Winter, 1987

Wangallon Station

Der Sturm braute sich im Westen zusammen. Hinten am Horizont ballten sich die Wolken und schoben sich bedrohlich auf sie zu. Der Wind frischte auf, als Sarah und Anthony den Schuppen verschlossen und die Hunde in ihren Zwingern losbanden. Die Tiere kauerten im Staub unter den hohen Bäumen, die sich im Wind bogen. Drinnen schlossen sie jede Tür und jedes Fenster und stopften Handtücher in alle Öffnungen. Wenn der Sturm losbrach, brachte er das rote Herz von Australien mit sich, und die körnigen Partikel würden ihren Weg durch jede noch so kleine Ritze finden. Bei Einbruch der Dunkelheit würde sich die Erde von Ayers Rock mit dem trockenen Staub von Wangallon über dem Pazifik mischen. Über Sydney würde eine Staubglocke hängen, und die Leute, die in den Büros arbeiteten, würden an dem Staub aus dem Busch fast ersticken.

»Kommst du zurecht?«, fragte Anthony. Die Küche sah noch genauso aus, wie Angus sie eine Woche zuvor verlassen hatte. Auf einem Teller in der Spüle lagen trockene Brotkrümel, auf dem Tisch stand noch eine halb volle Tasse Tee. Anthony sah, wie Sarah aus dem Küchenfenster starrte. Er hätte sie gern getröstet, aber bisher hatten sie nur wenige Worte gewechselt, seit er ihr kurz von Angus’ Unfall berichtet hatte.

»Erzählst du es mir jetzt?« Sie faltete die Hände auf dem Küchentisch, damit sie nicht zitterten. Der Jetlag machte sie ganz benommen, und sie war müde.

»Er ist von einem durchgedrehten Stier auf die Hörner genommen worden«, begann Anthony. »Wir waren mit dem Einladen fast schon fertig, als dieses wahnsinnige Tier ausgebrochen ist und … na ja, dein Großvater hatte keine Zeit, sich zu bewegen.«

»Wo warst du denn? Konntest du nichts tun?«

Anthony räusperte sich. Er war an jenem Nachmittag nach Angus’ Eröffnung so abgelenkt gewesen, dass er überhaupt keine Kontrolle über die Situation gehabt hatte. »Wie gesagt, es geschah alles so schnell. Er war ziemlich schlimm dran.«

Sarah stellte sich das Bild vor: das Blut, ihr Großvater, der am Boden lag, das Chaos, das darauf folgte und die abgelegene Lage der Farm.

»Ich habe sofort die Polizei und diese Notfall-Schwester angefunkt.« Anthony räusperte sich erneut. »Pete hat den Krankenwagen hergelotst. Dein Großvater hat wahrscheinlich gedacht, er überlebt es nicht.« Er setzte sich neben Sarah und legte seine Hand über ihre. »Als es kühl wurde, haben wir ein Lagerfeuer gemacht und ihn näher herangetragen. Er hat sich mit keinem Ton beklagt, kein Wort gesagt. Es war eine wunderschöne Nacht, Sarah. Die Sterne waren so nahe, man hätte sie berühren können. Er drückte meine Hand.« Anthonys Stimme wurde leiser. »Der Krankenwagen brauchte so lange. Ich habe Shrapnel neben ihn gelegt. Komisch daran war, aber das konnte ich niemandem sagen, ich glaube, er wollte einfach da draußen am Lagerfeuer liegen bleiben.«

Sarah strömten die Tränen über die Wangen.

»Es war so, als ob … als ob noch andere Leute da wären. Er sagte: Es ist ein guter Tod, für uns beide.«

»Aber er ist doch nicht gestorben«, warf Sarah hoffnungsvoll ein. »Er ist doch nicht gestorben.« Wütend wischte sie sich die Tränen ab. Draußen klapperte das Aluminiumgestänge der grünweißen Markisen.

»Nein, er ist nicht gestorben.« Er konnte doch noch nicht gehen, dachte Anthony, sein Lebenswerk war ja noch nicht vollendet.

