Herbst, 1987

Wangallon Station

Das Kreischen von Vögeln durchbrach Sarahs Morgenträume. Sie war gestern Nachmittag in Wangallon angekommen, aber sie wusste nicht, warum ihr Großvater sie so dringend hier brauchte. Angus hatte sie am Flughafen abgeholt, aber er hatte sich über alles Mögliche mit ihr unterhalten, nur nicht über den Grund ihres Besuchs. Die Sonne schien durch die geöffneten Verandatüren, aber die Veranda würde schon bald der einzige kühle Ort im Haus sein. Ein Sonnenstrahl glitt über ihren Lieblingsliegestuhl auf der Veranda. Er war schon sehr alt, aber das Holz war noch tadellos in Ordnung. Ihr Großvater hatte ihr erzählt, dass er Hamish Gordon gehört hatte, und manchmal, früh am Morgen, konnte sie sich vorstellen, wie er dort saß, seine Pfeife rauchte und seinen Tag plante.

Die Rasenfläche vor dem Haus, die nur selten saftig grün war, war jetzt extrem trocken. Früher einmal war dort eine Auffahrt für Kutschen gewesen und auch ein Pfosten zum Anbinden für Pferde. Kein Wunder, dachte Sarah, dass die Pflanzen hier nicht richtig gediehen. Der Boden war einfach zu verhärtet, und man hätte jedes Jahr von Neuem umgraben müssen. Dort, wo der Rasensprenger für Feuchtigkeit sorgte, waren seltsame runde Flecken entstanden, aber die meisten Stellen waren trocken und braun. Jahr für Jahr hatten Sarahs Großmutter und ihre Mutter junge Pflanzen gesetzt, aus denen schöne Blumen werden sollten. Aber meistens war es ein sinnloses Unterfangen gewesen. Dürren, Vögel, Hunde, die nicht angekettet waren und sich wälzten oder überall pinkelten, und in der trockeneren Jahreszeit Kaninchen machten alle Anstrengungen zunichte.

Nur die Bäume hatten überlebt: Hohe Eukalyptusbäume, Schwarzeichen und Zitronenbäume rauschten im starken Herbstwind. Daneben wuchsen riesige Kakteen. Sarah liebte ihr mattes Grün und die rechtwinkligen Formen. In der hintersten Ecke des Gartens wuchsen in Blumenkübeln Geranien und Bougainvillea. Als sie ein Kind war, hatte Granny Angie ihr Geschichten von den Feen erzählt, die auf den duftigen Blüten lebten. Mittlerweile blühten sie nicht mehr regelmäßig, weil niemand sie mehr pflegte und so viel vom Garten verstand wie ihre Großmutter.

Über dem Garten ging jetzt die Sonne auf, und alles erwachte zum Leben. Vögel schossen zwitschernd über den Rasen, ein Hahn krähte, und die Hunde stimmten mit lautem Gebell ein. Der frühe Morgen war die Lieblingszeit ihrer Großmutter gewesen, und Sarah glaubte, ihre Gestalt hinten im Garten zu erkennen. Lächerlich, jetzt bildete sie sich schon Dinge ein, wie ihre Mutter.

Das Radio ihres Großvaters dröhnte in die morgendliche Stille. Sarah füllte Wasser in ein Glas aus dem Regenwassertank draußen und trat zu ihrem Großvater, der am großen Küchentisch saß.

»Morgen.«

»Hi, Großvater.« Sie schenkte sich eine Tasse Tee aus der glänzenden blauen Kanne ein und gab Milch und Zucker dazu. »Äh, gibt es irgendeinen besonderen Grund, warum du mich dieses Wochenende hier brauchst?«

»Muss es immer einen Grund geben?«, brummte Angus.

»Nein, natürlich nicht.«

»Gut.« Angus kaute seinen Toast mit Vegemite. »Ein Großvater hat doch ein Recht darauf, seine Enkelin zu sehen.«

Sarah schüttete Müsli in eine hellblaue Keramikschale und gab Milch dazu. Vielleicht machte das Alter ihrem Großvater ja zu schaffen, und er fühlte sich einfach einsam.

»Ich habe über meine Familie nachgedacht.«

»Über Dad?«, fragte Sarah.

»Nein.« Angus biss erneut von seinem Toast ab. »Über meinen Halbbruder.«

Sarah verschluckte sich beinahe. »Du hattest einen Halbbruder?«

Ihr Großvater zwinkerte ihr zu. »Du bist ihm ziemlich ähnlich.«

Sarah ließ den Löffel sinken. »Das wusste ich ja gar nicht. Niemand hat mir je davon erzählt.«

»Über so etwas redet man nicht so gerne. Das weißt du doch.«

Sarah schob ihre Müsli-Schale beiseite. »Warst du wütend darüber?«

»Warum sollte ich wütend sein? Dein Großonkel Luke war ein guter Typ. Er lebte zwischen seinen Jobs als Viehtreiber hier im Haus. Dann saß er hier am Küchentisch, die Blechtasse in der Hand und redete von den Sternen. Ich war fast vierzig Jahre jünger als er.«

»Wow. Und wie passt er in den Familienstammbaum?«

»Genau wie Cameron. Gut.«

»Warum redet niemand hier über unseren Familienstammbaum?«

Angus hob die Schultern. »Ach weißt du, Mädchen, im Hinblick auf Cameron hat sich sowieso niemand täuschen lassen. Sie wussten einfach nur nicht, wie sie damit umgehen sollten.«

»Also hat man es mir nicht bewusst verschwiegen?«, fragte Sarah.

Ihr Großvater legte den Kopf schief und blickte sie an. »Es hat doch dein Verhältnis zu ihm sowieso nicht geändert, oder?«

»Nein.« Sarah goss sich noch eine Tasse Tee ein. Ihre Augen wurden feucht. »Danke, Großvater.«

Er machte eine abwehrende Handbewegung. Der Wasserwagen, der die Tanks von Wangallon füllen sollte, erinnerte ihn an Anthonys Garten in West Wangallon. Auch er litt unter der anhaltenden Dürre.

