Sommer, 1857
Die Goldfelder von Victoria
Sechs Tage in der Woche suchten sie nach Gold; sie gruben, sie siebten, sie bewegten die Erde. Am siebten Tag jedoch badeten sie und lasen die Bibel, und dann studierte Hamish, der Lesen übte, alles Gedruckte, dessen er habhaft werden konnte. Charlie hingegen war meistens so erschöpft, dass er den ganzen Tag über schlief. Sie fanden keine großen Goldvorkommen, aber immerhin hatten sie genug zu essen und konnten auch ein bisschen sparen. Hamish bewahrte den kleinen Stapel Geldscheine in seinen Stiefeln auf. Wie Hamish es schon vermutet hatte, besserte sich Charlies Gesundheitszustand nicht. Da er jedoch bereits ein Abreisedatum festgelegt hatte, achtete er darauf, dass sie die letzten Wochen auf den Feldern nicht vergeudeten. Er perfektionierte seine Gewohnheit, den Gesprächen anderer zu lauschen, und entwickelte darin eine solche Fertigkeit, dass alle ihn nur noch bei seinem Spitznamen, »Der Stumme«, nannten. Er beobachtete die Auseinandersetzungen in anderen Gruppen und lernte, bei seinen Leuten alles ruhig zu halten. Bevor Diebe bestraft wurden, fragte er sich, was sie dazu bewog, solche Taten zu begehen, und vor allem beobachtete er, wie fleißig die Chinesen arbeiteten und wie schlecht sie behandelt wurden.
Nachts, wenn die Sterne seine Fantasie beleuchteten, versuchte Hamish, dieses unbekannte Land zu ergründen, und staunte darüber, wie behütet er in dieser riesigen Weite lag. Zwar lebte er hier mit vielen anderen Verzweifelten und Abenteurern auf engstem Raum, aber hinter seinem Lagerfeuer begann unermesslich weites Land, das noch niemand jemals betreten hatte. Durch diese wilden, unvorstellbaren Weiten zogen dunkelhäutige Buschmänner. Man hatte ihm erzählt, dass sie Rebellen seien, die ihr Land vor den weißen Siedlern schützen wollten. Er erfuhr, dass in den frühen Siedlungstagen unzählige Schwarze getötet worden waren. Aus Rache wurden weiße Siedler ermordet. Und dann waren die Sträflinge gekommen; die, die weiter stahlen, die, die hier ein freies Leben führen durften; diejenigen, die den Busch roden mussten, und diejenigen, Männer wie Frauen, die in Ketten hier verrotteten.
Das also war sein neues Land, und Hamish empfing es wie ein Vater seinen Erstgeborenen, denn unter einer sauren Schale verbarg sich die süßeste Frucht – Vieh. Hamish interessierten nur Rinder und Schafe. Alles andere musste er zwar lernen, aber es diente nur dem Überleben an diesem wilden Ort, den er erreichen wollte. Die Geschichten von riesigen Herden, die im Inland weideten, faszinierten ihn. Die Treiber erzählten ihm von großen Viehherden, die zum Verkauf quer durch das Land getrieben wurden, und von den Merino-Schafen. Das war sein Gold, verborgen unter Erde und Schlamm, Urin und Mist, und es würde seine Rettung sein.
Es war ein alter Schacht, der vor etwa einem halben Jahr enttäuscht verlassen worden war. Aber Hamish hatte auf einmal das Gefühl, er würde sein Leben verändern. Er begann ihn zu reparieren, so gut er konnte. Die Stützbalken brauchten ihre Zeit, aber jetzt waren acht Meter der alten Mine abgesichert. Lampen erhellten den feuchten Tunnel. Am Ende dieses Tunnels lagen weitere anderthalb Meter Erde, und dann kam Felsen. Eine Woche hatte er daran gearbeitet.
»Lass uns wieder an den Fluss gehen, Hamish«, flehte Charlie. Er war noch keine sechzehn Jahre alt, aber der tägliche Kampf seines Bruders um Gold ging über seine Kräfte. Die Krankheit zehrte so langsam an ihm, dass er erst merkte, wie schlecht es ihm ging, als es schon zu spät war. Jede Nacht schwitzte er und hatte Albträume, und an den Tagen schmerzten seine Gelenke unerträglich. Wenn er draußen am Fluss den Sand siebte, dann hatte er wenigstens Sonne und frische Luft. »Da ist doch so viel Goldstaub, dass wir genug zu essen haben.«
Hamish arbeitete systematisch weiter mit seiner Hacke. Eines Tages wollte er Größeres erreichen, als immer nur daran zu denken, wie er seinen und den Bauch seines jüngeren Bruders füllen könnte. Links von ihm hallten die Geräusche von Charlies Schaufel unheimlich in der Dunkelheit.
»Willst du uns denn beide umbringen?«, rief Charlie in die Dunkelheit.