Die Wärme von Anthonys Hand breitete sich endlich auch in Sarahs Körper aus. Sie reckte den Kopf von einer Seite zur anderen, um ihre verkrampften Muskeln zu lockern. »Und Shrapnel?«, fragte sie. Anthony senkte den Blick.

»Der Hund hat ihn verteidigt«, murmelte er. »So etwas habe ich noch nie erlebt.« Anthony holte tief Luft. »Und ich hätte es nie für möglich gehalten. Shrapnel muss doch mittlerweile über sechs Jahre alt sein. Aber als er sah, dass der Stier Angus angriff, hat er nicht eine Sekunde gezögert.«

»Ist Shrapnel tot?«, fragte Sarah, aber eigentlich wusste sie die Antwort bereits.

»Der Stier griff an und warf deinen Großvater um. Shrapnel verbiss sich sofort in den Hals des Tieres. Drei Mal wurde er abgeschüttelt, und drei Mal sprang er ihn wieder an. Es passierte alles so schnell. Bis ich das Gewehr bereithatte, war dein Großvater an der Seite schon übel zugerichtet. Aber er stand schon wieder auf den Beinen und versuchte, über den Zaun zu klettern. Zäher alter Kerl. Pete hing über ihm am Pfosten, um ihn hochzuziehen. Ich feuerte ein Magazin leer, aber der Stier war schon losgerannt. Shrapnel flog in die Luft und geriet zwischen deinen Großvater und die Hörner des Bullen. Er war ganz aufgerissen, und ich vermute, er war sofort tot. Zwei Schritte von deinem Großvater entfernt ist dann auch der Stier tot zusammengebrochen.«

»Und?« Sarah wusste, dass es noch nicht zu Ende war.

»Angus taumelte auf Shrapnel zu, streichelte ihn und brach dann ebenfalls zusammen.«

Sarah wollte eigentlich nicht mehr weinen, weil sie das Gefühl hatte, nicht mehr aufhören zu können, wenn sie einmal anfing.

Wortlos ließ Anthony Sarah am Küchentisch sitzen und wanderte allein durch das Haus, um überall das Licht einzuschalten. Vielleicht war diese Tragödie ja wenigstens dazu gut, dass sie wieder Freunde wurden. Warum fiel es ihm dann so schwer, sie zu trösten? Am Flughafen hatten sie sich einmal kurz umarmt, aber im Krankenhaus, im Krankenhaus war sie schweigsam gewesen, deshalb hatte er sich nur noch den Bericht des Arztes über Angus’ kritischen Zustand angehört und sie dann am Bett des alten Knaben allein gelassen. Kurz darauf war sie in den Warteraum gekommen und hatte sich mit einem kräftigen Tritt gegen den Automaten eine Cola und einen Schokoriegel gezogen.

Auch Sarah erhob sich vom Küchentisch und wanderte durch die muffigen Zimmer. Als sie mit dem Finger über den alten Esstisch aus Eiche fuhr, hinterließ er eine tiefe Linie in der dicken Staubschicht. Alles wirkte angelaufen und verschmutzt. Ihre Finger berührten die Stellen, die an Cameron erinnerten. Da war der Kratzer von seinen Sporen. Ein kleiner Tintenstrich markierte den Platz am Tisch, wo er einmal einen Brief geschrieben hatte; der Riss daneben stammte von der trockenen Hitze im Outback. Auch die Wände hatten teilweise Risse, wo sich das Fundament gesetzt hatte. Räume, getränkt mit den Erinnerungen an die Familie, an ihre Großmutter, an Liebe, Tod und Freude. Es schien so viel mehr Zeit vergangen zu sein als die wenigen Wochen, seit sie zuletzt hier gewesen war, seit sie Anthony das letzte Mal gesehen, ihr Heimatland verlassen, einen neuen Bruder gefunden und wieder verloren hatte. Und jetzt lag ihr Großvater im Krankenhaus. Er war fast siebenundachtzig, und sie bezweifelte, dass er wieder ganz gesund werden würde.