»Sarah, willst du nicht euer altes Haus besuchen? Anthony hält alles in Ordnung, und ich bin sicher, dass …«

»Nein, danke. Ich warte besser, bis er mich einlädt.«

Angus kratzte sich den faltigen Hals. »Ah, stur, was? Nun, heute wird ein heißer Tag, Sarah.« Sie mussten vierhundert Rinder von einem Gehege ins andere treiben. Gestern war eine Schafherde an der Westgrenze durch einen schadhaften Zaun entkommen, und der Herdeninspektor wollte die Routen überprüfen.

»Ich will nicht wieder so ein Debakel mit den Schafen erleben wie gestern. Der blöde Kerl hätte ja anrufen können.«

»Du hättest doch sowieso nicht mit ihm geredet.«

»Nun, bei der Dürre könnten wir eine Ziegelmauer haben, dann würden es die Schafe trotzdem noch schaffen, nachzusehen, was auf der anderen Seite ist. Wozu soll es jetzt gut sein, die Routen zu inspizieren? Wenn irgendein Tier aus irgendeiner Herde frei herumläuft, bekommt es im Moment sowieso nur Staub zu fressen.«

»Das solltest du ihm sagen«, stimmte Sarah zu und trank einen Schluck Tee. »Wie macht sich der neue Cowboy?«

»Nun, wenn du wissen willst, ob er genauso gut ist wie Anthony in dem Alter, dann kennst du die Antwort schon. Anthony habe ich immerhin höchstpersönlich ausgesucht.«

»Ja, und Colin hast du also nicht selber ausgesucht?«

»Nein. Ich wollte mal Anthonys Managerfähigkeiten auf die Probe stellen. Der Junge ist hier aus der Gegend. Er ist Waise oder so.«

»Ist er seinen Lohn wert?« Das war die Lieblingsfrage ihres Großvaters.

»Das muss ich erst noch abwarten. Nun, worauf wartest du noch? Lass uns mal loslegen.«

Sarah blickte auf die Messinguhr, die über dem jetzt nur noch selten benutzten Holzherd hing. Es war zwanzig nach sechs. Ganz gleich, wann sie morgens aufstand – es war nie früh genug, um in Ruhe zu Ende zu frühstücken.

»Der Tag ist schon fast halb vorbei, Mädchen. Du bist hier die Gordon, also geh raus und gib ein paar Befehle.«

Anthony wartete geduldig an den Ställen. Colin, der bereits Warrigal und seine eigene Stute gesattelt hatte, drehte sich eine Zigarette und inhalierte tief den ersten Zug.

»Ich dachte, du wolltest es aufgeben?«, sagte Anthony, als ein Land Cruiser in Sicht kam, der eine Staubwolke hinter sich herzog.

»Nächstes Jahr.«

Anthony klopfte Warrigal den Hals. »Tut mir leid, dass dein freier Tag im Eimer ist.«

Colin zuckte mit den Schultern. »Wenn der Oberhirte auftaucht, kann man wahrscheinlich nicht viel machen.«

»Ja, nun, ich glaube, Mr Gordon hat das Ganze ein bisschen hinausgeschoben, damit Sarah sich der Sache annehmen kann.«

»Was glaubst du, wann er sich zur Ruhe setzt?«

»Zur Ruhe setzen?« Anthony lachte. »Niemals. Er wird hier bleiben, bis die nächste Generation bereit ist, nach Hause zu kommen, und selbst dann wird er das Schiff noch steuern.«

»Was meinst du mit der nächsten Generation? Sie?«, fragte Colin und spuckte in den Sand. »Ich dachte, du übernimmst die Farm.«

Anthony schlug Colin auf den Rücken. »Als ich mir das letzte Mal meinen Nachnamen angesehen habe, war er nicht Gordon.« Der Wagen hielt, und Sarah stieg aus.

»Eine Frau.« Colin dehnte das Wort verächtlich.

»Ja«, sagte Anthony. »Eine Frau.«

Colin kniff verärgert die Augen zusammen.

»Hi, Anthony.«

Anthony erlaubte sich einen raschen bewundernden Blick auf die schlanke Gestalt in langärmeliger hellblauer Baumwollbluse und dunkelblauer Jeans. »Schön, dich zu sehen, Sarah. Du erinnerst dich noch an Colin?«

»Klar. Hi, Colin.«

Colin grunzte. »Welches Pferd.«

»Blaze«, antwortete Sarah. »Danke, Colin.«

Anthony schüttelte den Kopf. »Er ist ein bisschen unruhig, Sarah. Ich würde Oscar nehmen.«

»Meine Reitkünste sind nicht schlechter geworden, Anthony.«

»Ich glaube, Oscar wäre besser«, beharrte Anthony.

Sarah schüttelte den Kopf. »Und ich glaube, wir hören besser auf, uns herumzustreiten, und machen weiter.«

»Der Tag ist schon halb rum«, warf Colin betont ein.

»Dann solltest du jetzt besser Blaze für mich satteln, damit wir losreiten können.« Sarah blickte Colin nach, als er zum Stall ging, um Blaze zu holen. »Ich glaube, dein neuer Cowboy ist nicht so ganz einfach.«

»Da ist er nicht der Einzige«, erwiderte Anthony.

»Halt ihn fest am Zügel«, rief Anthony Sarah nach, als Blaze losgaloppierte. »Und keine Peitschenhiebe in seiner Nähe. Hast du gehört, Colin?«

Colin nickte.

»Alles klar«, rief Sarah. Schließlich war Blaze ihr Pferd. Na ja, offiziell gehörte er ihrem Großvater, aber er war das letzte Hengstfohlen von Camerons alter Stute Charlotte.

