Herbst, 1987
Goldküste, Queensland
Sarah umarmte ihren Vater und folgte ihm über den Marmorboden in die offene Küche. Sie ließ ihre lederne Reisetasche auf die Couch fallen und ging durch das Wohnzimmer auf die Terrasse. Sie würde sich nie daran gewöhnen, ihren Vater hier zu sehen. Er kam ihr vor wie ein gefangenes Geschöpf aus dem Busch. Hinter dem Haus saß ihre Mutter an einem kleinen, schmiedeeisernen Tisch und arrangierte Rosen. Der Rasen war mit Palmen bestanden und fiel sanft zum Fluss ab.
»Sarah, Liebling, was für eine wundervolle Überraschung«, gurrte sie.
Sarah küsste sie auf die Wange, die unter einer übergroßen Sonnenbrille und einem Wagenrad von einem Hut beinahe nicht zu sehen war. Ronald sagte, es ginge ihr gut, und das stimmte in gewisser Weise wohl auch. Als ihr Vater in die Küche ging, um Tee zu kochen, saß Sarah neben ihrer Mutter und wartete darauf, dass sie das Gespräch eröffnete. Aber ihre Mutter war eifrig damit beschäftigt, die Rosen in einer hohen Vase anzuordnen. Sarah räusperte sich vorsichtig. Sofort seufzte Sue auf und zog alle Rosen wieder aus der Vase heraus. Sie zog die Gartenhandschuhe aus und blickte ihre Tochter an.
»Alles ist großartig«, sagte Sarah. Die Mundwinkel ihrer Mutter zuckten. »Ich bin von Wangallon aus hierhergekommen.«
Ihre Mutter setzte die Sonnenbrille ab, putzte sie mit dem Zipfel ihrer Bluse und legte sie auf den Tisch. »Bist du schwanger?«
Ein Motorboot rauschte auf dem Fluss an ihnen vorbei. Es zog einen Wasserskiläufer hinter sich her. Sarah blickte verlegen zu Boden, als ihre Mutter laut zu schreien begann, mit den Füßen in den Gummistiefeln auf den Boden trampelte und die Fäuste in die Luft reckte. Das Boot verschwand um die nächste Biegung, und sie setzte sich abrupt hin und nahm das Gespräch wieder auf, als sei es nie unterbrochen worden. »Hat Jeremy um deine Hand angehalten?« Sie setzte ihre Sonnenbrille wieder auf und lächelte Sarah an. »Hast du dich von ihm getrennt?« Stirnrunzelnd betrachtete sie ihre Hände, dann hob sie den Kopf und starrte ihre Tochter wieder an.
»Nein, nichts dergleichen, Mum.« Sarah streckte die Hand aus und strich ihrer Mutter über die blasse, weiche Wange. »Mum, es alles in Ordnung, wirklich.«
Ihre Mutter schniefte. »Wie soll denn alles in Ordnung sein? Wie lange gehst du jetzt mit dem jungen Mann? Fünfzehn Jahre?«
Sarah ließ die Schultern hängen und lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück. »Seit etwa drei Jahren.« Ihre Mutter setzte erneut die Sonnenbrille ab, putzte die Gläser und legte sie auf den Tisch.
»Denk daran, mit wem du sprichst, Mädchen. Cameron spricht nie in diesem Tonfall mit mir.«
»Cameron?«
»Vielleicht sollten wir einmal nachschauen, ob Ron mit dem Tee zurechtkommt. Es wird ein wenig kühl hier draußen. Aber es ist so nett und angenehm, die Boote auf dem Fluss zu beobachten. Es sind so nette Leute auf dem Fluss, findest du nicht auch?« Ihre Mutter warf die abgeschnittenen Stiele in die Vase, dann ergriff sie die Rosen und warf sie mitsamt ihrer Sonnenbrille in eine Reihe von Palmen an der Gartenmauer. »Lass uns Tee trinken.«
Sie setzten sich an einen Korbtisch neben der Küche. Während sie Tee tranken, plauderten sie über Belanglosigkeiten. Dann verkündete ihre Mutter plötzlich, sie müsse die Rosen gießen.