In ihrem Zimmer begrüßte sie der alte Packkisten-Schreibtisch mit den Baumwollgriffen. Das Holz wies zwar einen großen Riss quer über die Platte auf, war aber ansonsten in bemerkenswert gutem Zustand. Die rechte Kante war glatt von den Armbewegungen beim Schreiben. Die hellblaue Farbe war beinahe verblichen, aber die kleinen Schubladen oben auf dem Schreibtisch ließen sich noch öffnen, und die beiden großen Schubläden darunter voller Briefe, Fotos, getrockneter Blumen, Steine; kostbare Erinnerungen an das Leben vor dem Tod ihres Bruders. Es war ein alter Schreibtisch, ziemlich hässlich und unhandlich. Früher einmal hatte ihn ihr Urgroßvater Hamish benutzt, dann ihr Großvater, und als ihre Eltern aus West Wangallon weggezogen waren, hatte sie Anspruch darauf erhoben. Wo war jetzt die Familie, an die sie ihn weitergeben konnte?

Der Wind ließ nach, und auch der Staub der Dürre legte sich. Sarah brauchte kein Tageslicht, um die zerfallende Welt zu sehen, die sie erwartete: gebrochene Dämme, festgebackener Schlamm, zum Skelett abgemagerte Tiere. Ob es dunkel war oder hell, der endlose Kampf ums Überleben umgab sie und ihr Heim. Doch der Unfall ihres Großvaters ging über das erträgliche Maß hinaus und traf sie mitten ins Herz.

Als Anthony sie fand, saß sie auf der Bettkante. Er klopfte an ihre Tür, stellte ihren Koffer ins Zimmer und vergewisserte sich, dass die Verandatüren fest verschlossen waren.

»Morgen fangen wir mit dem Scheren an.«

»Alles unter Kontrolle?« Die Sätze kamen automatisch aus ihrem Mund. Warum konnte sie ihm nicht sagen, wie verzweifelt traurig und besorgt sie war? Er lehnte schwer am Türrahmen, eine Hand in der Tasche seiner Jeans. Seine braun gebrannten Unterarme wirkten noch dunkler gegen die hochgeschobenen Ärmel seines cremefarbenen Pullovers.

»Dein Vater war letzte Woche hier, dann ist er wieder an die Küste zurückgefahren. Er versucht, Sue in so einer Art Hospiz unterzubringen, und hofft, bis Samstag wieder hier sein zu können. Na gut, ich lasse dich jetzt schlafen.« Sarah saß immer noch auf der Bettkante und rührte sich nicht. »Dein Großvater hat mich als Familienmitglied behandelt. Ich habe nicht damit gerechnet, aber es war so, und es hat mir viel bedeutet.« Er zögerte. »Ich wollte dir nur sagen, wie dankbar ich dafür bin.«

»Ich weiß.«

Nun, wenigstens hörte sie zu. »Brauchst du noch etwas?«

»Nein, danke.« Sie musste unbedingt etwas sagen. »Anthony?«

»Ja?«

»Danke für alles.«

Er lächelte.

Sarah überlegte, wie sie das Gespräch ausdehnen könnte.

»Ich, äh, ich wollte dir sagen, dass ich Angus mit zweimonatiger Frist gekündigt habe. Das war kurz vor dem Unfall, aber jetzt bleibe ich natürlich, bis er wieder auf den Beinen ist und ich Ersatz gefunden habe.«

»Warum hast du das denn gemacht?« Sarah erhob sich mühsam. »Ich dachte, du bist gerne hier.« Sie trat einen Schritt auf ihn zu. »Ich weiß, dass alles ein bisschen schwierig war, und dass wir Probleme miteinander hatten, aber …« Sarah überlegte krampfhaft, wie sie ihren Satz formulieren sollte. »Das Geschäftliche kommt immer an erster Stelle«, schloss sie lahm.

Anthony blickte sie an und dachte daran, dass sie Angus Gordons Enkelin war. »Es ist nie ums Geschäft gegangen, Sarah, das ist mir jetzt klar. Wangallon packt dich. Es geht dir ins Blut, und du wirst es nicht mehr los. Na klar liebe ich die Farm, natürlich möchte ich hierbleiben, aber die Dinge haben sich für mich geändert. Im Grunde hat Angus mir den Unterschied zwischen dem richtigen und dem falschen Weg, sein Leben zu leben, gezeigt, und ich möchte letztendlich lieber Freunde als Feinde haben.«

»Aber du kannst nicht gehen, Anthony.«

»Niemand ist unersetzlich, Sarah.« Er wandte sich zum Gehen. »Wir sehen uns dann morgen früh im Schuppen.«

»Anthony?«

Er schloss leise die Tür hinter sich.

