Herbst, 1987
Centennial Park, Sydney
Sarah schenkte sich noch ein Glas Merlot ein und lehnte sich auf dem Liegestuhl auf ihrem Balkon zurück. Die Sonne ging gerade unter. Sie trank einen Schluck und hörte Jeremy zu, der ihr einen Kurztrip fürs Wochenende vorschlug.
Jeremy drückte ihr die Hand. »Ich habe alles schon gebucht«, sagte er aufgeregt, »und auch meine Termine habe ich verschoben.« Er schlug den Prospekt auf, der auf dem kleinen, schmiedeeisernen Tisch lag, und deutete auf das Bild eines süßen Ferienhäuschens in den Blue Mountains. »Es wird dir bestimmt gefallen.«
Sarah betrachtete das malerische Cottage, das eingerahmt war von Bäumen und blühenden Blumen. Es sah wirklich verlockend aus.
»Nun?«
Sarah war klar, dass Jeremy sich damit für seinen Bericht über die Überschwemmung auf der Wohltätigkeitsauktion vor vierzehn Tagen entschuldigen wollte. Und wenn man bedachte, dass sie in der letzten Zeit kaum etwas gemeinsam unternommen hatten, dann war ein Kurzurlaub genau das Richtige. »Ich würde ja schrecklich gerne hinfahren, aber …«
»Großartig.« Lächelnd schob Jeremy die Ärmel seines blauen Blazers hoch.
»Ich habe leider morgen Aufnahmen.«
»Kannst du den Termin nicht verschieben?«
Sarah schüttelte den Kopf. Sie konnte ihm wohl kaum erzählen, dass sie die Aufnahmen schon vorgezogen hatte, damit sie am darauffolgenden Wochenende ihr Versprechen ihrem Großvater gegenüber halten und zum Picknickrennen fahren konnte. »Es tut mir leid, ich wäre wirklich gerne dorthin gefahren.«
Jeremy verzog verärgert das Gesicht.
»Du hättest es vorher mit mir besprechen sollen«, fügte sie schuldbewusst hinzu.
»Dann wäre es ja keine Überraschung mehr gewesen.« Jeremy packte die Prospekte wieder zusammen.
Er ging in die Wohnung und legte sie auf die Küchenbank neben den wunderschönen Blumenstrauß, den er mitgebracht hatte.
Sarah beschloss, dass jetzt auf keinen Fall der richtige Zeitpunkt war, um ihm zu erzählen, dass sie zum Picknickrennen nach Hause fahren würde. Wie auf ein Stichwort klingelte das Telefon.
»Sarah, ich bin es, Anthony. Wie geht es dir?«
»Gut, Anthony.« Zögernd blickte sie zu Jeremy, der die Augen verdrehte und heftig eine Schranktür zuschlug. Sarah schob einen Stapel Zeitschriften über Fotografie zur Seite und setzte sich auf ihre Couch.
»Ich dachte, es interessiert dich vielleicht, dass ich ein Pferd für dich gefunden habe.«
»Wirklich? Das ist ja toll«, erwiderte sie so enthusiastisch wie möglich. Jeremy räumte ihre Kaffeetassen in die Geschirrspülmaschine.
»Eine hübsche kleine Stute, sie kostet nur fünftausend.«
»Ist das gut?«
»Ja, absolut. Angus hat gemeint, das sei das reinste Schnäppchen. Er ist im Übrigen fit und freut sich auf deinen Besuch.«
»Ja, gut.« Sarah versuchte, das Gespräch so rasch wie möglich zu beenden.
»Gut. Dann sehen wir uns ja.«
»Danke, Anthony.« Sie legte auf. »Anthony hat ein neues Pferd für mich gefunden.«
»Sie können dich einfach nicht in Ruhe lassen, was?«
»Hey.« Sarah trat in die Küche. »Ich habe ihn gebeten, anzurufen, weil ich gerne wissen will, wie es Großvater geht.« Sie legte Jeremy die Hand auf den Arm, aber er schüttelte sie ab.
»Du weißt schon, dass er in dich verliebt ist, oder?«
»In mich verliebt?« Sarah schnaubte. »Das soll wohl ein Witz sein.«
Jeremy blickte sie an. »Es ist unwesentlich, ob du es siehst oder nicht, Sarah. Für mich liegt es auf der Hand: Er mag dich sehr, und Angus würde ihn nur zu gerne in der Familie haben.«
»Ja, Großvater liebt Anthony. Das weiß ich, weil Anthony schließlich derjenige ist, der die Farm am Laufen hält.« Und das stimmt ja tatsächlich, dachte Sarah, als sie zurück zur Couch ging. Jeremy folgte ihr. »Und was mich angeht, so passt Anthony nur auf mich auf.«
Jeremy setzte sich neben sie und ergriff ihre Hände. »Sie wollen beide, dass du wieder zurückkommst, und das kann ich auch verstehen. Es gibt nicht so viele Farmen in der Größe von Wangallon in New South Wales, die noch in privater Hand sind, und du bist die einzige Erbin.«
»Aber ich bin doch hier, oder nicht?« Sarah tätschelte Jeremy beruhigend den Oberschenkel, aber ihr war nicht wohl. Seit ihrem letzten Besuch zu Hause träumte sie vom braunen Wasser des Flusses, von Kranichen und von Vögeln, die pfeilschnell ins Wasser eintauchten. Und wenn sie aus diesem Traum erwachte, umgab sie die trockene, kühle Luft einer zerbrechlichen Landschaft. »Können wir also die Reise aufschieben?« Um von Wangallon und Anthony abzulenken, schlug Sarah einen anderen Termin vor.
