Sommer, 1987
The Rocks – Sydney
»Und der Gestank!« Jeremy trank einen Schluck Champagner. »Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie es gestunken hat. Überall waren tote Tiere.« Sarah hörte ihm zu und dachte, dass er die Geschichte von der Überschwemmung mittlerweile wirklich großartig erzählte. »Sie sind buchstäblich an der Farm vorbeigetrieben – und die Insekten! Na ja, dadurch, dass überall Wasser war, konnten sie ja nirgendwo hin, und deshalb haben sie sich erhöhte Plätze gesucht, die sicher waren. Die Farm ist auf einer kleinen Anhöhe gebaut, und man kam sich vor wie auf einer Insel.«
»Es ist unglaublich, wie es dir und Sarah gelungen ist, dort wegzukommen.« Julie strich ihr rotes Taftkleid glatt. Der tiefe Ausschnitt und die breiten Schulterpolster gaben ihr das Gefühl, die bestangezogene Frau im ganzen Raum zu sein. Die Beziehung zwischen ihrem alten Freund, dem aufstrebenden Steuerberater, und diesem Chamäleon, das sich vom Cowgirl-Status in eine erfolgreiche Fotografin verwandeln konnte, faszinierte sie. Sie war nur zwei Jahre im Ausland gewesen, und jetzt war der ewige Single Jeremy eindeutig verliebt.
»Nun, Sarah ist dageblieben.«
»Ach ja?« Julie blickte von Jeremy zu Sarah.
»Wangallon ist mein Zuhause, deshalb bin ich natürlich dageblieben. Ich konnte nicht sofort wieder weg.« Sarah wusste, dass Julie eine der ältesten Freundinnen von Jeremy war, aber es schmerzte immer noch, an die Überschwemmung von 1985 zu denken, und sie war es leid, ihre Abende auf den Partys zu verbringen, zu denen Jeremy nicht nur aus beruflichen Gründen gehen musste. Ständig erzählte er ihr, dass der Erfolg eines Familienunternehmens von den richtigen Kontakten abhinge, und Julie, die nur für vierzehn Tage aus London zu Besuch war, schien jeden Abend Einladungen zu einem anderen Ereignis zu haben, wie zum Beispiel heute zu dieser Wohltätigkeitsveranstaltung.
»Ach, dann wart ihr da also gar nicht gestrandet?«, erwiderte Julie. »Und ich habe schon gedacht, man könnte einen Roman daraus machen. Ihr wisst schon, so in der Art von: Ein junges Paar hat ein Horror-Wochenende im Outback, und es gelingt ihnen nur mit knapper Mühe, zu überleben.«
Sarah lächelte gezwungen.
»Nein, aber einer der Arbeiter …«
»Der Verwalter«, korrigierte Sarah ihn.
»… Arbeiter auf der Farm«, fuhr Jeremy fort, ist buchstäblich vom Himmel gefallen, weil er zeigen wollte, wie wichtig ihm seine Arbeit ist. Als der Helikopter ein paar Tage später wieder zurückgeflogen ist, haben sie mich ausgeflogen.«
»Das ist ein guter Vorwand für Urlaub«, warf Julies derzeitiger Begleiter Danny ein. »Helft euren Brüdern und Schwestern im Busch. Wenn du jemals ein Problem hast, Sarah, dann können wir mit mindestens zehn Mann anrücken und euch zur Seite stehen.« Er fuhr sich mit der blassen Hand über die gegelten Haare.
»Danke.« Sarah betrachtete Julies schickes Kostüm und ihre rot lackierten Fingernägel und versuchte sich vorzustellen, wie sie wohl in der Hitze und dem Staub draußen zurechtkäme. Die Anwältin war definitiv nicht das naive Dummchen, als das sie sich gerne darstellte. Sarah strich ihr gelbes Rüschenkleid glatt und warf einen Blick auf Julies engen, kurzen Rock.
»Der Urlaubsort sagt mir nichts«, sagte Petra, die bei einer Werbeagentur arbeitete. Sie trug ein rosa Kleid mit weißen Punkten. »Mich interessieren eher die strammen Jungs, die aus den Helikoptern springen. Könnt ihr mich nicht mal mit so jemandem zusammenbringen?«, flüsterte sie mit kokettem Augenaufschlag.