Sarah starrte auf die geschlossene Tür. Was sollte sie nur tun, wenn Angus nicht überlebte und Anthony Wangallon verließ? Draußen heulte der Wind um das Haus. Sie zog die Vorhänge vor die Verandatüren und öffnete ihren Koffer. Sie würde morgen über alles nachdenken. Sie nahm ein paar Blusen und einen Pullover aus dem Koffer und öffnete die oberste Schublade ihrer Kommode. Dort, auf Anthonys blauem Schal, lag der goldene Armreif. Sie konnte sich nicht erinnern, ihn dort hingelegt zu haben. Sie nahm ihn in die Hand und betrachtete das Schmuckstück. Trotz einiger Dellen und Kratzer war es wunderschön gearbeitet, und sie fragte sich, warum es ihr früher trotz seiner einfachen Schönheit nie gefallen hatte. Gerade wollte sie den Reif über ihr Handgelenk schieben, als eine Diele knarrte. Sie legte es zurück in die Schublade, weil sie glaubte, Schritte zu hören.

Sie trat an die Tür aus Zedernholz und wollte sie schon öffnen. Das ist albern, schalt sie sich. Das alte Haus streckte sich, das hatte ihr Großvater doch schon gesagt. Trotzdem überlief sie ein Schauer, und sie legte sich bekleidet ins Bett und zog sich die Decke bis zum Kinn. Der Wind heulte ums Haus, und das Haus ächzte und stöhnte. Anthony ging, und ihr Großvater lag im Krankenhaus. Nichts war so, wie es sein sollte: Niemand war glücklich, und am allerwenigsten sie. Sie schloss die Augen, und das Geräusch von Schritten folgte ihr bis in die Träume.

Es roch nach Wolle und Mist, als Sarah den Wollschuppen betrat. Es war noch früh, und in den Höfen brüllten die Männer, die die Schafe für den Tag zusammentrieben. Der beißende Geruch nach Chemikalien lag in der Luft. Es war ein kalter Morgen, und ohne ihre Wolle froren die Schafe in dem eisigen Winterhauch. Wenn sie frisch geschoren aus dem Schuppen kamen, wurden sie in einem größeren Hof in einen Gang getrieben, der in einer Rampe über einem Becken endete. Dort wurden sie in eine Mixtur aus Wasser und einem Mittel gegen Läuse getaucht. Danach schwammen sie ans Ende des Beckens, schüttelten sich, wenn sie herauskamen, und wurden dann auf die Weide gelassen. Sarah erinnerte sich daran, wie einmal das Kleinkind von Gästen, die den Wollschuppen besichtigt hatten, beinahe in das Tauchbecken gefallen wäre.

Ihr Urgroßvater Hamish hatte den Wollschuppen renoviert. Es war ein riesiges Gebäude, das auf anderthalb Meter hohen Pfeilern ruhte, so dass auch darunter Schafe getrieben werden konnten, ebenso wie auf die umliegenden Höfe, die den Schuppen umgaben wie ein kompliziertes Spinnennetz. Von dem großen Balken, der quer durch das Gebäude verlief, hatten früher Petroleumlampen gehangen. Heute waren daran natürlich elektrisches Licht und Ventilatoren befestigt. Darunter, auf dem von Lanolin glatten Holzboden, befanden sich sechsundzwanzig Scherstationen, um den Tieren, die immer noch das Herzstück von Wangallon bildeten, die Wolle abzuscheren.

