KAPITEL 60

Montag, 26. Februar, 02:00 Uhr

Seit fast drei Stunden stand die Neue, die auf den Namen Kristall hörte, im Bicocca-Viertel auf dem ihr zugewiesenen Stück Bürgersteig in der Via Berbera an der Ecke zum Viale Fulvio Testi.

Nach Mitternacht stiegen die Temperaturen ein wenig. Eigentlich war es draußen an der frischen Luft gar nicht so schlecht, dachte Sandra Leoni, wären da nicht die Autos, die ständig ankamen, stoppten und dann doch wieder weiterfuhren, die Pfützen, in denen sich das fahle Licht der Scheinwerfer widerspiegelte, und die schwarzen Schatten des mickrigen Gestrüpps hinter ihr, das in den Stadtplänen vollmundig Parco Nord genannt wurde.

In den drei Stunden, die sie jetzt unterwegs war, hatte sie bereits verschiedene Kurzbesuche im Stundenhotel hinter sich, und ihre beiden »Kolleginnen« Susie und Karola, mit denen sie sich ihren Pflasterabschnitt teilte, beäugten sie schon neidisch.

Echte Freier waren allerdings nur drei gewesen. Ein Halbwüchsiger und ein Mann mittleren Alters, die sich genau als das herausstellten, wonach sie aussahen - zwei jämmerliche Würstchen. Die Ispettrice hatte sie bis zum Hotel fahren lassen und ihnen dort die Wahrheit erklärt: Tut mir leid, aber diesmal kommt ihr nicht zum Schuss. Ich bin Polizeibeamtin im Dienst. Macht euch keine Sorgen wegen des Zimmers, das übernehme ich. Bye, bye, Schätzchen.

Beim dritten Freier, einem Mann um die vierzig, war sie ein wenig nachdenklich geworden. Aussehen, Benehmen, Alter … Das konnte gut und gerne einer von denen sein, der sie überprüfen sollte. Noch dazu, weil er absolut nicht ins Hotel wollte.

Für eine schnelle Nummer tut es mein Auto auch, hatte er gemeint.

Mist!

Sandra Leoni beschloss, dass sie jetzt da durchmusste. Sie stieg ein und versuchte, ihn zum Reden zu bringen. Nach einigen Sätzen war sie beruhigt. Trotzdem wollte sie ihre wahre Identität nicht gleich preisgeben, sondern sagte ihm, er solle zunächst in die Via Aldo Moro fahren und dann an der ersten Ecke nach rechts in den Park abbiegen. Auf der Suche nach einem abgelegenen Plätzchen oder einer Parkbucht ließ sie ihn ein paar Runden drehen und griff dann zu Plan B. Sie wartete, bis das Auto unter einer riesigen Steinbuche stand und ihr Begleiter schon die Hose hinuntergezogen hatte, dann begann sie, in ihrer Handtasche herumzuwühlen.

»Honey«, meinte sie dann nach gut einer Minute, nach der sie angeblich nichts gefunden hatte. »Ich denke, du hast Kondom. Ich habe keins mehr. Alles aus.«

»Was?«

»Kondom. Pariser. Ich habe keines …«

»Umso besser, dann machen wir es halt ohne!«

»In Ordnung, wenn du das willst. Aber ich sage dir, ich bin HIV-positiv. Kein Aids, nur positiv. Wenn das für dich kein Problem ist …«

Es war natürlich ein Problem!

Schnell hatte der Mann die Hosen wieder zugemacht, hastig den Motor gestartet, und schon brauste das Auto in Formel-Eins-Manier zurück, wobei er diverse Gummispuren auf dem ungeteerten, mit Schlaglöchern übersäten Schotterweg zurückließ. Zehn Minuten später schmiss er Sandra Leoni quasi an ihrem Stammplatz raus.

»Das ging ja schnell«, meinte ihre Kollegin, die sich das Nummernschild notiert hatte, auf Russisch.

»Na klar ging das schnell«, antwortete Leoni in derselben Sprache, als die roten Rücklichter nur noch zwei kleine, weit entfernte Punkte waren. »Eine Nummer im Auto geht ganz schnell.«

»Du musst aber aufpassen«, warnte sie unerwartet die junge Frau, die sich Susie nannte. »Im Auto im Park ist gefährlich. Die Freier können fast alles mit dir machen. Und zwischen den Bäumen treibt sich schlimmes Volk rum. Es gibt Banden, die knutschende Pärchen ausrauben. Verrückte Spinner, Leute mit einer Waffe, und du hast überhaupt keinen Schutz.«

»Spasìbo!«, sagte die Leoni unwirsch. »Danke, aber ich habe gelernt, auf mich selbst aufzupassen, seit ich zwölf bin. Und wenn ich hier stehe und auf diese Arschlöcher warte, dann tue ich das bloß, weil ich es muss …«

»Woher kommst du?«, fragte Susie weiter, als sie von einem Gespräch mit einem potenziellen Freier zurückkehrte. »Du hast einen merkwürdigen Akzent. Du bist keine Russin, eher eine Ausländerin, die gut Russisch spricht …«

Hoppla, erwischt!, dachte die Leoni besorgt. Wenn das schon diese kleine Nutte mitbekommt, heißt das, meine Deckung kann jederzeit auffliegen.

