KAPITEL 96

Mittwoch, 14. März, 23:00 Uhr

Eine Überdosis Ketamin. Ob Leonardo jemals erfahren würde, dass er dem Tod zweimal von der Schippe gesprungen war?

Dieses Mal rettete ihn die Tatsache, dass eine Krankenschwester sich im Zimmer geirrt hatte.

Sie war aus Versehen in sein Zimmer anstatt ins Nebenzimmer gegangen, wo ein Patient mit einer akuten Bauchfellentzündung lag, dem nach seiner Operation ein Antibiotikum verabreicht werden sollte. Dort war ihr sofort aufgefallen, dass er ganz blass und seine Lippen blau waren.

Sein Puls war äußerst schwach, und genau in dem Augenblick, als sie seinen Zustand kontrollierte, hatte seine Atmung ausgesetzt.

Alarm.

Sofortige Wiederbelebungsmaßnahmen.

Einer der Ärzte hatte bemerkt, dass aus dem Infusionsschlauch kleine Tröpfchen austraten.

Ein kleines Loch. Jemand hatte ihm das falsche Mittel gespritzt. Merkwürdig, dabei hatte man ihm keine Medikamente verordnet, nur die Infusionen mit der Nährlösung und den Antibiotika.

Sofort wurde eine Blutanalyse angeordnet.

Tausend Einheiten Ketamin.

Man leitete unverzüglich Gegenmaßnahmen ein. Und rettete Leonardo gerade noch rechtzeitig aus dem Koma. Er war schlagartig erwacht, und mit dem Aufwachen waren auch die Halluzinationen wiedergekehrt.

Direkt nach dem Erwachen hatte er gezittert wie ein Besessener, der gerade einen Albtraum durchlebt. Er versuchte zu schreien, aber aus seiner Kehle kam kein Ton. Der Schlauch für die künstliche Beatmung blockierte seine Stimmbänder. In seiner Panik wirkte dieser weiße Schlauch wie ein Tentakel dieses Monsters aus Alien.

 

Die Nachricht, dass jemand in die Sonderstation der Klinik eingedrungen war und versucht hatte, unter den Augen seiner Bewacher den jungen Organisten mit einer Überdosis Ketamin zu töten, erreichte das Polizeipräsidium erst am späten Nachmittag, weil niemand sofort begriffen hatte, was passiert war, und daher die Anzeige erst mit einer gewissen Verzögerung bei der Polizei im Krankenhaus gemeldet wurde. Der Bericht war dann erst den üblichen Dienstweg gegangen, ehe er zusammen mit einem Bericht der nächtlichen Ereignisse - eine Schlägerei, eine Messerstecherei, ein Verkehrsunfall mit unterlassener Hilfeleistung - auf dem Schreibtisch des zuständigen Staatsanwaltes landete.

Als Vincenzo Marino der Telefonanruf erreichte, war Leonardo schon außer Gefahr, aber sein Hirn war verwirrter denn je.

Don Andrea war noch auf der Carabinieristation, um die Vermisstenanzeige wegen seiner Mutter aufzugeben, als gemeldet wurde, dass man eine ältere Frau aufgegriffen hatte, die hilflos und barfuß an der westlichen Umgehungsstraße herumirrte.

Bei der Straßenpolizei waren mehrere Anrufe eingegangen. Daraufhin hatte sich ein Streifenwagen auf den Weg gemacht, gefolgt von einem Krankenwagen. Als man die Straße systematisch absuchte, hatte man die Frau in der Nähe einer Ausfahrt zusammengekauert und gegen eine Leitplanke gelehnt gefunden. Sobald die Frau die blauen Blinklichter bemerkt hatte, war sie aufgestanden und hatte sie sofort um Hilfe gebeten. Sie hatte besorgt geklungen, schien aber vollkommen klar im Kopf zu sein. Ganz sicher klang sie nicht wie eine Alzheimer-Patientin.

Der Polizeiposten der San-Paolo-Klinik, wohin der Krankenwagen sie gebracht hatte, hatte den Vorfall dann gemeldet. Reiner Zufall, dass die Nachricht von ihrem Wiederauftauchen so schnell die Carabinieristation erreichte, wo Don Andrea gerade die Vermisstenanzeige unterschrieb.

Zwei Carabinieri hatten eine von einem Freier verprügelte Prostituierte in die Notaufnahme begleitet. Vom zuständigen Polizisten hatten sie zufällig den Namen von Don Andreas Mutter gehört, und einer von ihnen hatte die Verbindung hergestellt. Ob diese Frau wohl … die gesuchte Mutter des Geistlichen war?

Bei ihrer Ankunft im Krankenhaus war Don Andreas Mutter keineswegs verwirrt.

Sie war »klar, wach und kooperativ«, so hatte es der diensthabende Arzt ausgedrückt. Nur unterkühlt und verängstigt, das war verständlich, aber nichts weiter. Daher hatte sie keine Probleme, die Leute anzuzeigen, die sie entführt, ausgezogen, verprügelt, zu Tode erschreckt und mitten in der Nacht an der Umgehungsstraße ausgesetzt hatten. Man behandelte ihre Aussage daraufhin sofort mit der gebührenden Aufmerksamkeit.