Ihr Urgroßvater würde staunen, wenn er die Veränderungen in diesem Jahrhundert sehen könnte, dachte Sarah. Die Wollpresse war jetzt elektrisch, ein glänzendes Metallmonster, das gar nicht zum Alter des Schuppens passte. Die Holzpresse von früher war verschwunden, und niemand brauchte mehr in der roten Tonne die Wolle zu treten, wie früher die Winzer die Trauben getreten hatten. Auch die Verpackung der Wolle in Sackleinen war Geschichte, heute benutzte man dazu synthetisches Material. Die Ansteckungsgefahr jedoch war nicht geringer geworden. Sarah blickte sich um. Alles war makellos sauber. Heutzutage wurden so viele Überprüfungen vorgenommen und niemand wollte riskieren, dass die Inspektoren Zigarettenkippen, leere Päckchen, Verpackungsmaterial oder auch einfach nur Schmutz fanden. Eine saubere Schur war unumgänglich. Die Tiere hatten schon mit genügend Problemen zu kämpfen. Staub und Ungeziefer nach einer schlechten Saison machten die Wolle matt und minderten die Qualität.

»Schon hier?« Colin musterte sie von oben bis unten.

»Und du bist immer noch hier«, erwiderte Sarah steif, die Hände in die Hüften gestemmt.

»Dank dir habe ich eigentlich meinen Job verloren. Allerdings ist es mir gelungen, als Scherer eingestellt zu werden.«

»Na, das ist ja eine Überraschung.« Ihr herablassender Ton verjagte ihn. Ein grimmiges Lächeln umspielte ihre Lippen, als er wegging. Wie sie Colin kannte, hatte er den anderen Scherern bestimmt schon Lügen über sie aufgetischt. Sie würde aufpassen müssen, dass sie nichts tat oder sagte, was jemandem Munition gab.

Anthony tippte sich an die Hutkrempe, als er an ihr vorbei in den Maschinenraum ging. Sechsundzwanzig Scherer in allen Altersklassen folgten ihm. Manche nickten, manche ignorierten sie, manche grinsten. Sarah lächelte gleichmütig. Ganz hinten in der Reihe stießen sich zwei Männer mit den Ellbogen an und warfen ihr über die Schulter Blicke zu. Sie wusste, was sie dachten. Sie war die letzte Gordon, und sie rechneten nicht damit, dass sie bleiben würde.

»Keiner hat geglaubt, dich hier noch mal zu sehen.« Colin war wieder aufgetaucht.

»Ebenso.«

»Sie denken, der alte Knabe geht drauf. Was für eine Art, sich zu verabschieden. Na ja, und es war auch keiner von der Familie dabei, als es passiert ist. Nur Anthony.«

Sarah blieb ganz ruhig. Er wollte sie provozieren, um die Bewunderung der Männer zu erringen.

Er zog eine zerdrückte Schachtel Streichhölzer aus der Tasche und zündete sich eine Zigarette an.

Das Summen der elektrischen Maschine war bis hierher zu hören. Jeder Scherer ging zu seinem Gehege, jeder zog ein Schaf heraus, und sie begannen fast gleichzeitig zu scheren. Colin zog an seiner Zigarette und blies ihr den Rauch direkt ins Gesicht, dann ließ er die Zigarette zu Boden fallen und drückte sie mit dem Absatz seines Stiefels aus. »Sie sagen, Anthony erbt das Ganze.« Seine Stimme war über dem Geräusch der Maschine kaum zu hören. »Na, was anderes ist dem alten Knaben auch nicht übrig geblieben. Er kann die Farm ja nicht gut einer Frau vermachen.« Er zog sein rotes Notizbuch aus seiner Hemdtasche. »Außerdem ist deine Familie ja nicht gerade bekannt dafür, dass sie durchhält. Ich sage dir was«, fügte er mit schiefem Grinsen hinzu und schlug das Notizbuch auf. »Wir könnten ja darauf wetten …«

»Du solltest lieber auf etwas wetten, bei dem du gewinnen kannst, Colin«, erwiderte Sarah.

Er zuckte mit den Schultern und blickte ihr nach, als sie wegging. Eins war sicher: Wenn sie tatsächlich hier blieb, würde Anthony alle Hände voll zu tun haben, sollte sie jemals Boss werden.

In der Rauchpause fuhr Sarah zurück zur Farm. Sie hatte das Bedürfnis, mit Mrs Jamieson zu telefonieren. Hoffentlich war es in Schottland noch nicht zu spät, immerhin war Australien elf Stunden voraus.

