Frühling, 1867
Paddington, Sydney
Mrs Cole unterschrieb den Brief an ihre Schwester und versiegelte den Umschlag sorgfältig. Sie hatte zwar strengste Anweisung, nichts von ihrer Anstellung bei den Whittakers verlauten zu lassen, aber Mrs Cole fand, es sei eine Frage der Höflichkeit, ihrer lieben Schwester mitzuteilen, wie sie vorankam. Schließlich hatte sie die Stelle ja auf Empfehlung ihrer Schwester bekommen, und es war eine schöne Stelle. Das Reihenhaus war zwar ein wenig feucht und düster, und auch die Nachbarschaft war nicht gerade Oberschicht, aber gegen ihr Gehalt konnte Mrs Cole nichts sagen. Das zusätzliche Geld erlaubte es ihr, jede Woche ein wenig zu sparen, und es freute sie sehr, den immer voller werdenden Sparstrumpf zwischen Bettgestell und Matratze zu verstecken.
Nein, sie bezweifelte, dass der Inhalt ihres Briefs gegen die strikten Regeln bezüglich ihrer Schutzbefohlenen verstieß. Von Mr Whittakers schlechter Gesundheit und Claires Fortschritten im Unterricht zu berichten, war ja auch kaum besonders aufregend. Viel interessanter für Mrs Cole war der geheime Wohltäter des Hauses. Sie vermutete, es sei ein reicher Witwer, alt vielleicht, ohne Nachkommen. Und wenn nur eine dieser Tatsachen zutraf, so machte ihn das alleine schon zu einer faszinierenden Persönlichkeit, vor allem, da sie von Zeit zu Zeit auch einem ausländischen Herrn über Claires Fortschritte berichten musste.
Mrs Cole legte den Brief in ihren Korb neben ihren Einkaufszettel, auf dem sie in ihrer ordentlichen Schrift aufgelistet hatte, was sie besorgen musste. Dann öffnete sie die Hintertür des Reihenhauses. Es war noch früh. Die Sonne war gerade aufgegangen. Sie stellte den Korb auf den Boden und inspizierte das längliche Gemüsebeet rasch auf Nagetiere und sonstige Schädlinge. Karotten und Kartoffeln wuchsen dort, und an drei blassen Kohlköpfen, den letzten der Saison, war offensichtlich gebuddelt worden. Mrs Cole hockte sich hin und zupfte zwei dicke Raupen von einem Kohlkopf. Sie zerquetschte sie unter den Sohlen ihrer Lederschuhe.
»Mrs Cole?«
Der vertraute Akzent erschreckte sie, und sie sprang auf. Sie trat ans hintere Tor und spähte den Weg entlang. Flach an den Holzzaun des Nachbarhauses gedrückt stand ein dunkelhäutiger Mann in einem teuren taubengrauen Anzug, die Haare unter einem Turban verborgen. Mrs Cole blickte sich nervös um, bevor sie auf den Weg hinaustrat.
»Ich habe Sie nicht erwartet«, flüsterte sie und raffte die Röcke, um über einen Haufen Pferdeäpfel zu steigen.
»Wie geht es dem Mädchen?« Er zündete sich eine Zigarette an und hustete, als er den Rauch inhalierte.
»Sie lernt sehr fleißig.« Mrs Cole blickte zum Reihenhaus zurück. Die Fenster im oberen Stockwerk waren geschlossen, die Vorhänge zugezogen.
»Und die Gesundheit des Vaters?«
»Sehr schlecht.«
»Sie erwarten also nicht, dass er dieses Jahr überlebt?«
Mrs Cole zuckte mit den Schultern. »Wer weiß das schon?« Wind kam auf und wehte Blätter und Unrat über den Weg.
Der Mann schlug seinen Kragen hoch. »Danke.«
Er war gegangen, bevor Mrs Cole noch etwas sagen konnte. Sie blickte ihm nach, bis er um die Ecke verschwunden war. Dann ging sie wieder in den Garten, um den Korb zu holen. Er war leer. »Verflucht.« Die Einkaufsliste lag zwischen den Karotten und den Kohlköpfen, aber der Brief war verschwunden. »Verflixt und zugenäht.« Erst jetzt bemerkte sie, dass Claires Fenster weit offen stand.