Die Rinder waren in unterschiedlich großen Gruppen entlang der Schafsroute verteilt. Gegen das blasse Gras hoben sich die rotweißen Hereford-Rinder deutlich ab. Sarah drückte Blaze leicht die Absätze in die Flanken und galoppierte mit ihm auf Kühe und Kälber zu, die im Schatten einer großen Kasuarine Schutz gesucht hatten. Die Kühe, ärgerlich darüber, dass sie aufgescheucht wurden, leisteten ein paar Sekunden lang Widerstand, marschierten aber dann zu den anderen, und die Kälber liefen ihnen hinterher. Ab und zu drehten sich die Muttertiere nach ihnen um, um sich zu vergewissern, dass sie auch mitkamen. Sarah behielt mit Blaze ein stetiges Tempo bei und sammelte immer mehr Kühe mit ihren Kälbern ein, je näher sie dem Grenzzaun kamen. Was wahrscheinlich zuerst nur ein gerissener Stacheldraht gewesen war, war jetzt über eine Länge von etwa achtzehn Metern ein einziges Gewirr aus zertrampelten Drähten. Es würde mindestens eine Stunde dauern, den Zaun zu reparieren, dachte sie. Eine gute Aufgabe für Colin. Niemand reparierte gerne Zäune.

Anthony ritt weit vor ihr. Rechts von Sarah jagte Colin einem Stier nach, der sich weigerte, sich wieder der Herde anzuschließen. Sie lenkte die Kühe zum Zaun und wartete ab, bis sie über das kaputte Stück wieder auf dem Weideland von Wangallon waren. Vor ihnen lagen sechs Kilometer, ein guter halber Tag mit Kühen und Kälbern, aber die Tiere mussten zum Flussbett hinuntergetrieben werden, damit sie wenigstens ein bisschen auf die Rippen bekamen. Und wenn es in den nächsten Tagen nicht regnete, mussten sie eben Heu zufüttern.

Colin tauchte hinter den Bäumen auf und galoppierte hinter dem Stier her, der jetzt auf die Hauptherde zulief. Er war dem Tier dicht auf den Fersen und wehrte geschickt jede Wendung des Stiers ab. Schließlich war es ihm gelungen, ihn in die Herde zu treiben. Er grinste zufrieden und ritt an Sarah vorbei.

»Na los, treib sie mal ein bisschen an. Wir wollen uns hier doch nicht den ganzen Tag aufhalten«, rief er und ließ seine Stockpeitsche durch die Luft zischen.

Blaze stieg, als er das Geräusch der Peitsche hörte, und ging durch. Sarah umschloss den Pferdeleib fest mit ihren Beinen und machte sich so klein wie möglich.

Anthony sah Blaze auf die Bäume zurasen und rief ihren Namen. Er hörte Äste krachen und splittern und galoppierte hinter Sarah her. Als das Gelände unebener wurde, stolperte Blaze über ein Loch im Boden. Sarahs Hut verfing sich in den Ästen eines abgestorbenen Baums, und auch das Band löste sich aus ihren Haaren. Sie hielt sich im Sattel, weil sie wusste, dass Blaze irgendwann schon müde werden würde.

Anthony fluchte leise, als er Sarah in einer Staubwolke davongaloppieren sah. Aber er hatte den Eindruck, dass Blaze schon langsamer wurde.

Als Sarah nach vorn blickte, sah sie zu ihrem Entsetzen, dass das hohe Grenztor geschlossen war. »Ho, Junge, langsam!« Aber Blaze reagierte nicht, der Schaum vor seinem Maul flog über seinen Hals. »Oh, Scheiße, Blaze!«

»Sarah, halt ihn an. Sofort! Ihr schafft das nicht!« Warrigal war fast auf gleicher Höhe mit Blaze, und Anthony streckte schon den Arm nach ihr aus.

Das Tor war nur noch wenige Meter entfernt, und Blaze war kein Springpferd. Sarah setzte sich auf und zog fest an den Zügeln, die Hacken in die Seiten des Pferds gepresst. Blaze schwankte heftig, aber die Bewegung kam zu spät. Sarah wurde aus dem Sattel geschleudert und flog über den Kopf des Pferds auf den harten Boden. Ein knackendes Geräusch ertönte.

Anthony war sofort neben ihr und tastete ihren Körper und ihr Gesicht auf Verletzungen ab. Sarah hob die Hand und fuhr sich über den Kiefer. Anthony legte seine Hand über ihre.

»Aua!«

»Sarah, bist du okay?«

Blaze hatte offensichtlich starke Schmerzen. Die rechte Nüster war eine einzige blutige Masse, und auf der Schulter hatte er tiefe blutende Wunden. Das Fell war an einigen Stellen so tief aufgerissen, dass die weißen Sehnen deutlich hervortraten. Als das Pferd vor Schmerz wieherte, sah Sarah, dass das rechte Bein gebrochen war. Sie sah die Totenmaske des Pferdes, das Cameron hätte gehören sollen, und schrie laut auf.

»Sarah, reiß dich zusammen«, murmelte Anthony. »Hast du dir etwas gebrochen?«

»Nein.« Mühsam setzte sie sich auf und schüttelte den Kopf. Das Bild ihres Bruders stand ihr vor Augen, wie er am Steigbügel seines Pferds gehangen hatte und durch das Gebüsch gezogen worden war. Damals hatte Anthony zwei Tage gebraucht, um Camerons verletztes Pferd zu finden. Niemand hatte an das Tier gedacht, nur Anthony.