»Möchtest du wirklich gerne im Busch leben?«, fragte Sarah.
Petra bedachte die Frage ernsthaft. »Vielleicht sollte ich besser noch einmal darüber nachdenken.«
Sarah lächelte. »Ich hole mir etwas zu trinken.« Sie stellte ihr Champagnerglas auf einen Stehtisch und blickte sich um. Jeremy unterhielt sich mit Petra, während Julie eine ältere Frau erspäht hatte, die sie offensichtlich kannte, und sie jetzt der Runde vorstellte.
In der Damentoilette war es voll. Sarah ging an den gepflegten Matronen vorbei, die sich vor den langen Spiegeln drängten und ließ sich müde in einen der Velourssessel sinken. Sie hatte heute fünf Stunden lang mit einem Model an ihrem Portfolio gearbeitet und konnte sich kaum noch auf den Beinen halten. Draußen ertönte jetzt Beifall, und sofort wurde es im Vorraum der Toilette leer.
Sarah erwachte, als Jeremy ihr auf die Schulter tippte. »Jeremy! Was machst du hier?« Sarah sprang auf und trat an die Spiegelwand, um Lippenstift aufzutragen. Jeremy blieb hinter ihr stehen und betrachtete sie besorgt. Sarah steckte den Lippenstift wieder in ihre Handtasche.
»Ich wollte nach dir sehen. Du warst eine Ewigkeit lang weg.«
»Entschuldigung, ich muss eingeschlafen sein«, antwortete Sarah. »Ich war heute fünf Stunden am Stück auf den Beinen.«
»Aber du wolltest doch heute Abend mitkommen.«
»Ja, weil du mir gesagt hast, Julie hätte Eintrittskarten für uns ergattert«, erwiderte Sarah.
»Dann bist du also sauer auf Julie.«
»Wir haben uns in der letzten Zeit ziemlich häufig mit ihr getroffen.«
»Aber darüber ärgerst du dich nicht. Es ist wegen der Überschwemmung. Es tut mir leid, ich hätte das Thema nicht schon wieder erwähnen sollen, es ist nur …«
»Du brauchst nicht weiterzusprechen, ich weiß schon. Es eignet sich hervorragend zum Kontakteknüpfen, weil es so einen hohen Wiedererkennungswert hat«, fuhr sie ihn an.
»Es ist ja nicht erst gestern passiert«, erwiderte Jeremy. »Sei doch nicht so emotional.«
Sarah richtete sich auf. »Die Überschwemmung war grauenhaft. Du weißt das, weil du dabei warst. Seit wann bist du eigentlich so unsensibel?«
Bestürzt blickte er sie an. »Das bin ich doch gar nicht.«
»Es tut mir leid.«
»Ich liebe dich, Sarah. Als ich dich bei deiner Familie erlebt habe, ist mir klar geworden, dass ich mich sehr anstrengen muss, um dich zu halten. Wenn wir zusammenbleiben wollen, brauchen wir Geld, und ich will so viel verdienen, dass ich so für dich sorgen kann, wie du es gewöhnt bist. Hier, in Sydney, geht es nur um dich und mich, Prinzessin, hier gibt es keine Tausende von Hektar, keine riesige Maschinerie, die einfach immer weiter produziert. Hier gibt es nur uns, und wenn ich jeden Abend ausgehen und mit potenziellen Klienten umgehen muss, dann ist es eben so. Und wenn ich über meine Erfahrungen auf Wangallon sprechen möchte, weil sich die Leute dann an mich erinnern, dann tue ich das auch.«
Sarah musste mürrisch zugeben, dass er recht hatte. Jeremy tat alles nur für sie beide. Ihr Gespräch wurde durch ein paar Frauen unterbrochen. Sie brachen überrascht in Gelächter aus, als sie einen Mann auf der Damentoilette erblickten. Jeremy entschuldigte sich, ergriff Sarahs Hand und zog sie hinter sich aus dem Raum.
»Sehr verehrte Damen und Herren, ein Büstenhalter, getragen vom verführerischen …«
»Und hirntoten«, flüsterte jemand in der Menge.