»Ich versuche doch nur, Geld zu verdienen, Junge.« Hamish hielt die Lampe dichter an den Felsen. Die Goldader, von der er geträumt hatte, war in dem flackernden Licht nicht zu erkennen. »Verdammt!« In der feuchten Höhle rumpelte es.
»Soll ich zugeben, dass ich mich geirrt habe? Hast du darauf in den letzten drei Jahren gewartet?«, fragte Charlie.
Hamish zog den Kopf ein und überlegte, was es bedeuten würde, wieder mit dem Sieb im kalten Wasser zu stehen. Die Älteren, die ihm geraten hatten, die Finger von der nutzlosen Mine zu lassen, würden mit hämischen Bemerkungen und Seitenhieben nicht zurückhalten. Erde bröckelte von der Decke in seinen Hemdkragen und rutschte mit den Schweißbächen auf seinem Rücken in seinen Hosenbund. Die Lampe flackerte und drohte auszugehen, wurde dann aber wieder hell.
»Sag mir doch, Bruder«, fuhr Charlie fort. »Was hättest du getan?«
Seufzend hob Hamish die Holzgriffe seiner Schubkarre an. Seit Monaten war es ihm gelungen, diesem Gespräch aus dem Weg zu gehen, und das wollte er auch weiterhin. Wenn die Wunde erneut geöffnet würde, würde das mit Sicherheit der Beziehung zu seinem Bruder schaden.
Als Hamish mit einer Schubkarre voll Erde aus der Mine kam, atmete er tief die klare Luft ein. Er kippte die Erde auf einen Haufen in der Nähe und setzte sich einen Moment lang, um Licht und Luft zu genießen. Der Zeitpunkt ihrer Abreise rückte näher, und Hamish war froh darüber. Es war nicht nur der raue Winter und die unablässige Mühe für so geringen Ertrag; auch der Gesundheitszustand seines Bruders verlangte es. 1857 war schon halb vorbei, und der Zeitpunkt jetzt war so gut wie jeder andere. Er wollte es zwar nicht zugeben, aber der Gedanke daran, den Jungen in einer Kleinstadt zurückzulassen, gefiel ihm, und das nicht nur wegen Charlies Gesundheitszustand. Er würde ohne ihn viel schneller und ungehinderter vorwärtskommen.
Das krachende Geräusch des einstürzenden Schachts rollte heran wie tosende Meeresbrandung.
»Charlie!«, brüllte er und sprang auf. Staub und Schmutz quollen aus der Öffnung, als habe jemand einen Sack Mehl fallen gelassen. Sie drangen ihm in Nase, Ohren und Kehle, und ihm war, als schwanke der Boden unter seinen Füßen.
Charlie lag auf einem Feldbett flach auf dem Rücken, und eine Öllampe warf ihr flackerndes Licht auf sein schmerzverzerrtes Gesicht. Draußen huschte ein Schatten am Zelt vorbei, und dann trat Lee ein, eine Schale mit Brühe in der Hand. Er räumte Hamishs unberührten Teller weg, während Hamish dem Jungen die Brühe in den Mund flößte und ihm über die Kehle rieb, damit er schluckte.
»Ich wusste nicht, was ich tun sollte«, flüsterte Charlie. »Ich hatte das Gefühl, dir folgen zu müssen, Hamish. Wenn du nicht gewesen wärst, wäre ich in Schottland geblieben.«
Hamish beugte sich über seinen Bruder und gab ihm noch einen Schluck Brühe. »Lee hat gesagt, sie lindert deine Schmerzen.« Er verschüttete die Flüssigkeit auf Charlies Gesicht. »Verdammt!« Rasch stellte er die Holzschale auf den Boden und wischte ihm grob das Gesicht ab.
Charlies Blicke schossen unruhig durch den Raum. »Und wenn ich da geblieben wäre, hätte ich gar nichts vom Leben gesehen. Es tut mir leid, dass ich jetzt deine Schafe nicht mehr sehe, Hamish.«
Hamish tupfte ihm die Stirn mit einem feuchten Tuch ab. Er erinnerte sich an jede Meile, die sie zurückgelegt hatten.
»Ich weiß noch, wie ich zu Mutters Füßen gesessen habe …«
»Spar dir deinen Atem, Junge.« Er wollte nicht, dass der Junge in seinen Augenblicken an das elende Leben in den Highlands dachte. Und doch, dachte er traurig, war er nicht in der Lage gewesen, dieses Leben durch etwas Besseres zu ersetzen, zumindest nicht in Charlies Augen.