»Oh, verdammt, Sarah, du hättest dich verletzen können.« Anthony zog sie auf die Füße. Man sah ihr den Schreck an, und möglicherweise hatte sie sich ein paar Rippen gebrochen, aber ansonsten schien ihr nichts passiert zu sein. »Gott, du musst lernen, vorsichtiger zu sein.« Er bürstete ihr den Schmutz von den Schultern und schob ihr die verschwitzten Haarsträhnen aus der Stirn. »Wenn du hier bist, bin ich verantwortlich für dich.«

»Verantwortlich!« Sarah kniff die Augen zusammen. »Ich habe nicht um einen Wachhund gebeten.«

»Das hätte auch sowieso nichts genützt. Warum hast du darauf bestanden, Blaze zu reiten? Ich habe dir doch gesagt, du sollst es lassen.«

Sarah senkte den Kopf.

»Ich sage doch bloß, dass dein Großvater nicht mehr so oft aus dem Haus geht wie früher. Und wenn dir etwas passiert, dann trage ich die Verantwortung.«

Sie hätte ihm lieber vors Schienbein getreten, als ihm recht zu geben. Zweige knackten im Gebüsch, und sie sahen, dass Blaze davonhumpelte. Anthony rief Warrigal zu sich, und als er im Sattel saß, lud er sein Gewehr, bevor er losritt.

Sie waren zwei Kilometer von der Farm entfernt, und da die Temperatur immer weiter anstieg, ging Sarah zum nächsten Baum, überprüfte ihn auf Schlangen und Warane, und sank dann dort zu Boden. Aus den Augenwinkeln sah sie, dass am Tor Hautfetzen von Blaze hingen. Auf dem Boden mussten Blutflecken sein. Scharen von Schmeißfliegen summten bereits über der Stelle.

Sarah lehnte sich an den Baumstamm und dachte an die Worte, die ihr Vater vor Jahren gesagt hatte. Einer der Cowboys hatte nicht aufgepasst und einen seiner Lieblingshunde überfahren. Das Tier hatte schwere innere Verletzungen und hätte die einstündige Fahrt zum nächsten Tierarzt nicht überlebt. Sarah und ihr Bruder hatten aus dem Fenster auf den armen Joe geblickt, der im Hof zusammengebrochen war, während ihre Eltern im Hintergrund stritten.

»Ich muss ihn erschießen, Sue. Wenn ich das diesem Jungen überlasse, dann kann ich nicht sicher sein, dass er es richtig erledigt.«

Cameron hatte das Gewehr ergriffen und war mit seinem Vater hinausgegangen. Sarah hörte in Gedanken immer noch das leise Murmeln ihres Vaters und die winselnde Antwort seines Hundes. Dann rannte Cameron um die Ecke des Hauses, und kurz darauf hallte ein Schuss.

Sarah schloss die Augen. Ihre Hüfte, Rippen und Knöchel schmerzten, und an ihrer Wange brannte es. Im Laub über ihr raschelte es, und sie erlebte in Gedanken noch einmal den wilden Galopp, ihren Sturz und den Krach, mit dem Blazes stolzer Hals gegen das Tor schlug. Ihr wurde übel, und sie übergab sich.

Colin. Colin hatte mit der Peitsche geknallt, fiel Sarah plötzlich ein. Er war mit ihnen an den Ställen gewesen und hatte gehört, dass Anthony gesagt hatte, sie solle Blaze nicht reiten und nicht mit der Peitsche neben ihm knallen, weil der junge Hengst noch viel zu schreckhaft war.

Ein Gewehrschuss ertönte. Vögel flogen aus den Bäumen auf. Sarah stand auf und ging steifbeinig zum Tor, wobei sie sich bemühte, nicht auf das Fleisch und die Haare am Zaunpfosten zu blicken. Blaze war das letzte Pferd, das eine Verbindung zu Cameron hatte, dachte sie traurig, als sie das Tor öffnete. Sie hätte auf Anthony hören und das Pferd ihres Bruders nicht reiten sollen.

Hinter ihr ertönte der vertraute Trab von Warrigal.

»Steig auf.« Anthony zügelte sein Pferd und streckte ihr die Hand entgegen.

»Colin war es. Er hat absichtlich mit der Peitsche geknallt.«

»Das wird er ja wohl kaum absichtlich gemacht haben. Jetzt steig auf.«

»Doch, es war Absicht.«

»Sarah, steig auf.«

»Ich gehe lieber zu Fuß.«

»Was, zwei Kilometer?«

»Es wird mir guttun.«

»Sarah, bitte, lass uns jetzt nicht streiten. Wir müssen vierhundert Rinder auf die Weide bringen und es ist schon fast Mittag. Mit den Kälbern kommen wir sowieso schon langsam genug vorwärts, aber wenn es erst einmal richtig heiß ist, dann sind sie gar nicht mehr zu bewegen.«

Sarah blickte den Weg entlang. Schon jetzt flirrte die Hitze. Ihr Gesicht brannte, und ihre Rippen schmerzten.

»Na gut.« Sie zuckte zusammen, als Anthony sie auf den Pferderücken zog. Anthony ließ Warrigal schneller traben, und Sarah, die nicht mehr die Kraft hatte, sich mit den Schenkeln festzuklammern, rutschte hin und her.

»Sarah, du rutschst so heftig herum, dass Warrigal nicht weiß, ob er in der Disco oder auf dem Rodeo ist.« Er griff nach hinten und zog sie dichter an sich heran. »Leg deine Arme um meine Taille, dann ist es bequemer für dich.«

Gehorsam schlang sie die Arme um ihn und drehte das Gesicht zur Seite, so dass sie die Wange an seinen Rücken pressen konnte. Er hatte recht, in dieser Position waren die Schmerzen nicht so schlimm.