»… Model des Jahres, Annabel!«
Alle klatschten begeistert Beifall. Jeremy hielt Sarahs Hand fest umklammert. »Ich weiß, dass es für dich schwierig war, seit dein Vater im Ruhestand ist, und ich will ja nichts sagen, aber langsam wird es wirklich lächerlich. Dein Vater hat die richtige Entscheidung getroffen, als er gegangen ist. Ob du es nun wahrhaben willst oder nicht, sein Umzug wird letztendlich auch auf dein Leben eine positive Wirkung haben. Du bist nicht mehr an die Farm gebunden, du kannst dich davon befreien. Und sie ist ja trotzdem noch in Familienbesitz.«
»Das nächste ist ein schönes, zeitgenössisches Gemälde, Acryl auf Leinen, von dem fantastischen Tasker Lewinsky. Haben wir ein Anfangsgebot, meine Damen und Herren?«
Es war sinnlos, Jeremy erklären zu wollen, dass alles falsch lief, dachte Sarah. Ihr Vater hatte schließlich keine geschäftliche Entscheidung getroffen. Er hatte wegen Sues Krankheit aufgegeben und dadurch die Distanz zu seiner Tochter und letztlich auch zu seinem eigenen Vater vergrößert. »Aber Großvater ist jetzt ganz allein.«
»Das hat er nicht anders gewollt, Sarah.«
»Und niemand kümmert sich um Camerons Grab.«
Er legte ihr die Hände auf die Schultern. »Abgesehen von der Tatsache, dass dein Großvater noch auf der Farm lebt, wärst du auch nicht häufiger am Grab deines Bruders, wenn er hier in Sydney auf dem Friedhof läge, oder?«
Aber Cameron hätte auch nie damit gerechnet, dass ihr Vater gehen würde und Angus als einziger Gordon übrig bliebe.
»Sarah, ich weiß, dass dir Cameron fehlt, aber er ist tot. Damit musst du dich abfinden.«
»Ja?«, flüsterte sie. Jeremy warf ihr einen seltsamen Blick zu. Sarah konnte es ihm nicht erklären, aber für sie war Cameron nicht tot, er lebte noch auf dem Anwesen, war in den Blättern, die im Wind rauschten, im Plätschern des Bachs. Ihre gesamte Familie glaubte an ein Leben nach dem Tod, warum sollte also ein Verstorbener nicht in der Nähe des Orts bleiben wollen, den er liebte? Alle, die jemals dort begraben worden waren, waren noch in Wangallon. Sie machten das Wesen der Farm aus.
»Was ist Ihr erstes Gebot, meine Damen und Herren?«
»Komm, wir gehen wieder zu den anderen, Sarah. Petra wollte auf diesen Druck bieten.«
Sarah drückte seine Hand. »Ich glaube, ich gehe nach Hause.«
»Ich fahre dich.«
Sarah küsste ihn auf die Wange. »Nein, das brauchst du nicht. Amüsier dich gut. Ich bin zu müde.« Ein Mann kam auf sie zu. Sie erkannte ihn sofort.
»Bist du sicher?«, fragte Jeremy.
Sarah küsste ihn noch einmal auf die Wange. »Ja, absolut.«
»Ich rufe dich morgen an.« Er zwinkerte ihr zu und ging an dem älteren Mann vorbei, der jetzt bei ihr angekommen war.
»Sarah? Sarah Gordon, oder?«
»Hi, Mr Leach.«
»Nennen Sie mich Matt. Aus dem Mister-Stadium bin ich heraus, dann komme ich mir immer so alt vor. Wie geht es Ihrem Dad?«
»Er hat sich an der Küste zur Ruhe gesetzt.«
»Das habe ich gehört. Und Sie leben hier?«
Sarah nickte. »Was machen die Geschäfte?« Als privater Wolleinkäufer bereiste Matt die östlichen Staaten. Mit den meisten seiner zahlreichen Kunden war er auch befreundet. Es war seltsam, ihm in dieser Umgebung zu begegnen.
