Winter, 1867
Paddington, Sydney
Voll Stolz betrachtete Claire Whittaker ihre neuen taubengrauen Handschuhe und trieb die beiden gescheckten Stuten mit einem kurzen Schlag ihrer Reitgerte an. Die Pferde liefen schneller, und die Holzräder der offenen Kutsche holperten über die staubige Straße. Der Schweiß lief ihr über den Rücken, und sie fuhr sich durch die Haare. Sie warf einen Blick auf das Federvieh, das in einer Holzkiste hinter ihr auf der Ablage stand. Es hatte sie einiges an Verhandlungsgeschick gekostet, das Essen für heute Abend zu erhalten. Würstchen wären wahrscheinlich eine bescheidenere Wahl gewesen, und ihr Lieblingsmetzger hätte sie sicher gerettet, wenn ihr hartnäckiges Feilschen nichts genützt hätte.
Einige Kutschen fuhren an ihr vorbei. Zwei kleine Zweispänner und eine größere lackschwarze Reisekutsche waren bepackt mit Koffern, Paketen und großen Posttaschen. Drinnen saß ein weiblicher Passagier und drückte sich ein weißes Taschentuch an die Nase. Claire lächelte dem Kutscher zu, der fluchte und seine große Kutsche sicher an einem Kohlekarren und einem Wagen, der Holz hinter sich herzog, vorbeimanövrierte. Sie lenkte die Pferde in eine Seitenstraße.
Sofort lagen der Lärm und das Getriebe der Hauptstraße hinter ihr, und ihre Pferde trotteten ruhig den von Bäumen gesäumten Weg entlang. Claire fuhr an einem Kind, einem streunenden Hund und einem dunkelhäutigen Mann mit weißem Turban vorbei. Nach dieser letzten Gestalt blickte sie sich um. Er saß in einer offenen Kutsche, gekleidet in einen grauen Anzug, in Begleitung eines stämmigen Kutschers ähnlicher Herkunft. Der ungewöhnliche Anblick erregte ihre Aufmerksamkeit. Schließlich hielt sie vor einem kleinen Reihenhaus aus Holz. Sie band die Pferde fest, hob den beigefarbenen Wollstoff ihres Rocks, ergriff ihren Weidenkorb und sprang aus der Kutsche. Der Mann mit dem Turban war mittlerweile verschwunden. Die Haushälterin, Mrs Cole, jedoch stand schon in der Haustür und runzelte die Stirn.
»Wo sind Sie gewesen, Miss Whittaker? Ihr Vater hat in der letzten Stunde ständig nach Ihnen verlangt.«
Claire warf Mrs Cole einen beruhigenden Blick zu und verriegelte das kleine Tor hinter sich wieder. Seitdem sich kürzlich ihre Lebensumstände geändert hatten, war ihr Vater fordernder und inaktiver geworden, als ob er sich nutzlos fühlen würde, wenn er sich nicht ständig Gedanken um Geld und Essen machen musste. »Es tut mir leid, Mrs Cole, aber ich habe noch frische Zitronen und Orangen auf dem Markt gekauft, und es gibt Ente zum Abendessen.«
»Ente, du liebe Güte!« Die Frau rieb sich erwartungsvoll die Hände.
»Sie wissen doch, wie man sie zubereitet, Mrs Cole?« Sie hoffte inständig, dass Mrs Cole das arme Geschöpf schlachten konnte.
Mrs Cole warf ihr einen verweisenden Blick zu und hob das Kinn. Ihre drahtige Gestalt drängte sich an Claire vorbei zum Wagen, und sie ergriff die Kiste. »Sie ist ein bisschen dürr.« Sie schob einen knochigen Finger durch die Holzstäbe. »Aua. – Und sie beißt.« Die Ente begann laut zu schnattern. »Ich glaube, sie haben sie beleidigt, Mrs Cole.«
»Wenn Sie das nächste Mal eine Ente haben wollen, sagen Sie mir Bescheid, Miss, dann besorge ich eine, wenn ich einkaufen gehe. Sie brauchen sich jetzt nicht auch noch um den Haushalt zu kümmern.« Mrs Cole warf dem Federvieh einen grimmigen Blick zu. »Es wird mir ein Vergnügen sein«, versicherte sie Claire. »Ich schicke Humphries, damit er die Pferde in den Stall bringt.«
»Danke, Mrs Cole.«
»Das gibt feines Entenschmalz für meine Kuchen, und oh, ich kann sie jetzt schon schmecken.«
Im kleinen muffigen Salon zog Claire die neuen, rosenroten Vorhänge gegen die Mittagshitze zu und drehte die Petroleumlampe auf dem Kaminsims auf. Das Licht flackerte zuerst, wuchs aber dann zu einer ruhigen Flamme und der vertraute bittere Geruch breitete sich im Zimmer aus. Claire zog Haube und Handschuhe aus und hielt einen Moment inne, um ihr Spiegelbild zu betrachten. Ein ovales, gerötetes Gesicht, umrahmt von dicken schwarzen Haaren, die mit einem gewagten dunkelroten Band zusammengehalten wurden, blickte ihr entgegen. Claire schüttelte ihre Haare aus, band sie von Neuem zusammen und wandte dann ihre Aufmerksamkeit ihrem Vater zu.
