Sommer, 1866
George Street, Sydney
Hamish trat aus dem Gebäude der Bank of New South Wales in der George Street. An dem grauen Morgen wurden überall auf der belebten Straße Waren ausgeladen, und Ladenbesitzer überprüften die Richtigkeit der Güter. Eine auf Hochglanz polierte schwarze Kutsche, gezogen von ebenso schwarzen Pferden, rumpelte vorbei in Richtung Circular Quay. Vorsichtig, damit er auf den schmutzigen Pflastersteinen nicht ausrutschte, schlängelte Hamish sich durch den Verkehr, wich einer Gruppe von zerlumpten Kindern aus, die von einem Polizisten verfolgt an ihm vorbeirannten, und überquerte über Wasserpfützen, Pferdeäpfel und anderen Abfall hinweg sicher die Straße. Es war Vormittag.
Er hatte noch Zeit genug, um zum Auktionshaus zu gehen und den schönen Eichenesstisch zu kaufen, den er haben wollte. Zum Mittagessen in den Klub würde er trotzdem noch früh genug kommen.
Bis jetzt war Hamish mit seinen Geschäftsterminen äußerst zufrieden. Vor allem das Treffen mit seinem alten Bekannten Tootles Reynolds von Ridge Gully Stock and Station, dessen Geschäfte so gut liefen, dass er sich noch zwei weitere Agenturen zugelegt hatte, eine in Sydney, die andere in Bathurst, war erfolgreich verlaufen. Tootles arbeitete natürlich mit Kolonialwarenhändlern und Importhäusern – den Haupteinkäufern von Wolle – zusammen, und er war genau der richtige Mann, um dafür zu sorgen, dass die Wolle von Wangallon den geeignetsten Abnehmer fand. Hamish verkaufte seine Wolle an Sydneys führenden Wollhändler und erzielte hervorragende Preise über einen weiteren Agenten in London, der sofort für den Verkauf in Übersee sorgte.
Nach Abschluss dieses Geschäfts hatte er seinen beachtlichen Vorschuss zur Bank gebracht, und nachdem er ein paar Möbelstücke und andere Haushaltsgegenstände, Zeitungen und Bücher gekauft hatte, hatte er sich eine Weile in einem Herrenklub in Sydney erholt. Er hatte sich auch mit den Abishara-Brüdern getroffen, die ein Transportunternehmen besaßen und einen Teil seiner Wolle nach Süden schafften. Jetzt musste er nur noch eine Nanny für seine Kinder finden. Wenn erst einmal alles organisiert war, mussten sie ihre neuen Besitztümer packen und die anstrengende Reise nach Norden antreten.
Ein junges Mädchen trat aus dem Metzgerladen und stieg in eine offene Kutsche. Ein grauhaariger, krank aussehender Mann folgte ihr, und Hamish fiel auf, dass sie ihn mit besorgten Blicken musterte und ihn leicht am Arm berührte. Als ihr Blick auf Hamish fiel, lächelte sie.
»Guten Morgen, Sir.«
»Guten Morgen, Miss«, erwiderte Hamish, überrascht von so viel Zutraulichkeit.
»Wenn Sie zu Mr Harrow, dem Metzger, gehen, bitten Sie ihn, Ihnen nur das frischeste Stück zu geben. Er hebt gerne die besten Stücke für die Küche des Gouverneurs auf, ganz gleich, was seine Exzellenz essen möchte.« Sie half ihrem Gefährten beim Einsteigen, setzte sich ebenfalls und legte ein kleines, in Papier eingewickeltes Päckchen zwischen sich auf den Sitz. Zärtlich strich sie dem älteren Mann über die Wange und ließ ihre Hand kurz auf seiner Schulter liegen. Dann ergriff sie die Zügel, schnalzte mit einer kurzen Peitsche und fuhr los.
Ein seltsam vertrautes Gefühl überkam Hamish, so als ob etwas, was er lange gesucht hatte, in diesem fremden Land auf einmal vor ihm stünde. Die Reise war zu Ende. Das Mädchen, das er so offen anstarrte, konnte nicht älter als fünfzehn sein. Noch erstaunlicher war, dass sie seinen Blick nicht nur erwidert hatte, sondern sich auch jetzt noch mit einer Mischung aus Bewunderung und Neugier nach ihm umsah. Unwillkürlich hob Hamish die Hand zum Gruß, und in den Augen des Mädchens flackerte es freudig auf. Sie hatte große Augen und einen weichen Mund, was Herzenswärme und Aufrichtigkeit versprach. Lange schwarze Haare ringelten sich in ihrem weißen Nacken, nicht das Feuerrot von Marys Haaren oder das helle Blond von Roses, sondern ein tiefes Blauschwarz. Das Mädchen lächelte, als freue es sich über seinen älteren Bewunderer, und dann lenkte sie den Wagen auf die Straße.
Regen setzte ein, und Hamish trat rasch unter die Markise des Metzgerladens. Wie ein Vorhang rauschte der Regen hernieder, und bald war kein Fußgänger mehr auf der Straße zu sehen. Hamish blickte der Kutsche nach, bis sie nicht mehr zu sehen war. Das ist doch lächerlich, sagte er sich. Aber trotzdem ging er in den Laden und fragte nach der jungen Frau.
Der Metzger beantwortete seine Fragen ganz offen. Das fragliche Mädchen war Claire Whittaker. Ihr Vater und sie hatten als einzige Mitglieder einer achtköpfigen Familie das Fieber überlebt. Sie besaßen Land in Parramata und hatten auch eine beachtliche Herde, aber der Metzger bezweifelte, dass sie vermögend waren, weil das Mädchen zwar immer sauber und ordentlich, aber nicht besonders aufwendig gekleidet war. Hamish verließ den Laden, nachdem ihm der Metzger die Adresse der beiden auf einen Zettel geschrieben hatte.
Das Mädchen war wahrscheinlich halb so alt wie er, dachte Hamish, als er die George Street entlangging. Seine Finger schlossen sich um den Zettel. In jener Nacht träumte er von einem jungen Mädchen, das zu einer Frau herangewachsen war und eine breite Krinoline trug. Der dunkelblaue Rock wurde durch eine hellblaue Bluse ergänzt, und um den Hals hatte sie ein blaues Samtband gelegt. Auf dem Kopf trug sie einen flachen, braunen Hut, von dem bunte Bänder über ihren Rücken fielen.