstellung dieser beiden Aussagen sagte sie mir, dass sie wieder die Meine war, die Meine wie früher, und doch auch auf andere Weise die Meine: sie gab mir damit subtil (wie nur sie es konnte) zu verstehen, dass sie bereit war, in die nächste Phase unserer Ehe einzutreten, dass eine neue Epoche unseres gemeinsamen Lebens bevorstand.

Ich verzichtete auf die Kraftprobe, die ich mir für diesen Abend vorgenommen hatte, und stellte ihr keine einzige Frage über ihre Abwesenheit Mittwochnacht. Wir taten alles, was sie mir auf dem Anrufbeantworter angekündigt hatte, wälzten uns auf dem Boden, kaum dass sie die Wohnung betreten hatte, und zerrten uns halb ausgezogen zum Schlafzimmer, in das wir aber gar nicht erst gelangten. Später, nachdem wir unsere Morgenmäntel übergeworfen hatten, machten wir im Backofen das Essen warm und nahmen eine späte Mahlzeit ein. Ich zeigte ihr den neuen Toaster, mit breiten, für Bagels geeigneten Schlitzen; das brachte uns noch einmal auf das traurige Thema des Einbruchs, mit dem wir jedoch nicht weit kamen, weil ich plötzlich Nasenbluten bekam und dicke Tropfen auf dem Aprikosentörtchen landeten, das Grace mir gerade zum Nachtisch hingestellt hatte. Sie stand hinter mir am Waschbecken, während ich mit nach hinten gelegtem Kopf wartete, dass es aufhörte: sie hielt mich in den Armen, küsste mich auf Schultern und Hals und machte dabei lustige Vorschläge, wie wir unser Kind nennen könnten. Wenn es ein Mädchen wäre, wollten wir es Goldie Orr nennen. Ein Junge sollte nach einem Buch von Kierkegaard Ira Orr genannt werden. Wir waren albern vor Glück an diesem Abend, und ich konnte mich nicht erinnern, dass Grace in ihrer Zuneigung zu mir jemals so ausgelassen und überschwänglich gewesen wäre. Als mir das Blut endlich nicht mehr aus der Nase strömte, drehte sie mich herum und wusch mir das Gesicht mit einem feuchten Lappen, und während sie mir Mund und Kinn abtupfte, bis auch die letzten Spuren beseitigt waren, sah sie mir die ganze Zeit in die Augen. «Die Küche räumen wir morgen auf», sagte sie. Und ohne ein weiteres Wort nahm sie mich bei der Hand und führte mich ins Schlafzimmer.