»Du hast übrigens heute früh gute Arbeit mit den Kühen geleistet. Wir hatten einen irren Stier, der letztes Jahr von der hinteren Weide an der Ostgrenze gekommen ist. Er hat deinen Großvater und mich wie ein Dämon durch den Hof gejagt. Ich wollte ihn schon erschießen, aber dein Großvater hat ihm noch einmal eine Chance gegeben. Ich war froh, als ich ihn nicht mehr zu sehen brauchte. Vielleicht ist er ja zu einem unserer Nachbarn abgehauen. Ich hätte ihm ein H für Heimatlos als Brandzeichen verpassen sollen.«

»Du brauchst nicht mit mir zu reden, damit ich wach bleibe«, sagte Sarah ruhig.

Es fiel ihm schwer, Sarah so dicht bei sich zu spüren. Bei jedem Schritt, den Warrigal tat, fühlte er ihren zierlichen Körper und ihre Rundungen schmiegten sich an ihn.

»Es war Colins Schuld. Er hat es absichtlich getan. Es war kein Unfall. Er ist direkt an mir vorbeigeritten und hat mit der Peitsche geknallt.«

»Ich werde mit ihm reden.«

Als sie am Haupthaus ankamen, lehnte Colin nonchalant an der Kühlerhaube des Geländewagens. Anthony nickte ihm kurz zu. Der Junge hätte eigentlich beim Vieh bleiben müssen, anstatt hier auf sie zu warten.

»Ach, hat es dich aus dem Sattel gehoben?«, schnarrte Colin und drehte eine Streichholzschachtel zwischen den Fingern der rechten Hand. »Anthony hat ja versucht, dir klarzumachen, dass Blaze noch zu jung ist. Was ist denn passiert? Lahmt er?«

»Tot. In der Nähe der Buchsbäume, die wir vor ein paar Monaten vergiftet haben.«

»Ein Jammer.« Er zog ein Streichholz aus der Schachtel und kaute auf dem Holz. »Das Pferd hätte bloß einen erfahreneren Reiter gebraucht. Schade um so ein gutes Pferd.«

Anthony warf Colin einen missbilligenden Blick zu. »Du wirst dir ein Seil nehmen und den Kadaver herbringen müssen, wenn wir mit den Rindern fertig sind.«

»Ich habe gedacht, ich komme besser hierher zurück, falls es ein Problem gibt. Und das gibt es ja auch.«

Sarah schwang das Bein über Warrigals Rücken und glitt vorsichtig zu Boden. Ihre Rippen schmerzten, als sie mit den Füßen aufkam. »Das mit der Peitsche war sehr hilfreich, Colin.«

»Ich weiß nicht, wovon du redest.«

»Du bist an mir vorbeigeritten und hast direkt neben Blaze mit der Peitsche geknallt. Kein Wunder, dass er durchgegangen ist.«

»Stimmt das?«, fragte Anthony.

»Nicht dass ich wüsste, Boss. Und wenn, habe ich es sicher nicht mit Absicht gemacht.«

»Na gut.«

»Na gut«, wiederholte Sarah. Das wurde ja immer besser, dachte sie ärgerlich. Jetzt glaubte er auch noch diesem Typen.

»Echt schade um Blaze. Er war das Pferd deines Bruder, oder?«

Anthony blickte von Colin zu Sarah. Er spürte förmlich die Anspannung, die von ihr ausging.

»Kommst du, Boss?« Colin grinste und trat an seinen zerbeulten Land Cruiser. »Soll ich das Pferd mit dem Wagen holen, damit du nicht bis zur Herde laufen musst?«

»Klingt gut. Wir treffen uns in fünf Minuten an den Ställen, und Colin …«

»Ja, Boss?«

»Das nächste Mal verschwindest du nicht einfach bei so einem Job. Mittlerweile haben sich die Tiere wahrscheinlich hingelegt, und wir brauchen noch eine Stunde, um sie wieder auf Trab zu bringen.«

»Ja, Boss.« Blöde Stadttrottel, dachte er.

»Bei dir alles in Ordnung?«, fragte Anthony Sarah. Die Schürfwunde auf ihrer Wange war tiefrot.

»Klar«, rief Sarah über die Schulter. Sie ging bereits den hinteren Weg entlang. Jetzt stand ihr noch bevor, ihrem Großvater beizubringen zu müssen, dass Blaze tot war.

»Sei nicht sauer, Sarah, bitte. Colin meint es nur gut.«

»Klar, so gut, dass er Blaze erschreckt, ich herunterfalle und das Pferd jetzt tot ist. Oh, er meint es echt gut, nur nicht so, wie du denkst«, rief sie und knallte die Tür hinter sich zu.

»Scheiße! Ich bin wohl mal wieder in Ungnade gefallen.«

Warrigal wieherte.

Sarah trug Desinfektionssalbe auf ihr böse aufgeschürftes Gesicht auf und tat einfach so, als seien ihre Rippen in Ordnung. Dreimal stimmte sie ihrem Großvater zu, der meinte, was sie für ein Glück gehabt habe, dass Anthony gerade da war, als sie vom Pferd stürzte. Ja, er war ein feiner Kerl, sagte sie um des lieben Friedens willen. Ja, sie hätten unglaubliches Glück, dass sie ihn hätten.

»Farmen wie Wangallon brauchen Männer wie Anthony. Du wirst seine Talente noch zu schätzen lernen, Mädchen. Ich habe ihm viel beigebracht.«

»Und wenn er weggeht?«

»Von Wangallon weggehen?« Angus schnaubte. »Er wird nicht weggehen, und selbst die, die es tun«, er blickte sie an, »kommen wieder zurück.«

Nur zu Besuch, dachte Sarah. Seltsamerweise begann sie sich jedoch mehr zu Hause zu fühlen. Vielleicht lag es ja an der Abwesenheit ihrer Eltern. Seitdem sie weg waren, verliefen ihre Besuche auf Wangallon friedlicher.