Er lag dösend in seinem Lieblingssessel, einer alten, wackeligen Konstruktion, die kaum den Transport von ihrem kleinen Besitz außerhalb von Parramatta in ihr neues Heim überstanden hatte. Auf einem runden Tisch neben ihm lagen eine Bibel und zahlreiche ungeöffnete Briefe. Claire legte die zerschlissene Reisedecke über seine Knie und nahm ihm vorsichtig die Lesebrille aus der Hand.
»Da ist dir also gelungen, mich zu wecken?«
»Entschuldigung, Vater.« Claire nahm das Deckchen vom Wasserkrug und schenkte zwei Gläser ein. Eines reichte sie ihrem Vater.
»Das hat deine Mutter gemacht.« Er streckte die Hand nach dem Deckchen aus und betastete die winzigen grünen Perlen, die am Rand in langen Reihen herunterhingen, damit der Überwurf liegen blieb. Er drückte es fest an sich, dann gab er es Claire wieder.
»Mir fehlt sie auch, Vater.«
Er trank einen Schluck Wasser. »Du warst aus?«
»Auf dem Markt. Ich habe eine Ente zum Abendessen gekauft. Mrs Cole bereitet sie zu.«
»Was für eine Extravaganz«, wies ihr Vater sie zurecht.
»Eine Extravaganz, die wir uns ab und zu erlauben können«, schalt Claire ihn liebevoll. Vor Monaten schon hatte sie in Begleitung ihres Vaters eine Stelle gesucht. Sie konnten ihren kleinen Besitz am Ufer des Paramatta-Flusses nicht halten, und da der Gesundheitszustand ihres Vaters sich zunehmend verschlechterte, hatte Claire das als einzige Möglichkeit gesehen. Sie hatten ihr Anwesen und das Land, auf dem es stand, verkauft und waren in die Stadt gezogen. Claire hatte gehofft, dass sich ihre Lebensumstände verbessern würden, vor allem, wenn sie Gesellschafterin einer verwitweten Dame würde. Und dann erfuhr Claire kurz nach ihrem Umzug durch ein Schreiben, dass sie irgendwie einen Wohltäter gewonnen hatte.
»Es sieht so aus, als ob du eine Ausbildung erhalten sollst, meine Liebe.«
»Eine Ausbildung?«, stammelte Claire. Sie ergriff den Brief, den ihr Vater aus seiner Brusttasche zog, und studierte den Briefkopf: Wilkinson & Cross – Anwälte. Unter dem ungeduldigen Blick ihres Vaters überflog sie den Inhalt.
Unser Klient wünscht, Miss Claire Whittaker vom Beginn des nächsten Monats an die Vorzüge eines Privatlehrers zuteilwerden zu lassen. Dieses Arrangement findet an fünf Vormittagen in der Woche statt. Die zu studierenden Fächer sind Englisch, Latein, Geografie und Geschichte.
»Du liebe Güte!«
»Es steht noch mehr da, Liebes. Bist du noch nicht an dem Absatz, in dem es um das Klavier geht?«
»Ein Klavier?«
Des Weiteren wünscht unser Klient, dass Sie Pianoforte spielen lernen. Innerhalb der kommenden Wochen wird ein solches Instrument an Sie geliefert. Morgen wird sich ein Lehrer bei Ihnen vorstellen.
Mit den besten Grüßen …
»Vater, ich glaube es nicht.«
»Ich weiß gar nicht, wo wir das Klavier hinstellen sollen.«
»Vater!« Claire lachte. »Ein Klavier.«
»Ich war heute früh ebenfalls aus …«
»Ganz allein?«
Ihr Vater hustete ungeduldig. »Ich war bei den Herren Wilkinson & Cross, um den Namen des … zu erfragen.«
»Und?«, fragte Claire. »Wer ist es?«
»Sie konnten mir nicht mehr sagen, als wir bereits wissen. Du, meine Liebe, musst großen Eindruck auf eine wohlhabende Persönlichkeit gemacht haben, und dieser Mann hat beschlossen, deine Ausbildung zu seiner Sache zu machen.«
»Seine Sache«, erwiderte Claire empört. Sie war ganz gewiss keine Sache.
»Das sind Mr Wilkinsons Worte, Claire, nicht meine. Ich spiele hier sowieso nur eine Nebenrolle.«
Claire tätschelte ihrem Vater die Hand. Mrs Cole hatte erst kürzlich geäußert, dass Claires Wohltäter ihren Vater in gewisser Weise überflüssig gemacht habe. »Für mich spielst du die wichtigste Rolle, Vater.« Er lächelte sie an und zeigte dabei sein schadhaftes Gebiss.