»Vater wusste, dass er uns nicht wiedersehen würde«, flüsterte Charlie. »Wie er uns angesehen hat an dem Tag, als wir gegangen sind. Er hat uns nachgesehen, bis wir den zweiten Bach überquert haben.« Seine Stimme bebte. »Glaubst du, Ma und die Kleinen haben uns auch gesehen? Manchmal dachte ich, Ma wäre hier bei uns.«
Hamish nickte. Hier gab es keinen Priester, egal welcher Glaubensrichtung. Der eine Priester war vor zwei Monaten an einer Krankheit gestorben, und der andere war vor ein paar Wochen verschwunden; manche meinten, die Schwarzen hätten ihn getötet. Hektisch suchte Hamish nach einem tröstenden Wort. »Gott segne dich.«
Charlie verzog das Gesicht zu einem halb mitfühlenden, halb bedauernden Lächeln. »Es war nicht nur Marys Schuld, weißt du.«
»Schweig, Junge.«
»Vater hat ihren Kuss erwidert.«
Das war also die Wahrheit.
»Du hast sie so geliebt. Ich wollte, dass dein Bild von ihr unbefleckt bleibt, aber das war falsch von mir. Verzeih ihnen, Hamish.«
Sie hatten ihn beide betrogen.
»Ich wünschte, ich könnte mit dir gehen.« Charlies Stimme war kaum noch zu hören.
Hamish zog seinen kleinen Bruder rau an die Brust. Der Junge verlor das Bewusstsein. Voller Panik versuchte Hamish, ihm mehr von Lees Brühe einzuflößen, aber der Chinamann legte ihm die Hand auf die Schulter, um ihn davon abzuhalten. Schließlich flackerten die Augenlider des Jungen, und er schaute Hamish an. Hamish hielt ihn an sich gedrückt. Seine gelblich schimmernde Haut schien immer kühler zu werden.
»Ich schaue dir zu, Hamish. Ich bin durch deine Träume gegangen und habe sie erlebt. Du musst dein Leben für uns beide leben.«
Als die Nacht am dunkelsten war, tat Charlie seinen letzten Atemzug. Lee stieß einen kaum hörbaren Seufzer aus. Vorsichtig ließ Hamish den Körper seines Bruders wieder auf das Feldbett zurückgleiten. Dann nickte er und überließ den Leichnam dem Chinamann.
Das Grab war tief. Viel tiefer als die anderen Gräber an der nördlichsten Grenze der Goldfelder. Hamish, Lee und Dave, ein Einzelgänger, der sich ihnen angeschlossen hatte, hoben Charlies Leiche über die Grube. Es dämmerte noch nicht einmal.
»Sind wir dann so weit?«, fragte Dave. Er war schon seit seiner Geburt vor etwa fünfundzwanzig Jahren ungeduldig. Er war klein, und ein Bein war ein wenig kürzer als das andere und schmerzte ständig. Sollte er jemals Humor besessen habe, so war er verschwunden, seit man seinen Vater wegen Diebstahl gehängt und seine Mutter in irgendeiner Spelunke im Süden ihr Leben gelassen hatte. Er räusperte sich ein paar Mal. Langsam wurde es hell, und die Feuchtigkeit der Nacht wich. Dave wagte es nicht, sich zu bewegen, aber die Leiche des Jungen wurde immer schwerer und steifer.
Ein paar Meter von ihnen entfernt war eine Herde Wallabys erwacht. Die Tiere begannen scheu, am grünen Gras zu knabbern. Dave beobachtete sie hungrig, und seine Nüstern weiteten sich bei dem Gedanken an frisch gebratenes Fleisch. Das Fett würde er in einer Pfanne auffangen, und dann mit Brot auftunken. Sein Magen knurrte laut und vernehmlich. »Eine unnatürliche Zeit für eine Beerdigung«, knurrte er, als sie die Leiche, die in einen Jutesack gewickelt war, schließlich in die feuchte Erde hinunterließen. Die Wallabys fühlten sich gestört und verzogen sich hinter eine Baumgruppe.
Hamish konzentrierte sich darauf, Erde auf seinen Bruder zu schaufeln, bis schließlich ein kleiner Grabhügel entstanden war. Unten im Lager regten sich die anderen Goldsucher.
»Weit sind wir gereist, und dies …« Hamish wies auf die aufgehende Sonne. »Auf jeden Fall«, wandte er sich an Dave, »hat er jetzt einen neuen Tag miterlebt.«
Lee berührte seinen Arm. »Er guter Mann.«
»Ja«, sagte Hamish. Charlie war ihm aus Treue bis ans andere Ende der Welt gefolgt. Und aus Liebe hatte er Marys Verrat für sich behalten.
Dave wich schweigend zurück und stellte sich neben Lee, der gerade duftende Kräuter als Opfer verbrannt hatte. Er trat das Feuer mit seinen Sandalen aus, bevor er zum Rollwagen ging. Hamish bückte sich und nahm eine Handvoll Erde vom Grabhügel, steckte sie in die Tasche und drehte den Goldfeldern den Rücken zu.