»Mädchen, wie schön, von Ihnen zu hören.«

Sarah konnte sich vorstellen, wie Mrs Jamieson auf ihrem durchgesessenen Sofa saß, in der geblümten Kittelschürze, die Strickjacke um die Schultern gezogen. Sarah setzte sich mit einer Tasse Kaffee an den Küchentisch und berichtete ihr kurz vom Unfall ihres Großvaters.

»Das tut mir leid, meine Liebe. Ihr Vater hat immer voller Hochachtung von ihm gesprochen. Aber er hat das Schlimmste ja überstanden und sicher noch ein paar gute Jahre vor sich. Sagen Sie, haben Sie denn mit Ihrem jungen Mann gesprochen? Anthony, so hieß er doch, oder?«

»Wie geht es Jim? Haben Sie ihn gesehen?« Es war leichter, Mrs Jamiesons Fragen zu ignorieren. »Meinen Sie, ich könnte ihn anrufen?« Wie gerne sie jetzt mit ihm sprechen würde. Gedankenverloren rührte sie in ihrem Kaffee und legte den Löffel auf den Tisch.

»Er ist nach Edinburgh gefahren, Mädchen.«

»Er weiß es. Weiß er es, Mrs Jamieson?«, fragte Sarah atemlos.

»Nein, Kind, er weiß es nicht.« Mrs Jamieson schürzte die Lippen.

»Oh.«

Das Mädchen klang enttäuscht, aber Mrs Jamieson hielt es ehrlich gesagt für besser. »Und, wie geht es Anthony?«

Sarah trank einen Schluck Kaffee und verbrannte sich die Kehle an dem heißen Getränk. »Seit ich wieder in Wangallon bin, hat sich einiges verändert. Er hat gekündigt.«

»Aber Sie haben ihm gesagt, er soll bleiben, oder?«, fragte Mrs Jamieson hoffnungsvoll.

»Ja, natürlich. Aber mit Großvaters Testament ist das alles schwierig.«

»Das überrascht mich nicht. Ich könnte mir vorstellen, dass Anthonys Kündigung seine Pläne durcheinanderbringt.«

»Daran habe ich noch gar nicht gedacht.« Sarah schob die Kaffeetasse weg und konzentrierte sich auf das Gespräch. »Ich denke, Anthony ist klar geworden, dass die Sache mit dem Erbe einfach nicht funktioniert; vor allem, dass ich fünf Jahre hierbleiben muss und …«

»Wenn er geht, löst er damit all Ihre Probleme, Kind.«

Das stimmte. Wangallon würde ihr gehören, wenn sie hierbliebe. »Es gäbe keine Bedingungen, keinen …«

Mrs Jamieson räusperte sich. »Keinen Anthony«, sagte sie. »Bedeutet er Ihnen etwas?«

»Das ist nicht der Punkt, Mrs Jamieson.«

»Ach nein? Und um was geht es dann?«

Sarah dachte daran, wie sie nach Camerons Tod am Fluss gewesen waren. »Es war nach Camerons Beerdigung. Ich wusste, dass etwas zwischen uns war, obwohl er nie mit mir ausgegangen ist. Und dann, als ich ihm sagte, ich würde Wangallon verlassen, bat er mich plötzlich zu bleiben. Und viel später, bei den Rennen, da habe ich ihn noch einmal abgewiesen.«

»Sie glauben also, dass sich seine Gefühle Ihnen gegenüber wegen dieses einen Vorfalls geändert haben?«

»Deswegen und wegen des Drucks von meinem Großvater und Wangallon.« Sarah rieb sich müde über das Gesicht. »Ich glaube, Anthony hat so getan, als ob ich ihm was bedeuten würde, weil er von Großvaters Plänen wusste und glaubte, es würde alles viel einfacher machen.«

»Sie wissen schon, was Sie da sagen, oder? Sie sagen, er bedeutet Ihnen etwas, aber Sie haben Angst, dass Ihre Gefühle nicht erwidert werden.«