»Ziemlich schlecht, Sarah. Überall auf der Welt verhungern die Menschen, und angesichts fallender Wollpreise ist der Regierung Anfang der Achtzigerjahre nichts Besseres eingefallen, als genau die Tiere zu töten, die dieses Land mit aufgebaut haben. Innerhalb von achtzehn Monaten haben sie allein in meinem alten Bezirk über hunderttausend Schafe erschossen. Das ist eine unglaubliche Menge an totem Vieh. Und davon hat sich die Branche nie wieder erholt.«
Das Gespräch schien sie in eine andere Welt zu führen. Kurz vor Anthonys Ankunft auf Wangallon hatten ihr Großvater und ihr Vater tiefe Gräben ausheben lassen. Anschließend hatten sie die Schafe mit dem Gewehr in der Hand ausgemustert. Die Männer hatten Hunderte von Schafen erschossen, Tiere, die ihre Familie seit 1860 züchtete. Heute noch sah man die kleinen Erdhügel, unter denen Schafe lagen, die die Regierung für wertlos erklärt hatte: Es hatte einen Hungerlohn für die lebenslange Arbeit gegeben. Das Ende des Mindestpreises musste wahrscheinlich früher oder später sowieso kommen, aber es wurde einfach unglaublich schlecht gehandhabt.
Sarah war oft an der Stelle vorbeigeritten, wo die Schafe begraben lagen, und hatte versucht, sich jenen schrecklichen Tag vorzustellen, an dem wahrscheinlich wie immer die Sonne aufgegangen war und die Vögel gesungen hatten.
Matt Leach zuckte mit den Schultern. »Und dann die Überschwemmung und jetzt diese verdammte Dürre. Fahren Sie noch häufig nach Hause, Sarah?«
»Ein oder zwei Mal im Jahr.«
»Und Ihr Großvater lebt immer noch da. Nun, das ist ja schön. Und Anthony könnte man vermutlich auch nicht mehr verpflanzen.«
»Nein, er ist immer da.«
»Ihr habt Glück, dass ihr ihn habt.«
»Ja.«
»Das hört sich aber gar nicht so überzeugt an.«
Sarah nahm ein Glas Champagner vom Tablett eines Kellners. Am liebsten hätte sie jetzt etwas Stärkeres getrunken. Matt nahm ein Glas Mineralwasser und trank es rasch aus. »Und warum sind Sie in Sydney?«
»Wie bitte?«
»Warum sind Sie aus dem Busch weggegangen?«
»Mein Bruder ist gestorben.« Es war ihre Standardantwort auf die Standardfrage: Danach wolltest du also nicht mehr da leben? »Sie stellen aber viele Fragen, Mr Leach.«
»Ich möchte wahrscheinlich einfach nur gerne wissen, warum die Leute weggehen, vor allem junge Leute. Es klingt so, als hättest du einen Vorwand gebraucht, um zu flüchten.«
»Nein, das stimmt nicht.« Sarah trank einen Schluck Champagner. Ihr Gespräch ähnelte eher einem Verhör.
»Dann gehen Sie also nicht nach Wangallon zurück?«, fragte Matt. Wenn Angus Gordon ihm nicht vor zehn Jahren diesen großen Gefallen erwiesen hätte, dann hätte er sich jetzt hier nicht als Privatdetektiv betätigt.
»Nun …«
Sarah hatte sich anscheinend noch nicht entschieden. Das zumindest konnte er ja schon einmal weitergeben. »Sie sind als Einzige übrig, nicht wahr? Ich meine, Sie sind die letzte Gordon, oder?«
»Ja.«
Sarahs Wangen röteten sich. Matt wurde es langsam unbehaglich, und Angus’ Enkelin schien es genauso zu gehen. »Und?«, drängte er. Er hatte versprochen, eine definitive Antwort abzuliefern, aber das Gespräch ging so schleppend vonstatten, dass er bei seinem Haustier schneller zum Ziel gekommen wäre. Vielleicht sollte er einfach Klartext reden. »Sagen Sie mir nicht, Sie hätten sich in einen Jungen aus der Stadt verliebt?«
»Nach Camerons Tod hat sich vieles geändert, Mr Leach. Ich musste mir ein neues Leben aufbauen.«
Matt lutschte an einem Eiswürfel aus seinem Glas. Im Stillen dankte er Gott. Er hatte erfahren, was Angus wissen wollte, und damit waren die Zinsen auf die fünfzigtausend Dollar, die ihm Angus damals geliehen hatte, bezahlt.
