Herbst, 1987
Centennial Park, Sydney
»Wie waren die Aufnahmen?«, fragte Jeremy. Er reichte Sarah einen Strauß Wiesenblumen und küsste sie auf die Wange. Dann trat er in die kleine Küche in ihrer Wohnung, öffnete die Kühlschranktür und nahm sich ein Bier. Er schenkte sich ein Glas ein und trank es auf einen Zug leer. »Was für ein Tag.« Er lockerte seine Krawatte und machte den obersten Knopf an seinem Hemd auf. Seine Wangen waren leicht gerötet und bildeten einen scharfen Kontrast zu seinem weißen Hemd. »Ah, Miss Gordon ist unglücklich.«
Sarah warf die Blumen in den Abfalleimer und stauchte die Stängel, bis der Deckel wieder zuging. Jeremy warf ihr einen erstaunten Blick zu. »Hey, warum hast du das denn jetzt gemacht?«
»Du bist betrunken«, presste Sarah hervor. Sein gerötetes Gesicht und sein leicht zerzaustes Aussehen passten gar nicht zu seiner sonst makellosen Erscheinung.
Jeremy seufzte. »Es gibt einen Unterschied zwischen angeheitert und absolut betrunken, Sarah.« Er trat an den Abfalleimer und zog die Blumen heraus. Dann füllte er das Spülbecken mit Wasser und legte den Strauß hinein. »Ich habe sie dir in den Bergen gepflückt. Wenn du dir die Mühe gemacht hättest, meine Anrufe zu erwidern, hättest du sie schon früher haben können.«
Was erwartete er eigentlich von ihr?, fragte sich Sarah. Sollte sie sagen: Oh, toll, komm direkt vorbei, ich habe dich schrecklich vermisst. Und ach, übrigens, wie war denn das Wochenende mit deinem geheimnisvollen Gast im Doppelzimmer?
»Ich habe schon am Sonntagmorgen versucht, dich anzurufen.« Jeremy trocknete sich die Hände an einem Geschirrtuch ab. »Ich dachte, du könntest wenigstens für einen Tag vorbeikommen.«
»Ich hatte zu tun.« Es war leichter zu lügen, dachte Sarah, als ihm zu erklären, dass sie hier gesessen und seiner Nachricht auf dem Anrufbeantworter gelauscht hatte. Danach hatte sie sie gelöscht.
»Ach, komm, Sarah. Du bist doch sonst nicht so. Was ist denn los?«, fragte Jeremy und setzte sich neben sie auf die Couch.
»Wie war dein Wochenende?« Sie wartete auf eine Reaktion, aber sein Gesichtsausdruck veränderte sich nicht.
»Du hast also nicht als Einziger angerufen. Ich habe dich auch angerufen. Na ja, ich habe es versucht. Ich wollte schon am Samstag kommen, da ich mit meinem Termin früh fertig war. Aber dann habe ich erfahren, dass du in unser Doppelzimmer bereits einen Freund eingeladen hattest.«
Jeremy lachte. »Was?«
Sarah holte tief Luft. »Julie Miller war bei dir, nicht wahr?«
»Wovon redest du?« Jeremy blickte sie offensichtlich verwirrt an, dann sank er zurück auf die Couch. Langsam richtete er seine Krawatte, wobei er nachdenklich den Kopf schüttelte. »Ich habe dich immer geliebt. Immer schon, seit dem Tag, an dem ich dir in der Galerie begegnet bin. Du warst wie eine zerbrochene Blume, zerbrechlich in dich gekehrt. Aber ich habe geduldig gewartet. Das ist ein Mädchen, das ich für den Rest meines Lebens lieben kann, habe ich mir gesagt. Es lohnt sich, um diese Frau zu kämpfen und ihr zu helfen. Und ich habe dir doch geholfen, Sarah, oder?«
»Ja«, erwiderte Sarah leise. Der plötzliche Themenwechsel verunsicherte sie.