»Es war halb zehn Uhr morgens, vielleicht auch schon Viertel vor zehn. Ich hatte gerade die Wohnung gelüftet und wollte saubermachen, als die Haustürklingel schellte. Ich habe den Drücker betätigt, ohne groß zu fragen, wer da war, weil im Gemeindezentrum im Moment die Polizei ein und aus geht. Ich fühlte mich sicher. Außerdem war es halb zehn Uhr morgens!

Eine Minute später, vielleicht auch zwei, klingelte es hier an der Wohnung. Ich habe aufgemacht, wobei ich die Sicherheitskette noch vorgelegt ließ.

Vor der Tür stand jemand, den ich nicht kannte. Vielleicht hatte ich ihn doch schon einmal gesehen, denn sein Gesicht kam mir irgendwie vertraut vor, aber ich wusste nicht, wer er war und wie er hieß. Aber der Mann wusste, wer ich war. Er hat mir gesagt, dass Don Andrea - mein Sohn - oft mit ihm über mich sprach, und ich dachte, das müsste stimmen, weil er meinen Namen nannte.

Guten Morgen Signora Irma - ich heiße Irma -, wie geht es Ihnen, nehmen Sie immer noch die Medikamente? Er wusste sogar von meinem gesundheitlichen Problem. Ich habe ihm geantwortet, mir geht es gut, und inzwischen versuchte ich herauszufinden, was er wollte … Er hörte gar nicht mehr auf, mich mit Komplimenten und anderem Gerede zu überschütten … Signora Irma hinten, Signora Irma vorne … Deshalb habe ich gefragt: Was wollen Sie? Brauchen Sie etwas?

Er hat mir gesagt, dass er Don Andrea wegen einiger Seelenmessen sprechen müsste. Und ich habe ihm gesagt, mein Sohn käme erst in zwei Stunden zurück. Daraufhin hat er zu mir gesagt, er werde ihn anrufen, und so getan, als wollte er gehen. Ich wollte gerade die Türe schließen, als er mich zurückhielt: Signora Irma, Entschuldigung … Da bin ich stehen geblieben, und als der Mann schon fast unten an der Treppe war, hat er mich gefragt, ob er mir schon mal den Umschlag mit dem Geld für die Messen dalassen könnte. Natürlich, habe ich geantwortet und eine Hand ausgestreckt, um den Umschlag zu nehmen. Da hat er in den Taschen gewühlt und schließlich gemeint: Wie dumm, ich habe den Umschlag im Auto gelassen, und jetzt muss ich noch mal zurückgehen und ihn holen. Ich habe geantwortet: Gehen Sie ruhig! Ich bin den ganzen Vormittag zu Hause. Da hat er auf die Uhr geschaut und gesagt: Mamma mia, so spät! Und dann: Darf ich Sie noch um einen Gefallen bitten, Signora Irma? Könnten Sie nicht mit zum Wagen kommen? Er steht auf dem Parkplatz, und dann müsste ich nicht noch mal zurückkommen und Sie stören.

Ich weiß, das war dumm von mir, aber ich habe eingewilligt. Ich kannte ihn nicht, aber er schien mir ein guter Mensch zu sein, nicht so einer wie die Marokkaner oder die Albaner, die man überall in unserer Gegend so sieht … ich hatte nur Pantoffeln an und habe daher gesagt: Entschuldigung, ich ziehe mir noch Schuhe an. Darauf er: Natürlich, und ist an der Tür geblieben, um zu warten. Ich habe mir einen Mantel angezogen und habe die Wohnung verlassen.

Das Letzte, woran ich mich erinnere, ist, dass wir bis zum Parkplatz gekommen sind, der ziemlich leer war. Das Auto stand ganz hinten an der Mauer. Dann erinnere ich mich an nichts mehr, bis ich auf der Autobahn wieder zu mir kam. Nein, das war keine Autobahn, das war eine Umgehungsstraße. Es war fast dunkel. Also gegen sieben Uhr. Ich bin wohl aufgewacht, weil mir kalt war, und ich war ganz durcheinander. Ich habe eine Weile gebraucht, bis ich wieder klar denken konnte … Wie bitte? Nein, es hat keiner angehalten. Es gab auch keine Standspur. Ich war barfuß, ohne Mantel … hatte keine Ahnung, wo ich war … Da bin ich aufgestanden und losgelaufen. Ich habe gedacht: Irgendjemand wird schon anhalten!

Ich weiß nicht, warum man mir diesen Streich gespielt hat. Ich habe doch kein Geld … Wie? Ach, das ist ein Trick, mit dem Diebe sich Zugang zu den Wohnungen von anderen Leuten verschaffen? Oh, heiliger Jesus! Ich muss sofort nach Hause und nachschauen, ob etwas fehlt …«

Aus der Wohnung war nichts gestohlen worden. Aber etwas war da, das eigentlich gar nicht dort sein sollte. Ein zusammengefaltetes Blatt. Don Andrea fand es am nächsten Morgen im Briefkasten, als er die Post reinholte.

Darauf stand in Großbuchstaben:

GEHT’S DEINER LIEBEN MAMA GUT?
HALT WEITER DEN MUND.