»Anthony ist ein guter Mann.«

Natürlich profitierte Anthony vom Wissen ihres Großvaters, dachte Sarah. Allerdings fragte sie sich manchmal, ob er ihm auch so viel beigebracht hätte, wenn sie geblieben und Cameron nicht gestorben wäre. Das bezweifelte sie. Aber es war jetzt sowieso egal. Anthony sorgte dafür, dass Wangallon überlebte und ihr Großvater seine alten Tage auf der Farm verbringen konnte, die die Seelen ihrer Familie in sich barg. Wenn Anthony ging, würde Wangallons Zukunft ungewiss sein.

Das Mädchen hatte sich die Rippen gebrochen. Angus sah es an der Schonhaltung zu einer Seite, die Sarah einnahm, wenn sie sich bewegte. Er lehnte sich in seinem alten Sessel zurück und lauschte auf das tröstliche Knarren des Leders, als er seinen Hintern in die richtige Position brachte. Der alte Sessel musste wirklich mal wieder neu gepolstert werden, aber er konnte sich nicht entschließen, sich davon zu trennen, noch nicht einmal für zwei Wochen.

Seine Enkelin stand in der Tür.

»Auf was wartest du?«, brummte Angus.

»Mein Flugzeug geht um …«

»Ja, ja«, verärgert wedelte er mit der Hand, »morgen geht es wieder zurück in die Großstadt, was?« Und vermutlich zum Liebhaber. »Also, ich fahre dich zum Flughafen, aber nur unter der Bedingung, dass du zum alljährlichen Picknickrennen wieder nach Wangallon kommst.«

»So bald schon?«, fragte Sarah müde. Sie wollte eigentlich mindestens einen Monat in Sydney brauchen, um sich von diesem Besuch zu erholen.«

Angus lächelte sie liebenswürdig an. »Bitte.«

»Na gut.«

»Hervorragend.« Den Bericht von Matt Leach hatte Angus schon erhalten, jetzt musste er nur noch das Mädchen so bald wie möglich wieder hierherholen. Geld und Liebe, dachte er, damit gewann man jeden, auch seine schwierige Enkeltochter.

Es war später Nachmittag. Sarah wanderte durchs Haus. Es war so gebaut, dass die Räume so kühl wie möglich waren. In den Verbindungszimmern bauschten sich Vorhänge, die schon fadenscheinig vor Alter waren; in den verdunkelten, formelleren Räumen hingen schwere Damastvorhänge. Auf Eichen- und Mahagonipaneelen lag feiner Staub, und die Romane und Enzyklopädien des letzten Jahrhunderts standen in Bücherschränken aus Zedernholz. Die Pisé-Wände, eine Mischung aus Stroh und Schlamm, die im neunzehnten Jahrhundert üblich war, waren glatt verputzt, und Sarah fuhr mit der Hand über die kühle Oberfläche. Hinter sich hörte sie Schritte auf den gewachsten Dielenböden aus Zypressenholz. Sie blieb stehen, weil sie dachte, ihr Großvater käme hinter ihr her, aber da war niemand, und Sarah ging zurück durch das Wohnzimmer in einen anderen Gang.

Jetzt war sie im ältesten Teil des Hauses. Die Wände hier hatten Risse und unebene Holzböden. Von der langen Eingangsdiele war man früher einmal über einen überdachten Gang zum Küchenhaus gekommen. Jetzt war es verschlossen, und ein Teppich hing an der Wand, wo früher einmal eine Tür gewesen war. Erneut hörte sie Schritte, dieses Mal jedoch nur kurz. Sarah drehte sich um. Gegenüber waren zwei Schlafzimmertüren: Ein Zimmer hatte ihrem Urgroßvater, Hamish, gehört, das andere seiner ersten Frau, Rose. Heute wurde dieser Bereich des Hauses nicht mehr genutzt. Als ihre Großmutter Angie noch lebte, hatte sie Roses Zimmer als Nähzimmer benutzt, und Sue hatte nach dem erzwungenen Auszug aus West Wangallon in diesem Zimmer geschlafen. Es war seltsam, dass die Tür jetzt offen stand. Sarah trat an die Tür und stieß sie ganz auf. Drinnen befanden sich ein Waschtisch mit Keramikschüssel und einem dazu passenden Krug, ein alter Schrank und ein Bett. Sarah musste über ihre Nervosität lachen. Aber es roch nach Lavendel, und das hellrosa Bettzeug war zerknittert, als hätte gerade jemand dort gesessen.

»Was machst du in diesem Teil des Hauses?«

Sarah zuckte zusammen, als sie die Stimme ihres Großvaters hörte. »Ich dachte, ich hätte etwas gehört.«

Er zog eine Augenbraue hoch. »Das stimmt wahrscheinlich auch. Deine Großmutter hat oft etwas gehört, aber ich denke, das sind einfach die üblichen Geräusche in einem alten Haus.«

»Wie war Rose eigentlich so?«, fragte Sarah.

»Ich habe keine Ahnung, Mädchen. Sie war schon lange vor meiner Zeit tot.«

»Es gibt keine Bilder oder Erinnerungen an sie.«

»Damals hat man noch nicht so viele Fotografien gemacht. Komm, geh ein bisschen an die frische Luft.« Angus wartete, bis Sarahs Schritte verklungen waren, dann betrat er Roses Schlafzimmer, zog die Bettdecke glatt und öffnete die Vorhänge, damit die Nachmittagssonne in das Zimmer scheinen konnte. Als er ging, schloss er die Tür fest hinter sich.

Es dämmerte. Shrapnel trottete langsam den Betonweg entlang. Er setzte sich neben Sarah auf die Hintertreppe und legte den Kopf auf ihr Knie. Gähnend streckte er sich aus, dann schlief er ein. Sarah streichelte ihn. Manchmal zuckte eins seiner Hinterbeine im Schlaf, und er gab leise Laute von sich. Seit letztem Jahr hinkte er, weil er einen wilden Eber zur Strecke gebracht hatte, der die jüngsten, schwächsten Lämmer gerissen hatte. Angus hatte den Eber letztendlich erschossen, aber vorher war es dem Wildschwein noch gelungen, Shrapnels Hinterbein mit seinen Hauern aufzureißen. Liebevoll fuhr Sarah mit dem Finger über die Narbe.