»Nein, da passt es mir nicht.« Verärgert kratzte Jeremy sich am Kopf. »Außerdem habe ich alles schon im Voraus bezahlt, und es war zu teuer, um das Geld einfach so zum Fenster hinauszuwerfen. Dann fahre ich lieber allein.«
»Wirklich? Allein?« Das passte so gar nicht zu Jeremy.
»Was soll ich denn sonst tun?« Er klang angespannt. »Ich folge ja nur deinem Beispiel. Für gewöhnlich bist du diejenige, die alleine fährt. Du bist doch selten zu Hause. Shelley und Kate sehen dich häufiger als ich.«
»Ja, da hast du recht«, musste Sarah einräumen.
»Ich werde die Zeit für einen Geschäftsplan nutzen«, sagte er langsam, als ob er laut denken würde. »Der Kanzlei fehlt es an Geld, und ich muss mir etwas ausdenken, um uns liquide zu halten. Du weißt ja, dass Dad sie mir hinterlassen hat, damit ich etwas daraus mache.«
»Das war mir nicht klar, tut mir leid.«
»Na ja, zum Vergnügen habe ich dich auch nicht von einem Empfang zum anderen mitgeschleppt. Ich habe dir oft genug gesagt, dass ich neue Klienten brauche.«
»Es tut mir leid, Jeremy.«
»Ja, nun, die Kanzlei ist eben mein Erbe. Und sie bedeutet mir in etwas das Gleiche wie dir Wangallon.«
»Ja, natürlich.« Du liebe Güte, Sarah konnte es kaum fassen, dass sie so selbstsüchtig gewesen war. »Und habt ihr große Probleme im Moment?«
»Genügend«, erklärte Jeremy in einem Tonfall, der ihr deutlich vermittelte, dass er jetzt nicht darüber zu sprechen wünschte. »Es wäre alles nicht so schlimm, wenn wir wenigstens mehr Zeit miteinander verbringen könnten. Ich liebe dich, Sarah.« Er umfasste ihr Kinn sanft mit der Hand. »Ich will, dass wir zusammen sind, aber manchmal habe ich das Gefühl, dass dein altes Leben dich von mir wegzieht. Ich muss übrigens jetzt gehen. Ich treffe mich mit einem potenziellen neuen Klienten, und ich habe Julie versprochen, nicht zu spät zu kommen. Es ist ihr ehemaliger Chef.«
»Julie?« Sarah bemühte sich, nicht zu verärgert zu klingen. »An einem Freitagabend?« Aber Julie meinte es sicher nur gut und wollte Jeremy helfen.
»Ein Tag ist so gut wie der andere, Sarah.« Er küsste sie auf die Stirn.
Das war vielleicht das Problem zwischen ihnen, dachte Sarah, als die Wohnungstür hinter ihm ins Schloss fiel. Ein Tag war so gut wie der andere. Manchmal hatte sie das Gefühl, ihr Leben gehörte ihr gar nicht mehr. Es wurde kontrolliert von der Arbeit, von Terminen, vom Bus-Fahrplan und ihrem Girokonto, von Jeremy, Wangallon, ihrem Großvater und ihren emotionalen Reaktionen. Nie hatte sie Zeit für Träume. Vom Balkon aus beobachtete sie, wie Jeremy wegfuhr. Drei Jahre waren sie jetzt schon zusammen. Er war ein aufmerksamer Partner, umsichtig, achtete auf ihre Bedürfnisse und war ein großartiger Liebhaber. Perfekt. Jeremy war der perfekte Partner, und er bewunderte ihre Loyalität ihrer Familie gegenüber, auch wenn er ihr schon ein paar Mal zu verstehen gegeben hatte, dass er sie ein wenig übertrieben fand. Vielleicht hatte sie nur noch nicht ernsthaft genug darüber nachgedacht, ob sie mit Jeremy zusammenleben wollte.
Die Aufnahmen am Samstag, Porträtaufnahmen für einen jungen Schauspieler, waren innerhalb von zwei Stunden beendet, und mittags war Sarah wieder in ihrer Wohnung. Es war ein wunderschöner Tag, und sie hielt es für eine großartige Idee, in den Zug zu steigen, um nach Katoomba zu Jeremy zu fahren. Ungeduldig trommelte sie mit den Fingern auf die Küchentheke und blickte auf die Uhr, die über dem Küchenschrank hing. Es war kurz nach eins. Wenn sie jetzt duschte, rasch ein paar Sachen packte und ein Taxi zum Bahnhof nahm, würde sie wahrscheinlich am späten Nachmittag dort eintreffen. Sie wählte die Nummer auf dem Prospekt, den Jeremy am Abend zuvor liegen gelassen hatte.
»Blue Gum Cottage.«
»Ich möchte bitte mit Jeremy Barbett sprechen.«
»Sie sind heute Nachmittag unterwegs, meine Liebe.«
»Sie?«, fragte Sarah.
»Ja. Allerdings sollten sie bis zum Abendessen wohl wieder zurück sein. Möchten Sie eine Nachricht hinterlassen?«
Sarahs Magen zog sich nervös zusammen. »Nein. Ist schon okay. Danke«, erwiderte sie so höflich sie konnte und legte auf. Mit wem war Jeremy bloß da? Sie betrachtete den Prospekt und las die Beschreibung sorgfältig.
Ein entzückendes Bed&Breakfast in einem ruhigen Garten. Perfekt für Paare, die ein romantisches Wochenende verbringen wollen oder auch mitten in der Woche Erholung suchen. Unser großes Doppelzimmer mit Bad bietet vollkommene Privatsphäre …
Sarah dachte an den Geschäftstermin vom Abend zuvor, an Julie Miller, die mal wieder alles tat, was in ihrer Macht stand, um Jeremy geschäftlich zu unterstützen. Und sie brach in Tränen aus.