Winter, 1987
Wangallon Station
Der Tag neigte sich dem Ende entgegen. Sarah erwartete beinahe, das Seufzen der Erde zu hören, die sich zur Ruhe legte. Der Weg, den sie entlangging, war in der graslosen Staubwüste, die sich viele Kilometer in alle Richtungen erstreckte, kaum zu erkennen, und einen Moment lang war sie froh, dass Angus nicht sehen konnte, welchen Schaden die Dürre angerichtet hatte. Der Wind trug das Blöken der Schafe zu ihr herüber. Die Muttertiere riefen nach ihren zu früh geborenen Lämmern, die während des Tages von ihnen getrennt wurden. Der beißende Geruch von Urin und Dung mischte sich mit dem der trockenen Erde. Sarah fand diesen Duft tröstlich. Er erinnerte sie an alte Zeiten.
Als die Lichtung in Sicht kam, hatten sich die Vögel bereits zur Ruhe gelegt. In den Baumkronen über ihr rauschte der Wind. Sie blickte auf die Grabsteine, die einander zu behüten schienen. Wie steinerne Wachtposten standen sie da. Langsam wurde es dunkler, und der Wind legte sich. Wenn die Steine sprechen könnten, dachte sie, würden sie ihr dann den ewigen Zyklus des Werdens und Vergehens erklären?
Die Steine ganz hinten waren schon kaum noch zu sehen. Braune Blätter lagen auf der Granitplatte auf dem Grab ihres Bruders. Tränen liefen Sarah über die Wangen, als sie auf seine letzte Ruhestätte blickte. Tief im Herzen wusste sie, dass sie nie hier weggehen konnte. Jeremy hatte recht gehabt.
Die Bäume, die den Friedhof bewachten, rauschten. Der Atem des Lebens umfing ihre Seele. Sie war zu Hause.
»Es ist schon nach neun.«
Sarah ignorierte, dass Anthony in der Küche auf sie wartete. Erschöpft sank sie auf einen Stuhl. Sie versuchte immer noch, die erst kürzlich getroffene Entscheidung und die Auswirkungen auf ihr Leben zu verstehen. Der alte Holzofen knisterte, und der Duft nach Rindfleischeintopf stieg ihr verlockend in die Nase. Als Anthony ihr ein Glas Rotwein reichte, trank sie einen Schluck und spürte, wie sich die Verkrampfung in ihren Muskeln ein wenig löste. Anthony gab ihr einen feuchten Waschlappen, und gehorsam wischte sie sich Gesicht und Hände ab. Erst jetzt bemerkte sie, dass Anthony offensichtlich schon geduscht und sich umgezogen hatte. Das weiße Hemd stand ihm gut, ebenso wie sein beigefarbener Pullover mit dem Zopfmuster. Er stellte eine Schale mit Eintopf vor sie und setzte sich ihr gegenüber. Sarah blickte ihn an. Er hatte große Hände, die Hände eines Mannes, auf den man sich verlassen konnte.
»Ich bin nur noch ein bisschen spazieren gegangen und habe nicht auf die Uhr geschaut«, sagte sie. Langsam begann sie zu essen. Sie dachte an Mrs Jamiesons Worte. Wie sollte sie mit ihm reden? Und wie sollte sie ihm vor allem ihr Herz öffnen? Jetzt musste sie erst einmal essen. Der würzige Eintopf wärmte ihren Körper.
Anthony beugte sich vor. Sie sah blass, müde und erschöpft aus, aber sie machte auch einen zufriedenen Eindruck. Dieses Wort hatte er im Zusammenhang mit Sarah Gordon lange nicht gebraucht. Ihre dunkelblauen Augen leuchteten, und er musste zugeben, dass er sie immer noch überwältigend schön fand. Innerlich machte er sich Vorwürfe, dass er ihr gegenüber zu hart war. Er dachte an die zwei Küsse, die sie in den vier langen Jahren nach Camerons Tod ausgetauscht hatten, und stellte sich vor, wie er sie in den Armen hielt. Vielleicht würde es ihm doch schwerer fallen, zu gehen, als er geglaubt hatte, vor allem, da jetzt endlich eine reale Chance bestand, dass sie nach Hause zurückkehrte.
