Sommer, 1867
Sydney Cove, Hafenbezirk
Abdullah schloss den Deckel seiner Truhe. In seiner Unterkunft gab es jetzt keine Spur mehr von seiner Anwesenheit. Nichts an Bett, Sekretär, Stuhl und Schrank deutete darauf hin, dass er in den letzten drei Wochen hier gewohnt hatte. Nur seine Briefe lagen noch auf dem hölzernen Sekretär, und sein Jackett hing über dem Fußende des schmalen Betts. Abdullah trat in den Flur der Pension und warf dem Jungen, der sich an der Holzwand entlangdrückte, ein paar Münzen zu. Der schmächtige, zerlumpte Junge fing die Münzen geschickt auf, ergriff die Truhe und schleppte sie die Treppe herunter.
Sein Schiff sollte am Abend mit der Flut auslaufen, und Abdullah hatte es eilig, wegzukommen.
Ein letztes Mal sah er sich im Zimmer um, ergriff die Briefe, die er geschrieben hatte, und rief nach dem Jungen. Hastig kam der kleine Kerl die Treppe hinaufgelaufen, um dann mit den Briefen und einer weiteren Münze in der Hand in der Dunkelheit zu verschwinden. Der erste Brief war an Hamish Gordon gerichtet und berichtete von den Fortschritten, die Claire Whittaker machte.
Abdullah entschuldigte sich auch taktvoll für eventuelle Missverständnisse, während er Hamish gegenüber vorsichtig den Wunsch äußerte, dass Rose ein glückliches und sicheres Leben führen möge. Falls Hamish Gordon diesen Hinweis als versteckte Drohung verstehen wollte, nun, dann war es eben so. Abdullah grinste.
Den zweiten Brief kannte er Wort für Wort auswendig.
Meine Rose,
ich kann mir kaum vorstellen, wie sehr Sie seit meiner Abreise gelitten haben müssen. Ich kann Ihnen nur versichern, dass ich nichts als Ihr Glück möchte. Ich muss Ihnen jetzt etwas Schockierendes berichten, wenn ich auch nur über spärliche Informationen verfüge und sicher nicht wagen würde, die guten Absichten Ihres Gatten anzuzweifeln.
Ihr Gatte ist der geheime Wohltäter einer Miss Claire Whittaker und ihres alten Vaters. Sie wohnen in einem Reihenhaus in Sydney, und Ihr Gatte sorgt für alles, was in einem Haushalt benötigt wird.
Ich sage »geheim«, weil die Whittakers die Identität ihres Wohltäters nicht kennen und meines Erachtens gute, ehrenwerte Leute sind.
Ich erzähle Ihnen dies als Angebot meines guten Willens. Mögen Sie die Informationen nutzen, wie es Ihnen richtig erscheint.
Möge Allah seine schützende Hand über Sie halten.
A. Abishara
Als Abdullah sich zum Gehen wandte, drang das Messer tief in seine Brust. Einen Moment lang wusste er nicht, wo er war, dann packte seine Hand die Bettdecke, als er zu Boden stürzte, und der fadenscheinige braune Stoff glitt über ihn und versperrte ihm die Sicht. Er spürte, wie sein Atem stockte, hörte ein Rauschen in seinen Ohren. Zwei Männer redeten mit gedämpften Stimmen miteinander, und dann spürte er nichts mehr.
»Sag Mr Reynolds, der Job ist erledigt.« Der größere der beiden wischte sein Messer an seiner Hose ab. Er beugte sich über Abdullah und zog ihm die Taschenuhr mitsamt der Kette aus der Westentasche. Er klappte den Deckel auf und betrachtete die feine Gravur auf der Innenseite. »Gib ihm das hier. Sein Name steht darauf.«