Früher am Tag war Sarah im Schatten der Bäume entlanggegangen, unter denen die Hundezwinger standen. In der weitläufigen Anlage wurden die schwarz-weißen Arbeitshunde gehalten, ohne die auf Wangallon die riesigen Herden gar nicht zu bewältigen wären. Sie hatte beobachtet, wie Colin einen noch warmen Känguru-Kadaver von der Ladefläche des Toyota gezerrt hatte. Es war üblich, das Trockenfutter für die Hunde mit Frischfleisch zu ergänzen. Sarah sah zu, wie er das tote Tier geschickt zerteilte. Dabei erläuterte er, an welchen Stellen man am besten das Messer ansetzte, und an welchen Stellen die Knochen am leichtesten brachen.

Sarah lauschte ihm aufmerksam. Sie war überrascht, mit welchen Kenntnissen er an diese grundlegende Arbeit heranging. Innerhalb von zehn Minuten war er fertig, und jeder der Hunde kaute zufrieden an einem großen Stück Fleisch.

»Warum hast du heute früh mit der Peitsche geknallt?«, fragte sie schließlich.

»Habe ich nicht.«

»Es hat wenig Zweck, es zu leugnen.«

»Glaub doch, was du willst.«

Es hatte keinen Sinn, sich mit ihm zu streiten. Offensichtlich wollte Colin nicht zugeben, dass er einen Anteil an dem Unfall hatte. Erst als sich Sarah schon zum Gehen wandte, bemerkte sie den Beutel.

»Colin, du hast ein Muttertier getötet. Was ist mit dem Jungen?«

Der Cowboy stieß sein Messer in den Boden und wischte sich die blutigen Hände an seinem bereits schmutzigen T-Shirt ab. Sie kannten beide die Regeln: Töte nie ein Känguru, das ein Junges im Beutel hat. Colin zog eine Zigarette aus der Packung. An seinen Fingern klebten getrocknetes Blut und Fell.

»Es ist tot. Ich habe sie mit dem Auto gejagt und das Junge überfahren.«

»Was?« Großvater hatte ihnen immer eingebläut: Wenn ihr Respekt vor dem Busch habt, hat der Busch auch Respekt vor euch. Natürlich machten sich die Kängurus über sein Getreide her, und die Hunde mussten auch gefüttert werden, aber Muttertiere mit Jungen zu erschießen, entsprach nicht den Vorstellungen ihres Großvaters von natürlicher Selektion.

»Hör mal, Sarah«, Colin zog an seiner Zigarette, »wenn es dir nicht passt …«

»Darum geht es nicht. Es geht um richtig und falsch.«

Colin schnaubte verächtlich. Er zog sein Messer aus der Erde und wischte es noch einmal ab, bevor er es wieder in die Scheide steckte. Sarah verschränkte die Arme.

»Dein Boss ist mein Großvater. Er erwartet …«

Colin warf die Zigarette zu Boden und trat sie mit dem Absatz seines Cowboystiefels aus. »Mein Boss ist Anthony. Ich tue das, was er mir aufträgt.« Er bückte sich und ergriff den Hinterlauf des Kadavers. »Ich gehe nicht davon aus, dass du weißt, welche Aufgaben er mir überträgt. Wenn du dazu geschaffen wärst, im Busch zu sein, wärst du hier. Aber du machst nur Probleme und bringst Pferde um.« Er schleppte den Kadaver zum Toyota.

Wütend marschierte Sarah hinter ihm her. »Überleg dir gut, mit wem du redest, Colin. Ich weiß, dass du meinen Unfall verursacht hast. Glaub nicht, dass du unersetzlich bist. Ich kann Großvater ohne Weiteres bitten, dich zu feuern.«

Colin antwortete nicht sofort. Er hätte gerne etwas gesagt, was sie wirklich auf die Palme brachte. Die blöde Kuh. Aber er sollte sich nicht darüber aufregen, damit half er Anthony auch nicht. Außerdem leitete Anthony Wangallon, nicht der Alte. Natürlich gehörte ihm die Farm nicht, aber irgendjemandem musste der Alte sie ja hinterlassen, und er konnte sie ja wohl nicht einem Mädchen geben. Sein Job war sicher.

»Du erwartest auch bloß, dass alle auf dich aufpassen. Das hier ist eine Farm, kein …«, Colin hievte den Kadaver auf die Ladefläche, »… kein Ferienlager.« Sie rief irgendetwas, aber da hatte er bereits den Motor angelassen und fuhr los.

Die Luft war trocken. Shrapnel kratzte sich heftig, um die kleinen Insekten, die um ihn herumschwirrten, loszuwerden. Die tagaktiven Geschöpfe begaben sich langsam zur Ruhe, und das Zirpen der Grillen wurde lauter. Die Hunde suchten sich eine kühle Ecke zum Schlafen. Ein Pferd wieherte, aber möglicherweise war der Laut von weither durch die Luft getragen worden. Das war Sarahs Lieblingszeit, kurz nach Sonnenuntergang, wenn langsam alles stiller wurde. Im Haus duschte ihr Großvater. Gleich würde er sich die Nachrichten anschauen. Leichter Wind kam auf, als sie zum Hausteich lief, wo Schlamm die Wasserzufuhr verstopfte. Normalerweise wurde das Wasser aus dem Teich in einen großen unterirdischen Tank gepumpt, um von dort aus über Rohre ins Haus zu gelangen. Da der Teich aber mittlerweile ausgetrocknet war, lockte der Tank alle möglichen Kleintiere an, von Mäusen bis hin zu Schlangen. Es war besser, nicht hineinzusehen, bevor man duschte; allein der Geruch der ertrunkenen Tiere reichte schon aus.