Sarah spürte, dass er sie beobachtete. In der Wärme des Zimmers konnte sie seinen Duft riechen. Als sie aufgegessen hatte, stellte sie ihren Teller ins Spülbecken und blickte durch das Fenster hinaus in die Nacht. »Ich möchte nicht, dass du gehst. Es ist nicht richtig.« Die Welt draußen war schwarz und leer. Sie sah seine starken Arme in der Fensterscheibe, und sofort erinnerte sie sich an die goldenen Härchen auf seinem Nacken und seine Haare mit den von der Sonne gebleichten Strähnen. Aus dem hübschen Jungen von damals war ein attraktiver Mann geworden. Plötzlich kam es ihr unbegreiflich vor, dass sie Anthony wegen Wangallon aufgeben wollte. Sie holte tief Luft. Es gab noch ein Problem zu lösen, bevor ihr neues Leben beginnen konnte. Jim Macken.
»Ich habe in Schottland jemanden kennengelernt«, begann sie. Sie musste ihm unbedingt von Jims Existenz erzählen. Er würde es verstehen. Nur er hatte Cameron so gekannt und geliebt wie sie. Und er würde das Geheimnis bewahren, bis der Zeitpunkt kam, an dem Jim alles über seine Familie erfahren sollte. »Er heißt Jim Macken und ist mein Halbbruder.«
»Was?«
»Ich weiß, es klingt surreal. Aber Dad hatte eine Affäre in Schottland. Er ist definitiv mein Halbbruder. Die Frau, bei der ich gewohnt habe, Mrs Jamieson, hat meinem Vater geschrieben und ihm von seinem Sohn berichtet.«
»Du lieber Himmel. Was für ein Chaos!« Anthony kratzte sich am Kopf. »Das erklärt ja einiges.« Aber er war sich nicht sicher, ob die Neuigkeiten für ihn etwas änderten. »Ich freue mich für dich, Sarah.« Er lächelte, und seine dunklen Augen leuchteten auf. Es wurde jetzt langsam Zeit, dass sie über ihr wichtigstes Problem redeten, die verdammten Bedingungen des Testaments, die der Grund für seine Kündigung waren. »Sarah, ich weiß, wie sehr du diesen Ort liebst. Das Testament spielt keine Rolle. Nicht mehr jedenfalls. Du bist eine Gordon, und du solltest hier sein.«
»Ich weiß.«
Dass sie ihm einfach so zustimmte, überraschte ihn. »Dieses Land bedeutet dir mehr als jemand, der dich liebt?« Er dachte an Jeremy.
Sarah überlegte, wie sie etwas formulieren sollte, das eigentlich nicht zu erklären war. Ihr Großvater hatte einmal zu ihr gesagt: »Das Land und die Familie sind eins, das eine kannst du ohne das andere nicht haben.« Jetzt war Sarah klar, was er damit gemeint hatte. »Großvater hat immer davon geredet, dass die Liebe das Land und die Geschöpfe darauf umfasst; so ähnlich wie die Aborigines die Erde als heilig betrachten. Es umschließt den Glauben an ein Leben nach dem Tod, den Glauben daran, dass sich Tote und Lebende gegenseitig beschützen. Auch die Geister sind noch auf Wangallon, weil sie es so sehr lieben, dass sie es nicht verlassen können. Deshalb glaube ich ja auch, dass Cameron immer noch bei uns ist. Deshalb kehre ich immer wieder zurück und deshalb bist du geblieben. Du liebst Wangallon genauso wie ich, es steckt dir im Blut, aber ohne dich und deine Arbeit hier ist es nichts.«
»Ohne dich ist es nichts.« Er legte den Arm um sie und zog sie an sich.
Sarah legte ihm die flache Hand auf die Brust. Selbst durch die Wolle und die Baumwolle spürte sie seine Haut, glatt und warm unter ihrer Berührung. »Wangallon hat zwischen uns gestanden. Ich habe geglaubt, du wolltest mich nur wegen Wangallon, und …« Sarah schloss die Augen und öffnete sie wieder. »Mir war nicht klar, wie viel du mir bedeutest, bis du sagtest, du würdest weggehen.«
Anthony schüttelte ungläubig den Kopf. »Sarah, du irrst dich. Ich habe doch die Bedingungen von Angus’ Testament erst am Tag seines Unfalls erfahren, und außerdem liebe ich Wangallon zwar, aber meine Liebe zu dir war immer tiefer.« Es kostete ihn Überwindung, ihr seine Gefühle zu offenbaren.
»Was redest du da?«, flüsterte Sarah.