Claire kam es sehr ungewöhnlich vor, dass jemand ihr solche Wohltaten erweisen wollte, seine Identität jedoch geheim hielt. Was hatte er denn davon, wenn sie sich noch nicht einmal bei ihm bedanken konnte? Sie brauchte jetzt nicht einmal mehr ihre Stelle bei der alten Mrs Medway zu behalten, und sie musste auch nicht mehr putzen und kochen. Ihre Tage waren jetzt frei von allen Verpflichtungen, ein Gedanke, der sie faszinierte und ängstigte zugleich, denn wie würde sie jetzt ihre freie Zeit ausfüllen? Aber auch daran hatte ihr Wohltäter anscheinend gedacht, denn jetzt sollte sie auch noch Unterricht erhalten.
»Tee, Mr Whittaker?« Mrs Cole trat ins Zimmer und brachte ein Tablett mit Gebäck und Tee.
»Ich soll Unterricht erhalten«, verkündete Claire fröhlich. »Von einem Privatlehrer.«
Mrs Cole nickte. »Sie werden jetzt ein feines Leben führen, Miss.«
»Danke.« Claires Vater nahm die Tasse Tee entgegen und reichte ihr einen Brief. »Für Sie, Mrs Cole.«
Mrs Cole studierte die Handschrift. »Er ist von meiner Schwester. Ich habe nichts mehr von ihr gehört, seit …«
Sie sprach den Satz nicht zu Ende. Claires Vater stellte seine Tasse und die Untertasse auf seinem Knie ab.
»Ich freue mich schon aufs Abendessen.«
Als Mrs Cole gegangen war, runzelte Claire nachdenklich die Stirn. »Das war ein wenig seltsam, Vater.«
»In der Tat. Aber wir können nur darauf vertrauen, dass dein Wohltäter unsere neue Haushälterin schon richtig beurteilt hat.«
Sie hatten Mrs Cole nicht wegschicken können, da sie mit ihrem Gepäck und einem Anstellungsschreiben von Wilkinson & Cross vor ihrer Tür gestanden hatte. Innerhalb eines Tages hatte sie sich in dem kleinen Dienstbotenzimmer hinter der Küche eingerichtet, und zwei Monate später fragte sich Claire, wie sie es jemals allein geschafft hatte, sich um das Haus, das Essen und Einkaufen und die Pflege ihres Vaters zu kümmern. »Die Tatsache bleibt bestehen, dass wir wenig über sie wissen, Vater.«
»Im Gegenteil, meine liebe Claire, wir wissen immerhin, dass sie gut kochen kann.«
Nach all der Aufregung des Tages fand Claire den Entenbraten seltsam unbefriedigend. Sie hatte das Fleisch noch nie gegessen und war überrascht, wie sehr sie sich auf einmal nach der Gemüsesuppe ihrer Mutter mit einem ordentlichen Stück frischen Brots dazu sehnte. Nach dem Essen ging sie in ihr Zimmer im zweiten Stock des Reihenhauses. Ein Fenster ging auf ihren kleinen Garten und Mrs Coles Gemüsebeet hinaus. Dahinter verlief ein Weg an den Gärten entlang. Am Tag ging sie manchmal in ihr Zimmer, um sich anzuschauen, was auf dem Weg so alles los war: Kleine Kinder spielten im Dreck, Paare stritten sich, und der Kohlenhändler kam vorbei. Jetzt hörte sie in der Ferne die Nachtkarren rumpeln, die durch die Straßen fuhren und die Außentoiletten leerten. Im Zimmer nebenan schnarchte ihr Vater.
Claire kniete sich neben das kleine Fenster und blickte zu den Sternen am samtschwarzen Himmel. Sie konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, mit welcher guten Tat sie ihr jetziges Glück verdient hatte. Sie hatte schon häufig eine Besorgung für Bekannte gemacht oder jemandem auf irgendeine Weise Beistand geleistet, aber niemand, den sie kannte, war so reich, um der Klient zu sein, auf den sich Wilkinson & Cross so geheimnisvoll bezogen.
»Und jetzt bekomme ich Unterricht«, flüsterte sie. Sie dachte an ihre Mutter mit ihren Lesebüchern und ihrer Schultafel. Sie hatte ihr nur Grundlagen vermitteln können. Claire kniff sich in den Arm. Aber nein, es war kein Traum, vor allem nicht das wöchentliche Geld für Essen und Miete. Am meisten jedoch entzückte sie die Vorstellung, Klavier spielen zu lernen, denn das war eine Fertigkeit, die der Oberschicht vorbehalten war.
»Die Oberschicht«, wiederholte Claire. Wenn doch nur ihr Vater einverstanden gewesen wäre, dass sie in ein größeres Haus ziehen würden, aber in dieser Frage gab er nicht nach.
»Ich bin immer noch selber in der Lage, meiner Tochter ein Dach über dem Kopf zu bieten«, hatte er auf ihre Bitten erwidert.
Claire sprach ein rasches Gebet und ging wieder ins Bett. Sie würde hart arbeiten, für ihren Vater wie für ihren Wohltäter, denn ihre Zukunft war noch ungewiss.