»Sie fühlt sich wohl hier«, versicherte Ronald Sarah und stand auf, um das Geschirr abzuräumen. »Was ist denn auf Wangallon passiert, dass du hergekommen bist?«
»Nichts.«
Ronald schenkte ihnen Wein ein. »Wie geht es Jeremy?«
»Gut.« Schuldig im Sinne der Anklage, dachte sie. Jeremy durfte nie erfahren, was passiert war, nie. »Mum würde sich überall wohlfühlen, Dad. Hast du jemals daran gedacht, nach Wangallon zurückzukehren?« Sarah folgte ihrem Vater in die Küche und setzte sich auf einen der hohen Hocker an der Küchentheke. Er warf ihr einen unbehaglichen Blick zu. »Ich dachte, dass ihr wegen Mums Gesundheitszustand an die Küste gezogen wärt, und jetzt, wo ich gesehen habe, wie es ihr geht … na ja, du wärst zu Hause bestimmt besser aufgehoben. Du und Großvater, ihr könntet …«
Ronald schlug so heftig mit der Faust auf die Küchentheke, dass die Muscheln, die lose auf dem Fuß einer kleinen Lampe lagen, hochsprangen. Sarah hielt sich mit beiden Händen an der Kante fest. Es war dumm gewesen, ihren Großvater zu erwähnen, sie wusste doch, dass die beiden kaum miteinander redeten. Und außerdem hätte sie sich denken können, dass ihr Vater unter Stress stand. Schließlich hatte sie ja ihre Mutter gesehen.
»Sarah, ich habe in meinem Leben einige Fehler gemacht, und mein Vater weiß das.« Er verschränkte die Arme vor der Brust. »Überlass mein Leben mir.«
»Aber Dad, du schuldest Mum doch nichts. Wenn überhaupt etwas, dann …«
»Was?«
Die Jahre schmolzen dahin, und es war so, als ob sie alle wieder in der Küche in Wangallon säßen; das Radio spielte im Hintergrund, Cameron verdrehte die Augen, und ihre Mutter drohte ihr, mit ihr bis zum Ende der Schulzeit nach Sydney zu ziehen.
»Dad, findest du nicht, es ist langsam Zeit, dass du einsiehst, wie sehr Mum dir und mir unrecht getan hat?«
Ronald ließ resigniert die Schultern sinken. Die Erschöpfung, die ihn begleitete, seit er hier an die Küste gezogen war, machte ihn gereizt. Er rieb sich über die Augen. Dieses Gespräch wollte er nicht führen, und schon gar nicht mit Sarah. Seine Tochter erwies Sue keinen Respekt.
»Es war schwer für mich, weißt du.« Sarah drängte die Tränen zurück. Es überraschte sie, dass das Gesicht ihres Vaters so gleichmütig wirkte. »Hättest du es mir denn je gesagt?«, fragte sie.
Ronald überlegte. »Nein. Ich sah keinen Sinn darin. Na ja, jetzt ist es sowieso Vergangenheit.«
»Mehr hast du dazu nicht zu sagen?«
»Himmel, Sarah, was soll ich denn deiner Meinung nach dazu sagen? Ob ich schockiert und erschüttert war? Ob ich gewusst habe, dass Cameron nicht mein Sohn war? Ja, klar, das habe ich sofort gewusst. Ob ich deiner Mutter Vorwürfe gemacht habe? Nein. Wir hätten nie heiraten sollen. Sie war wie eine zarte, voll erblühte Blume, als sie nach Wangallon kam, und dann ist sie von Tag zu Tag mehr verblüht. Ich konnte ihr nicht geben, was sie wollte, und nach einem halben Jahr wussten wir beide, dass wir nicht so überstürzt hätten heiraten dürfen. Dein Großvater hat mich gewarnt, aber ich war auch nicht vollkommen, Sarah, und deshalb habe ich deinen Bruder als meinen Sohn akzeptiert.«
»Wer war er?«
Jahrelang hatte Sarah geschwankt zwischen jemandem, der aussah wie Rudolfo Valentino, jemand, der es wert war, dass eine Frau ihr Herz an ihn verlor, und einem gemeinen Eindringling, der ihr sowohl ihre Mutter als auch ihren Bruder gestohlen hatte.
»Ein Wolleinkäufer.« Ronald zuckte mit den Schultern. »Sue sagte, dass sie ihn lieben würde, und ich hätte sie gehen lassen, aber ein paar Wochen später war er tot, ums Leben gekommen bei einem Raubüberfall.«
»Also seid ihr zusammengeblieben.«
»Das war 1961, Sarah. Außerdem schien es das Richtige zu sein, und wie gesagt, auch mein Leben war bei Weitem nicht vollkommen.«
»Ich verstehe es nicht. Warum hast du Wangallon für Mum verlassen? Warum willst du nicht zurückkommen und wieder mitarbeiten? Du könntest das Management übernehmen.« Sarah sank auf ihren Hocker zurück. »Warum willst du ausgerechnet hier sein?«
Sein Blick war hart. »Wangallon hat mir zu viel genommen. Diese Zeit ist vorbei.«
Nach einem ruhigen Abendessen mit gegrilltem Steak und grünem Salat erzählte Sarah ihrem Vater von den Bedingungen, unter denen sie Wangallon erben sollte. Ronald hörte mit ausdrucksloser Miene zu und blickte nur einmal ins Nebenzimmer, wo Sue vor dem Fernseher saß.