»Als du um deinen Bruder geweint hast, habe ich dich festgehalten. Als du an den Anschuldigungen deiner Mutter fast zerbrochen wärst, habe ich dir zugehört.«
»Ich weiß.« Sarah wollte nichts davon hören.
»Deine Familie hat nicht gesehen, was sie dir angetan haben, was du dir selbst mit deinen Erinnerungen und Selbstzweifeln angetan hast. Dann habe ich deine Mutter kennengelernt, und ich habe zu Gott gebetet, dass du nicht einmal genauso endest wie sie, orientierungslos und ohne Bezug zur Realität.«
Sarah liefen die Tränen übers Gesicht. »Ich werde nie sein wie sie. Nie.«
»Und jetzt beschuldigst du mich, dass ich eine Affäre mit Julie hätte. Ja, wir haben für eine Nacht in diesem Zimmer übernachtet. Ja, ich hätte mit ihr schlafen können. Und ein Teil von mir wollte das auch, damit ich nicht dauernd an dich denken musste. Aber ich habe es nicht getan. Julie war nur am Samstag da. Wir haben übers Geschäft geredet, und dann ist sie nach Sydney zurückgefahren.«
»Oh.«
Er hob die Hand. »Ich habe dir erzählt, dass Julie nur eine Freundin ist, eine sehr alte Freundin, aber du vertraust mir trotzdem nicht. Vielleicht liebst du mich einfach nur nicht genug.« Er trat an die Tür der Wohnung. »Ich hatte einen tollen Tag. Ich habe zwei neue Klienten an Land gezogen.« Er lächelte kurz. »Ich hätte gerne mit dir gefeiert, Sarah.«
Sarah sprang auf, als er die Tür öffnete. »Geh nicht, Jeremy.«
»Ich muss morgen früh aufstehen. Aber wir sollten versuchen, uns am Wochenende einmal zusammenzusetzen und …«
»Ich kann nicht.« Sarah biss sich auf die Unterlippe. »Ich bin am Wochenende nicht da.« Hastig fuhr sie fort. »Großvater hat mich gefragt, ob …«
Er schüttelte den Kopf. »Ach, du fährst also wieder nach Wangallon?« Traurig blickte er sie an. »Als wir an Weihnachten durch das Grenztor gefahren sind, habe ich diesen Ausdruck in deinen Augen gesehen. So liebevoll wie dieses Stück Erde da hast du mich noch nie angeschaut, Sarah. Und dann habe ich diesen Ausdruck in deinen Augen wieder gesehen, als Anthony während der Überschwemmung kam.«
»Jeremy, du irrst dich. Er ist nur ein Freund.«
»Und wenn er dich anruft, guckst du auch so. Vielleicht kannst du deine Gefühle für ihn nicht akzeptieren, so wie du nicht akzeptieren kannst, dass dein Leben sich nach dem Tod deines Bruders ändern musste.«
»Wie kannst du so etwas sagen?«
»Weißt du, ich habe geglaubt, du würdest bei mir bleiben, wenn ich deine Gefühle nie infrage stellen würde. Nun, dieses Mal möchte ich, dass du nach Wangallon fährst. Geh dorthin und stell dich deinen Gefühlen. Werde dir klar darüber, ob du ihn liebst oder mich, und dann erlöse einen von uns beiden aus seinem Elend.«
Er schlug die Wohnungstür hinter sich zu.
Sarah sank auf dem Boden zusammen, den Blick fest auf die geschlossene Tür gerichtet. Liebte sie Anthony? Wenn nun alles stimmte, was Jeremy gesagt hatte? Jeremy war doch derjenige, der sich um sie gekümmert hatte, er hatte ihre Probleme mit ihr besprochen, ihr ständig gesagt, was für eine großartige Person sie war und wie sehr sie ein glückliches Leben verdient hatte. Nachdenklich schenkte sie sich ein Glas Merlot ein und setzte sich auf die Küchenbank. In einem hatte Jeremy auf jeden Fall recht. Sie liebte Wangallon, und ob Jeremy es ihr nun erlaubte oder nicht, sie würde nach Hause fahren. Schließlich hatte sie es ihrem Großvater versprochen.