»Ich bin ein Mädchen, Mr Leach, und ich habe mit Vorurteilen zu kämpfen.«
Matt stellte sein leeres Glas auf dem Tablett eines vorbeikommenden Kellners ab und blickte in das bekümmerte Gesicht der jungen Frau vor ihm. Das Mädchen hatte die dunkelblauen Augen der Gordons, und in ihnen stand tiefer Kummer. »Wir alle haben mit Vorurteilen zu kämpfen, Sarah«, sagte er. »Es kommt immer darauf an, wie man damit umgeht.«
Nun, dachte Sarah, Ende der Lektion. »Sonst noch was?«, fragte sie frech.
»Richten Sie Ihrem Großvater meine Grüße aus.«
»Ja, das mache ich, danke.« Sarah schaute ihm nach. Dann blickte sie auf ihr Glas, dessen Inhalt jetzt warm geworden war. Auf der anderen Seite des Saals stand Jeremy mit Julie und Petra. Sie lachten alle drei. Sally Bounds, eine frühere Kundin, winkte Sarah zu und versuchte, ihre Aufmerksamkeit zu erringen. Sarah wünschte sich, sie könnte ihren Trübsinn einfach abschütteln und mit Sally ein Glas trinken, aber eigentlich wollte sie jetzt nur noch nach Hause und sich mit einem Glas Cabernet auf die Couch setzen. Sie winkte Sally zu und verließ den Empfang.
Zu Hause schlüpfte sie in ihren weichen Baumwollmorgenmantel und genoss den Komfort ihrer kleinen Studiowohnung. Dieses Geschenk ihrer Großmutter war ihr Zuhause gewesen, seit sie Wangallon verlassen hatte. Vom winzigen Balkon aus hatte man einen wundervollen Blick auf den Centennial Park. Die Wohnung war in Weiß und einem blassen Grün eingerichtet, und an den Wänden hingen zahlreiche gerahmte Fotografien, darunter auch alte Luftaufnahmen von Wangallon und West Wangallon.
Auch die Schwarz-Weiß-Aufnahmen von Schottland hatte sie gerahmt. Es waren Bilder von Lochs und Hügeln, und ein Foto von einem kleinen Cottage am Fuß eines Hügels. Aus dem Schornstein stieg Rauch. Sarah gefiel die raue Schönheit der Aufnahmen, und sie schaute sie sich gerne an, vor allem das Bild des kleinen Hauses. Auf der Rückseite stand Tongue, 1961. Es war die alte Heimat der Gordons, ein Land, das nur ihr Vater besucht hatte. Ihr Großvater hatte sich nie dafür interessiert.
Die restlichen Fotos waren Aufnahmen der preisgekrönten Zuchthammel und Zuchtbullen, von Angus’ Rennpferden und von Familienmitgliedern, von denen einige schon seit Langem tot waren. Ihre Lieblingsbilder, auf denen sie mit Cameron zu sehen war, hingen prominent in der Mitte.
Sarah nahm eine bereits geöffnete Flasche Cabernet aus dem Schrank und schenkte sich ein Glas ein. Erst da bemerkte sie, dass das Lämpchen an ihrem Anrufbeantworter blinkte. Sie trank einen Schluck Wein und drückte nach kurzem Zögern auf die Taste, um die Nachricht abzuhören.
»Sarah, ich bin es, dein Großvater. Ich habe dir für Freitagabend einen Flug nach Hause gebucht. Tu einem alten Mann den Gefallen, Mädchen, ja?«
Warum wollte er sie so dringend sehen? Aber es ist ja egal, dachte Sarah und setzte sich auf den Balkon. Es war schön, gebraucht zu werden, und ein Wochenende konnte ja nicht schaden. Vom Hafen her wehte ein kräftiger Wind, und die Bäume im Park rauschten. Der Himmel war bedeckt, und es waren keine Sterne zu sehen. Jedes der kleinen Häuser unter ihr umgab schützend seine Bewohner und ihr Leben, ihre Erinnerungen an Liebe und Verlust. Je weiter Sarah nach Westen blickte, desto spärlicher wurde die Bebauung. Sarah drückte sich tiefer in die Ecke des Balkons und zog ihren Morgenmantel fester um sich. Sie trank noch einen Schluck Wein und schloss die Augen. Sie wollte jetzt schlafen, um der Realität zu entfliehen, wenn sie nicht von alten Zeiten träumte.