Die warme Abendbrise liebkoste Sarah, als sie um das Ufer des gestauten Teichs herumlief. Unter einer großen Schwarzeiche scharrten fünf Kängurus mit ihren Jungen im Gras. Die hungrigen Tiere suchten nach Wurzeln, wobei ihre Ohren ständig wachsam zuckten. Als Sarah näher kam, pfiff sie laut, um sie zu verscheuchen. Sie rochen das Wasser unter dem Schlamm, aber wenn sie erst einmal darin feststeckten, würden sie nicht mehr weghüpfen können. Jetzt entfernten sie sich hastig in Richtung eines Wassertrogs, der für das Vieh auf einer der Hausweiden stand.

»Was machen deine Kriegsverletzungen?«

Sarah war so in Gedanken versunken gewesen, dass sie Anthony gar nicht kommen gehört hatte. Er hockte sich neben sie auf den Baumstumpf. Instinktiv hob sie die Hand, um die Schürfwunde auf ihrer Wange zu betasten. »Es tut weh«, erwiderte sie und überlegte, ob sie Colins Verhalten zur Sprache bringen sollte.

»Ich wollte nur ein paar Unterlagen holen, und da sah ich dich hier sitzen.«

Sarah betrachtete unwillkürlich die feinen goldenen Härchen auf seinen gebräunten Unterarmen. Sie blickte zu den Männerunterkünften, deren Lichter durch die Bäume schimmerten, und öffnete den Mund.

»Ja?«

»Nichts.« Ein Streit war das Letzte, was sie jetzt wollte. »Na ja, es geht um Colin.«

»Du weißt schon, dass wir nur noch zwei Vollzeit-Cowboys haben, oder? Die anderen beiden sind vor einem halben Jahr entlassen worden.«

»Ja.«

»Die Zäune lassen wir von Bauunternehmern reparieren, aber wenn wir sonst jemanden brauchen, ist es heutzutage fast unmöglich, jemanden zu bekommen. Die Leute gehen entweder alle nach Norden oder an die Küste, um zu arbeiten.«

»Ich habe über Colin geredet.«

»Ich auch. Uns steht eine Dürre bevor, Sarah. Es ist schwer, Leute zu bekommen.«

»Ich weiß, aber …«

»Lass uns nicht über Colin reden. Ich kümmere mich schon darum. Deshalb habt ihr mich doch eingestellt, oder?«

Es war das erste Mal, dass Anthony so deutlich über seine Position auf Wangallon sprach. Es kam ihr seltsam vor, als ob auf einmal eine Mauer zwischen ihnen wäre. »Okay.«

Anthony lehnte sich gegen den Baumstamm. Zwei Schritte vorwärts mit Sarah bedeuteten immer auch drei zurück. Zuerst der Unfall, und jetzt beschwerte Colin sich, Sarah wolle, dass er entlassen würde. Er sah, dass sie in den Sternenhimmel blickte. Hier draußen, weit entfernt von den hellen Lichtern der Stadt, schimmerten sie wie Kristalle am Nachthimmel.

»Es ist nicht so klar wie sonst. Der Staub trübt die Luft«, sagte Anthony leise. Er war froh, dass sie wenigstens hier sitzen und reden konnten. Eigentlich hatten sie nur Wangallon gemeinsam, dachte er. Das und eine emotionale Vergangenheit. Jemand hatte mal zu ihm gesagt, dass Menschen nur aus zwei Gründen zueinanderfinden: gemeinsame Interessen und/oder gemeinsame Leidenschaft. Vielleicht war Wangallon ja nicht genug. »Mein Dad hat gerade die Nachbarfarm gekauft«, sagte er. »Wenn ich wollte, könnte ich jetzt nach Hause zurückkehren. Jetzt ist genug Land für mich und meinen Bruder da.« Er wartete auf Sarahs Antwort. Jetzt, wo sich ihm die Gelegenheit bot, wieder nach Hause zurückzukehren, hatte er kein Interesse mehr daran. Sein Leben spielte sich in Wangallon ab. Sarah hatte recht gehabt, als sie ihm damals gesagt hatte, die Farm würde einem ins Blut gehen. Das war tatsächlich so. Er blickte sie an. Wenn er doch nur wüsste, was in ihrem Kopf vorging.

»Würdest du denn gehen?« Wangallon ohne Anthony konnte sie sich nicht vorstellen. Sarah lief ein Schauer über den Rücken.

»Wahrscheinlich nicht.«

Erleichtert lächelte Sarah ihn an. Wortlos berührte sie seinen Arm.

»Und du fährst morgen wieder?«

»Ja. Aber ich habe Großvater versprochen, zu den Picknickrennen wieder zurückzukommen.«

»Hervorragend. Kriege ich einen Tanz?«

»Ja, klar.« Sie dachte an Jeremy. Am liebsten wäre ihr, wenn er sie begleiten würde, aber sie wusste schon jetzt, dass er nicht mitkommen würde. »Auf jeden Fall.«

Anthony grinste. »Ich halte dich auf dem Laufenden, damit du weißt, wie es Angus geht.«

»Ja, nun, er wird eben alt, aber sein Verstand ist immer noch messerscharf.«

Anthony fiel nichts mehr ein, über das sie noch reden konnten. »Ich schaue mich auch mal nach einem neuen Pferd für dich um.« Er erhob sich.

»Ja, das wäre gut. Danke, Anthony.« Ihre Stimme klang ein wenig traurig. Dieses Mal tat es ihr leid, dass sie schon wieder fahren musste. Zum ersten Mal seit Camerons Tod hatte sie das Gefühl, lieber bleiben zu wollen.