»Ich weiß doch erst seit zehn Tagen von Angus’ Absichten. Ich liebe dich, Sarah. Natürlich wollte ich meine Stelle auf Wangallon nicht verlieren. Ich hatte sogar den verrückten Traum, dass Angus mir einen Teil des Besitzes vermachen würde, aber das war nur ein Traum. Außerdem habe ich deinem Bruder versprochen, mich um dich zu kümmern. Deinem Bruder brauchte ich nicht zu sagen, dass ich dich liebe. Das wusste er damals schon.«
»Ja?« Sie blickte ihm in die Augen. Er umfasste ihr Gesicht mit beiden Händen und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn.
»Es tut mir leid, aber wahrscheinlich habe ich geglaubt, weil du in Sydney gelebt hast und dann Jeremy …« Er zog die Nase kraus.
Sarah schubste ihn leicht. »Sei nett.«
»Ich habe dich einfach aus meinem Kopf verbannt.«
»Bleib bei mir, Anthony; nicht wegen Wangallon, nicht wegen Großvater oder Cameron, sondern weil ich dich brauche.«
Seine Lippen bebten. »Sag es. Sag, dass du mich liebst.«
»Ich liebe dich heute Abend«, sagte sie leise, »und morgen. Auf ewig.« Sie schmiegte sich an ihn, und sie versanken in einem Kuss.
Hatte er sie ins Bett getragen? Anthony konnte sich nur an ihr leises Liebesgemurmel erinnern, als sie sich immer wieder küssten. Zuerst streichelten sie sich sanft und vorsichtig, aber schließlich konnte er nicht mehr länger warten und zog Sarah den Pullover aus. Auch seinen eigenen riss er sich so ungeduldig vom Leib, dass Sarah leise kicherte. Er küsste sie, als er ihre Bluse aufknöpfte, und auch sein Hemd war aufgeknöpft, als ihr Büstenhalter herunterglitt. Ein Schauer überlief ihn, als ihre Hände über seine nackte Haut strichen und sie sich unter ihm bewegte. Er vergrub sein Gesicht an ihrer Schulter, drückte sie zurück aufs Bett, und aus ihrem Haar stieg der Duft nach Sandelholz auf, als sie ihm die Beine um die Taille schlang.
Der Mond schien hell durch das Laub der Bäume in eine kleine Ecke von Sarahs Zimmer. Sie beobachtete die Muster, die an der Wand tanzten. Es waren helle Hoffnungsstrahlen vom Himmel, wie Bänder, die die alte Zeit mit der Hoffnung der Zukunft verbanden. Das Licht glitt über ihren nackten Körper, und sie fuhr mit den Fingern an dem Muster entlang, das sich rasch veränderte, als der Wind durch die Bäume rauschte. Sie hatte von jenem letzten Tag mit ihrem Bruder geträumt, aber im Schmerz der Erinnerung lag jetzt auch Verständnis, denn Anthony war mit dabei gewesen. Sarah erinnerte sich, wie sie aufgeblickt hatte, als er angefahren kam.
Es war so, als ob Wangallon selbst ihn ihr geschickt hätte, weil die Farm wusste, wie sehr er gebraucht würde, wie allein sie sich eines Tages fühlen würde. Wangallon und Sarah brauchten beide seine Liebe und seinen Schutz. Vielleicht hatten ja die Vorfahren bei seiner Einstellung die Hand im Spiel gehabt. Sarah stand auf und huschte auf Zehenspitzen zu ihrer Kommode. Sie öffnete die oberste Schublade und streifte sich den goldenen Armreif über das Handgelenk. Im Mondlicht schimmerte er wie das schönste Schmuckstück, das sie je gesehen hatte. Zum ersten Mal wurde ihr klar, wie friedlich das alte Haus war. Alles war still. Sie ging wieder ins Bett. Morgen würde sie viele Aufnahmen machen.
»Ich brauche dich«, flüsterte sie der schlafenden Gestalt neben sich zu. Liebe war als Wort nicht umfassend genug für ihre Welt, merkte sie, denn wenn Anthony ihre Liebe war, verkörperte Wangallon ihre Seele. Anthony drehte sich um, nahm sie in die Arme und zog sie an sich.
Eine Eule blickte in Richtung ihres schwach erleuchteten Zimmers. Stunden vor Tagesanbruch verließ sie ihren Platz in dem hohen Eukalyptusbaum, breitete die Flügel aus und flog über die Farm. Der Nachtwind rauschte, und sie schwebte auf eine Baumgruppe zu, deren Wipfel sich schützend über eine Lichtung bogen. Die Eule segelte herunter durch das dichte Laub, das den starken Duft von Eukalyptus verströmte, und landete auf dem bröckelnden Grabstein von Hamish Gordon. Zufrieden schlief sie ein, als leichter Regen zu fallen begann und die Erde die Tropfen durstig aufsaugte.