»Nein, das stimmt nicht.«

Mrs Jamieson hätte beinahe laut gelacht. Es klang so, als ob dieser Anthony hohe moralische Standards hätte, und als ob er etwas für Sarah empfinden würde, wenn ihre Intuition korrekt war. »Dann will er also die Farm verlassen, weil er es nicht aushalten kann, auch nur einen Moment länger in Ihrer Nähe zu sein, da er Sie ja so verabscheut.« Trotz der großen Entfernung konnte Mrs Jamieson förmlich hören, wie Sarahs Gedanken sich überschlugen. »Glauben Sie nicht, Sie kennen Anthony mittlerweile lange genug, um zu wissen, wie er denkt? Ich glaube, die einzige Person, die nicht weiß, was sie will, sind Sie. Und jetzt muss ich auflegen, ich erwarte Gäste. Aber tun Sie mir einen Gefallen und denken Sie über eines nach. Wie würden Sie sich fühlen, wenn Sie Anthony nie wieder sehen würden? Denken Sie darüber mal nach und passen Sie gut auf sich auf, Kind.«

Sie legte auf, fuhr sich durch die Haare und zog sich eine frische Schürze an. In Kürze kam ein junges amerikanisches Paar, und sie musste das Abendessen vorbereiten. Allerdings ging ihr diese junge Frau auf der anderen Seite der Welt nicht aus dem Sinn. Es war an der Zeit, dass die Männer der Gordons auch einmal die Verantwortung für ihre Handlungen übernahmen, entschied sie. Erneut griff sie zum Telefon. Sie hatte schon einmal angerufen, und nichts und niemand würde sie davon abhalten, es wieder zu tun. »Ich brauche eine Telefonnummer in Australien. Es ist ein Krankenhaus.«

Sarah arbeitete schweigend an einer Seite eines Wolltischs. Sie säuberte die Ränder von jedem Fell, das auf dem Tisch ausgebreitet lag. Es wurde in die Luft geworfen, damit sich Staub und Schmutz lösten, dann zupfte sie die weiche Wolle voller Insekten, Mist, Urinflecken und Pflanzenreste aus und warf sie beiseite. Sie würde später gepresst werden. Waren die Ränder gesäubert, wurde das Vlies eingeschlagen und mit der cremeweißen Innenseite nach oben aufgerollt. Anschließend half sie Pete bei der Klassifizierung der Wolle. Jedes Vlies wurde begutachtet und je nach Länge, Farbe und Feinheit in eine Tonne geworfen, die an der Wand des Schuppens standen.

In der Rauchpause brachte Anthony eine weitere Herde hinein. Er setzte sich zu den übrigen Männern, die ihre Pause genossen. Der Koch, der Eier-Sandwiches und steinharte Kekse gebracht hatte, kam gerade, um abzuräumen.

»Fertig mit dem Tee?«, brummte er und schwenkte die große Teekanne.

»Ich nehme noch einen.« Anthony hob seinen zerbeulten Blechbecher und wartete darauf, dass der Koch die fünf Schritte in seine Richtung machte. Eigentlich hätte er aufstehen und sich selbst etwas nehmen sollen, aber Corker, der Koch, führte sich immer so dramatisch auf, dass Anthony ihn ein bisschen ärgern wollte.

»Zucker?«, fragte Corker höflich, nachdem er das dunkle Gebräu in Anthonys Becher gegossen hatte. Sein schiefes Grinsen wurde durch die zwei fehlenden Vorderzähne nicht schöner. »Danke, ich bin süß genug.«

»Die Toasts waren verbrannt«, rief einer von den Scherern. »Wenn ihr mich fragt, kann der Mann gar nicht kochen.«

Corker sammelte die leeren Becher und die Platte für die Sandwiches ein. Mit seinem haarigen Unterarm wischte er die Platte sauber, bevor er sie sich unter den Arm klemmte. »Aber gegessen habt ihr alles, was? Undankbares Gesindel!«

»Das Essen ist beschissen, Boss!«, rief ein junger Kerl.

Anthony schmunzelte. »Schmeißt den Toaster weg, dann ist auch der Toast nicht verbrannt.«

»Hmmmm!« Corker rieb sich seinen dicken Bauch, über dem sein verblichenes blaues Hemd spannte.