»Du hast hoffentlich abgelehnt. Wirklich, Angus ist ein verdammter alter Narr.« Er schenkte sich ein Glas Shiraz ein. Du lebst und arbeitest in Sydney und bist in einer ernsthaften Beziehung. Es ist ein absolut unverantwortlicher Vorschlag. Und hinzu kommt noch …«, er schnaubte angewidert, »… dass du eine junge, alleinstehende Frau bist. Erwartet er von dir, dass du auf diesem abgelegenen Anwesen allein lebst?« Ronald lachte.
»Dad, hör mir zu. Ich habe nicht abgelehnt.« Auch nicht angenommen, dachte Sarah. Sie wusste, dass sie ihrem Großvater eine Antwort geben musste, wenn er auch wahrscheinlich davon ausgegangen war, dass sie annehmen würde. Ihr Vater jedoch wollte offensichtlich nicht, dass sie Wangallon erbte.
Als er aufhörte zu lachen, sagte Ronald amüsiert: »Wenn ich dich richtig verstanden habe, erwartet Dad von dir, dass du Anthony letztendlich heiratest.« Dass sein Vater sein Testament davon abhängig machte, dass Anthony Verwalter blieb, fand er am allerbesten. Er schenkte seiner Tochter ebenfalls einen Shiraz ein und trank einen Schluck von seinem Rotwein. »Es ist also ganz einfach: Wenn du Wangallon haben willst, musst du Anthony heiraten. Blutlinie und Erbe sind gesichert, und Wangallon bleibt bestehen.« Er schlug mit der flachen Hand auf den Tisch.
»Ach was, Dad, wie kommst du denn auf die Idee? Warum gerade Anthony? Das ist unmöglich.«
»Du darfst dich nicht mit meinem Vater wegen Wangallon zerstreiten. Nichts ist schlimmer, als nicht seinem …« Ronald hob sein Glas und trank durstig, bevor er sich den restlichen Wein einschenkte. »Ich kann dir nur raten, die Bedingungen für das Erbe zu akzeptieren. Sag einfach ja. Ein Testament ist ein Testament, Sarah, da gibt es nichts zu diskutieren.« Er drückte den Korken auf die Flasche. »Und wenn die Zeit gekommen ist, verkaufst du es. Du bist die einzige Erbin, du hast das Recht dazu. In Geschäften ist kein Platz für Sentimentalität, und die Tage arrangierter Heiraten sind vorüber. Wangallons Zeit ist vorüber.«
Sarah blieb der Mund offen stehen. »Dad, das kann ich nicht machen. Wie kannst du mir sagen, ich solle Wangallon verkaufen?«
»Du hast seit einer Ewigkeit nicht mehr im Busch gelebt.«
»Aber es ist falsch. Ich würde Großvater anlügen. Und was ist mit Cameron? Wir können doch nicht das Land verkaufen, in dem er begraben liegt. Und was ist mit all den anderen, die dort begraben sind? Mit unseren Vorfahren?«
»Cameron ist tot, Sarah, und die Zeit der Gordons ist vorbei.«
»Aber, Dad …«
»Sei nicht so schrecklich melodramatisch, Mädchen. Wenn die Farm dir so viel bedeutet, dann hättest du bleiben sollen.«
»Das ist jetzt wirklich unfair, Dad.« Sarah konnte es nicht fassen, dass ihr Vater die Verletzungen der Vergangenheit so einfach vergessen konnte.
Ronald zuckte mit den Schultern. »Du bist meine Tochter, und ich weiß genug, um zu verstehen, warum du ursprünglich gegangen bist. Manchmal nützen einem auch die besten Absichten nichts, Sarah. Und manchmal ist es besser so. Du hast jetzt ein schönes Leben, und du hast einen guten Mann an deiner Seite. Zerstör dieses Glück nicht, indem du einem romantischen Begriff von Verpflichtung und Vorfahren folgst.«
»Aber …«
»Geh ins Bett«, erklärte Ronald. »Und denk über alles noch einmal nach.«