»Keine Fragen, keine Antworten«, entgegnete sie hart, um so wenig wie möglich von sich preiszugeben.

»Ja, aber unter uns …«, bedrängte sie Susie. »Man hat mir gesagt, keine Fragen und keine Antworten. Wie auch immer, ich komme aus Tiraspol.«

»Ach so, ich verstehe, du bist Moldawierin«, sagte Susie, zog dazu aber ein Gesicht, als würde sie überhaupt nichts verstehen.

»Keine Moldawierin. Nistrierin.«

»Ach so, Entschuldigung.«

»Keine Entschuldigungen, merk dir das.«

»In Ordnung.« Susie zündete sich eine Zigarette an. »Bist du schon lange in Italien?«

»Kümmer dich um deinen eigenen Dreck, okay?« Sandra Leoni lief zu dem Fahrer hinüber, der gerade angehalten hatte und ihr zuwinkte. Zum Glück war es ein Kollege. Der dritte heute. Anscheinend hatte sich ihr Einsatz schon herumgesprochen, und jetzt würde wohl einer nach dem anderen nach Dienstschluss mal bei ihr vorbeischauen.

»Steig ein!«, zischte er ihr zu.

Leoni tat so, als würde sie kurz mit ihm verhandeln, weil sie aus dem Augenwinkel sah, dass Susie sie beobachtete. Dann stieg sie ein und gab ihr ein Zeichen, sie solle sich das Nummernschild notieren.

Das Auto brauste davon.

»Fahren wir ins Hotel«, sagte die Ispettrice.

»Okay. Wie läuft es bei dir?«, fragte der Beamte. Und nach einem Seitenblick auf sie meinte er: »Hey, dieser lila Lippenstift steht dir richtig gut. Du siehst aus wie die Leiche, die wir letzte Woche beim Wasserflughafen rausgefischt haben! Die hatte einen Monat dort im Wasser gelegen.«

»Jetzt erzähl keinen Mist, konzentrier dich lieber aufs Fahren!«

»Ist ja gut, aber sag mal, rentiert sich dein Zweitjob wenigstens?«

»Du weißt schon, dass du der Dritte bist, der mir diese Frage stellt? Drei von drei Kollegen! Wie auch immer, reich wird man davon nicht. Wenn ich nur das Geld von den drei einzigen echten Freiern hätte, wäre noch nicht einmal so viel, wie ich abgeben muss, drin.«

»Da trifft es sich ja, dass ich dir ein wenig Kohle vorbeibringe. Dreihundert, oder?«

»Gib mir zur Sicherheit lieber vier. Sechs Freier mit euch dreien. Fünfzig pro Nummer machen bis jetzt dreihundert. Ich muss zwar noch weitere zweieinhalb Stunden hier rumstehen, aber es ist kaum was los. Die blöde Schlampe, die sich dein Nummernschild notiert hat, führt meiner Meinung nach Buch. Wir sollten eigentlich zu dritt sein, eine hat bereits den Abgang gemacht, ist wohl für den Rest der Nacht gebucht worden, soweit ich es begriffen habe. Übrigens hat die da mitbekommen, dass ich nicht wie eine echte Russin klinge, sondern wie eine Italienerin, die gut Russisch kann. Zum Glück ist sie Ukrainerin und ich angeblich Moldawierin. Ich muss mir eine glaubwürdigere Geschichte ausdenken.«

»Pass auf dich auf, Leoni. Ich glaube, du hast dich da in was ziemlich Hässliches hineinmanövriert. Wie auch immer, Kopf hoch, wenn alles gut geht, wirst du am Ende befördert. Vielleicht schickt man dich nach Rom zur UACV.«

»Prima, die Dienststelle zur Bekämpfung von Gewaltverbrechen war schon immer mein Traum, darf mich vorher bloß kein Serienmörder erwischen. Behaltet mich im Auge. Bin ich auch gut zu verstehen?«

»Klar und deutlich. Genau deswegen bin ich auch gekommen, wir hatten das Gefühl, dass du Probleme hast.«

Im Zimmer des Stundenhotels blieben Leoni und ihr Kollege etwa eine Viertelstunde, die sie nutzte, um sich ein wenig auf den Laken auszustrecken und die schmerzenden Beine hochzulegen. Beim Gehen fragte er sie, warum sie beschlossen hatte, undercover zu arbeiten.

Ihre Antwort war knapp und unmissverständlich.

»Ich möchte diese Schweine schnappen.«

Und deiner Karriere wird es auch nicht schaden, dachte der Kollege, als er sie zu ihrem Stammplatz zurückfuhr.