»Ignorier sie einfach, Corker«, riet Anthony ihm. »Die Typen wissen sowieso nicht, was gutes Essen ist.« Es war so leicht, den Koch auf die Palme zu bringen. Der Koch schenkte ihm ein schwaches Lächeln. Der kleine Zwischenfall hatte seinen Zweck erfüllt. Die Stimmung war locker, als die Männer aufstanden und sich langsam wieder an die Arbeit machten.

Sarah saß auf einem Wollballen etwas abseits von den Männern. Mit beiden Händen hielt sie ihren Blechbecher umklammert. Corker freute sich, dass sie wenigstens eins von seinen Eier-Sandwiches gegessen hatte. So besonders gut hatte sie an ihrem ersten Tag zurück auf Wangallon nicht ausgesehen.

»Anthony, kann ich dich in der Mittagspause sprechen?«

»Klar, Sarah. Ich komme ins Haus.«

Sarah saß am Küchentisch, erschöpft von einem langen Morgen am Wolltisch, als der Toyota vorfuhr. Zum Glück wollte ihr Vater morgen Abend kommen, nachdem er Angus im Krankenhaus besucht hatte. Sie freute sich, ihn zu sehen.

»Wie geht es?« Anthony betrat die Küche, als ob er schon sein ganzes Leben lang hier gewohnt hätte. Er öffnete einen Schrank und nahm ein großes Glas heraus. Nachdem er sich Wasser eingeschenkt hatte, setzte er sich ebenfalls an den Tisch. »Gibt es was zu essen?«

Sarah schob ihm die Hälfte ihres Corned-Beef-Sandwiches zu, und sie aßen schweigend. Seit drei Tagen wartete sie darauf, dass er etwas zu ihrer Arbeit sagte, aber er hatte kaum Interesse daran gezeigt. Es war verdammt schwierig, die Felle richtig einzuordnen und zu klassifizieren. Natürlich war Pete dabei, aber sie fühlte sich trotzdem unsicher.

»Ist alles in Ordnung?«, fragte Anthony gutmütig.

»Diese Schur scheint dir nicht besonders wichtig zu sein«, erwiderte sie. »Sonst würdest du mich doch genauer beobachten. Schließlich bin ich nicht qualifiziert für diese Arbeit. Ich besitze kein Zertifikat in Woll-Klassifizierung.«

»Ich wusste gar nicht, dass du so gerne Corned Beef isst. Schmeckt aber gut.« Anthony aß den letzten Bissen seines Sandwiches.

»Es dauert Jahre, bis man seine Herde kennt. Mit einer Schafzucht muss man aufgewachsen sein. Wenn die Ballen nicht von gleichbleibender Qualität sind, wie sollen wir dann einen guten Preis erzielen?«

Anthony schenkte sich ein weiteres Glas Wasser ein, trank durstig und blickte auf die Uhr an der Wand. Sie hatten nur eine Stunde Mittagspause, und die Frau hatte nichts Besseres zu tun, als ihre Fähigkeiten klein zu machen und ihn zu verärgern.

»Du bist doch auf dieser Farm aufgewachsen, Sarah. Du bist schließlich eine Gordon, und die Gordons sind doch von Anfang an schon hier. Ich kann mir niemand Besseren im Wollschuppen vorstellen. Also, hör auf zu jammern und übernimm Verantwortung für deine Aufgaben.«

Sarah öffnete den Mund.

»Und da ich gehen werde, musst du dich sowieso an die alltäglichen Pflichten gewöhnen. Du musst Autorität ausstrahlen, damit der neue Verwalter dich ernst nimmt. Die Männer müssen wissen, dass du nicht nur eine würdige Nachfolgerin, sondern auch ein hart arbeitendes Mitglied des Teams bist.«

Sie wartete darauf, dass Wut in ihr aufstieg, aber das Gegenteil trat ein. Sie aß ihr Sandwich auf, räumte die Teller ab und sagte Anthony, sie würde pünktlich wieder in den Schuppen kommen. Als er gegangen war, dachte sie über seine Worte nach. Anscheinend setzte er großes Vertrauen in sie. Aber er ging. Bei dem Gedanken daran brach sie in Tränen aus.